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11 Dezember 2022

Die Rückseite der Reeperbahn brennt

Um Viertel vor eins heute Morgen höre ich, wie eine Frau „Hilfe!“ schreit. Ich eile zum Balkon – und sehe das Haus gegenüber brennen. Menschen sitzen in den Fenstern der vierten Etage und schreien, hinter ihnen Flammen oder dichter schwarzer Rauch, der in den frostigen Kiezhimmel steigt.

Ich wähle die 112. Nicht ein einziges Freizeichen ist zu hören, sofort ist jemand dran. Ich schildere die Lage, die Hilferufe von gegenüber werden live in die Notrufzentrale übertragen. Im Hintergrund klackern Finger über eine Tastatur; noch während wir reden, geht der Einsatz los.

„Wie lange dauert das?“, schreit es von drüben, „Wann kommen die?“. Rufe in Todesangst, auch wütend, vorwurfsvoll, panisch.
„In einer Minute!“, rufe ich zurück, obwohl ich es nicht genau weiß.

Ein Mann, der die Hitze hinter sich nicht mehr aushält, hat sich außen ans Fensterbrett gehängt und lässt sich fallen. Zwei Etagen tief stürzt er und prallt aufs Vordach in Höhe des Erdgeschosses. Er kriecht an den Rand und bleibt dort hocken, ein schweigender Schattenriss vorm Flackern der Flammen, die bald darauf hoch aus dem Fenster schlagen, durch das er eben erst gestürzt ist.

Nach ungefähr fünf unendlichen Minuten ist die Feuerwehr da. Mit einem Rammbock durchbrechen Uniformierte in Signalwesten die Tür zum Innenhof und ziehen einen Schlauch hinein. An den Fenstern im brennenden Haus sitzen um ihr Leben fürchtende Menschen. Sie leuchten mit Taschenlampen ins Dunkel, um auf sich aufmerksam zu machen.

Es dauert ewig, bis das erste Wasser fließt. Es dauert noch länger, bis die ersten Leitern stehen. Hinter einem Mann wüten bereits die Flammen bis zur Decke, als er es endlich schafft hinauszuklettern. Aus der Nachbarwohnung quillt schwarzer Rauch, dort holt die Feuerwehr eine Frau heraus, die einige Minuten später, von einem Sanitäter gestützt und barfuß, in Sicherheit gebracht wird.

Die Rückseite der Reeperbahn hat gebrannt, und ich bin bis obenhin voll mit Adrenalin. Es wird, wie sich herausstellt, Stunden dauern, bis es vom Melatonin verdrängt wird. Wie erst muss es denjenigen ergehen, die heute Nacht eine halbe Ewigkeit nicht wussten, ob die Retter rechtzeitig da sein würden? Wird ein Trauma sie quälen für den Rest ihres Lebens?

Sieben Verletzte gab es, steht heute in der Zeitung. Keine Toten.



14 Juni 2020

Birgit, ich will ein Autogramm von dir!

Vom Tanzen habe ich zirka so viel Ahnung wie ein Karpfen von Atomphysik. Ein Manko, das mir vor allem in der Pubertät erhebliche Nachteile bescherte. In der Dorfdisco stand ich immer am Rand und guckte ersatzweise expressiv geheimnisvoll, um so auf die abhottende Weiblichkeit vielleicht auch ohne Schlenkereien interessant zu wirken. 

Hat aber nie funktioniert. Die heißesten Schnitten bekamen immer die Jungs mit den Gummigelenken, auch wenn die sonst nichts zu bieten hatten. Aber pubertierenden Mädchen ist so was egal. Hormone folgen stets dem Beat, nie der Birne. 

All das muss ich erst einmal vorwegschicken, um etwas begreiflich zu machen, was ich selbst noch nicht so ganz kapiere: mein jüngst entflammtes Interesse am Tanz. Genauer: dem Ballett. Der Grund dafür liegt in einem Korrekturauftrag, den ich vor einigen Wochen an Land ziehen konnte. Er kam vom SWR-Journalisten Thomas Aders, der einen dokufiktionalen Roman geschrieben hat über einen Ballettchoreografen namens John Cranko.

Noch nie hatte ich diesen Namen gehört, aber das ist beim Korrekturlesen natürlich egal. Man liest halt das, was man kriegt, ob chinesische Philosophen oder das „Wuhan Diary“, streicht die Fehler an, setzt oder eliminiert Kommas, schlägt Umformulierungen vor. Am Ende schreibt man eine Rechnung, und auf geht’s zum nächsten Projekt. 

Diesmal aber war es anders. Schon nach wenigen Seiten von Aders’ Roman „Seelentanz“ über das rauschhafte kurze Leben des einstigen Stuttgarter Ballettchefs Cranko, der in den 60er-Jahren das schwäbische Ensemble auf Augenhöhe mit dem Bolschoi und damit zu anhaltendem Weltruhm führte, geriet ich in einen ziemlich unprofessionellen Leseflow. 

Als Lektor und Korrektor ist es ja ähnlich wie bei jeder anderen Arbeit auch: Man tritt morgens seinen Dienst an, und wenn er spätnachmittags vorüber ist, kümmert man sich um die Freizeitgestaltung. Doch bei Aders’ „Seelentanz“ ertappte ich mich dabei, freiwillig noch eine Schicht dranzuhängen, und wenn abends das Haus und der Kiez zur Ruhe kamen, dann erwachte in mir nicht selten der Wunsch, noch ein paar Seiten weiterzulesen. Arbeit und Privates verschmolzen miteinander, die Grenzen zwischen Pflicht und Leselust verschwammen. 

Ich, genetisch ausgestattet mit dem Rhythmusgefühl eines arthritischen Breitmaulnashorns, interessierte mich plötzlich für Pas de deux, droit und quatre, wollte auf einmal mehr wissen über ouzonasse Nächte beim Stuttgarter Griechen Pireus, die Beziehungswirren der Startänzerin Marcia Haydée oder den fast fatalen Knöchelbruch der legendären Babyballerina Birgit Keil. Und ich – man glaubt es kaum – lud mir plötzlich Cranko-Ballette von YouTube runter!

Was war nur los mit mir? Nun, ich war einem verzaubernden Buch verfallen, in das der Autor sein Herzblut derart hineinfließen ließ, dass es wie eine Transfusion wirkt. Sogar auf einen Tanzmuffel wie mich. Und ich bin froh und stolz, irgendwie Teil dieses Projektes zu sein, auch wenn ich nur der Kommasetzer und -eliminierer vom Dienst war

Man kann „Seelentanz“ ab sofort hier erwerben, und das kann ich jedem nur empfehlen. Ballettfans natürlich sowieso – aber vor allem auch jenen, die damals in der Dorfdisco immer nur am Rand standen und denen nichts anderes übrig blieb, als expressiv geheimnisvoll zu gucken.

PS: Hat vielleicht irgendwer eine signierte Autogrammkarte von Marcia Haydée oder Birgit Keil im Angebot? Ich würde wer weiß was dafür geben – und sie im Flur neben die von Frank Zappa hängen.



Update vom 17.10.2024: Vier Jahre nach dem oben geschilderten unvergesslichen Korrekturauftrag ploppt plötzlich wieder der Name Cranko auf, diesmal im Rahmen eines Kinofilms. Sofort nahm ich natürlich hocherfreut an, jetzt habe jemand doch wahrhaftig Thomas Aders’ Herzensbuch verfilmt, und das Erste, was ich tat, war, auf IMDB Infos zum Film aufzurufen. Irgendwo auf der Liste der Beteiligten musste doch sicher der Name meines damaligen Auftraggebers auftauchen, wahrscheinlich als Co-Drehbuchautor, Berater, Ideengeber, überschwänglich Bedankter, was auch immer. Doch nichts da: verwunderlicherweise kein Aders, nirgends. 

Nun habe ich mir auch den Film „Cranko“ angeschaut – und meine Verwunderung mindert das kaum, wie ich gestehen muss, denn an vielen Stellen wirkt das bewegende Biopic so, als hätte der Roman nicht nur Pate, sondern gleich als Drehbuchblaupause parat gestanden. Egal ob da eine Ballerina, statt sich aufzuwärmen, lieber warm duscht oder der Generalintendant das Vortanzen einer Bewerberin mit despektierlichen Blicken und Kopfschütteln kommentiert: So steht es im Buch, und so zeigt es der Film. Das sind nur zwei Beispiele von vielen, die mich – wäre ich Thomas Aders – ziemlich auf Zinne bringen würden. 

Was ich mit alldem auch sagen will: Lesen Sie das Buch, schauen Sie den Film. Beides wird Ihr Schaden nicht sein, im Gegenteil.

24 Mai 2020

Unter Corona (7): Minus eins

Der Kiez kehrt allmählich zur Normalität zurück. Zwar sind die Kneipen, Bars und Puffs noch dicht. Doch das hinderte heute früh in der Silbersackstraße ein paar testosteronbesoffene Hitz- und Hohlköpfe nicht daran, sich vorm Haus neben dem Kiezbäcker aufs Maul zu hauen. 

Endlich wieder blutige Nasen! Wie hab ich das vermisst. 

Mittags spazierten wir durch die Taubenstraße und begegneten einem weiteren kiezspezifischen Phänotyp, der zuletzt von den Straßen des Viertels verschwunden war: dem schallstark streitenden Paar. 

„Du denkst nie an mich!“, schrie sie ihn an. „Total null! MINUS EINS!“ Wir zogen innerlich die Hüte vor dieser schön eskalierend aufgebauten Beschimpfung. Und er wohl auch, denn ihm fiel verständlicherweise kein einziges Widerwörtchen ein.

Wenn uns jetzt noch jemand in den Hausflur kackt, dann haben wir unser altes Leben zurück. 


24 Januar 2020

Wo das Büchsenbier regiert

Juhu, endlich mal ein Getränkekiosk auf St. Pauli! Mann, der hat am Nobistor eingangs der Reeperbahn echt gefehlt. Und so was wie die bisher dort ansässige St.-Pauli-Textilreinigung braucht schließlich kein Mensch. 

Dass Letztere all meine Charles-Tyrwhitt-Hemden und Schurwollanzüge besser kannte (und vor allem liebevoller behandelte) als ich selbst: geschenkt. Der Vorteil, dort demnächst billiges Vorglühbüchsenbier abgreifen zu können, das später am Abend in Form von Kotze und Pisse an unseren Haustüren und -wänden landen wird, macht diesen „Verlust“ mehr als wett.

Mir fielen auf dem Kiez übrigens spontan noch weitere Standorte für neue Getränkekioske ein. Zum Beispiel Pepis Friseurgeschäft in der Seilerstraße oder Albertos winzige Änderungsschneiderei schräg gegenüber. Und wozu taugt eigentlich noch das kleine Restaurant Thai-Town in der Taubenstraße, das eh seit Jahr und Tag mehr schlecht als recht vor sich hinkrebst – wäre das nicht ein wunderbarer Standort für einen Getränkekiosk? Dito die „Fahrrad-Börse“ in der Talstraße, die der stets melancholisch lächelnde türkische Inhaber eh gerade aufgegeben hat. Ich meine, Gebrauchträder bekommt man auch jederzeit samstags auf dem Schlachthofflohmarkt – und zwar billiger, weil geklaut.

Seit Jahren stehen außerdem hier unten an der Straßenecke gegenüber vom Tippel II die Räumlichkeiten der ehemaligen Postfiliale leer – Vorschlag: ein Getränkekiosk! Und wieso gibt es überhaupt noch diesen anachronistischen Winzplattenladen im Souterrain der Simon-von-Utrecht-Straße namens MinigrooveDa fiele mir spontan eine perfekte Anschlussverwendung ein.

In der Nähe des Großneumarktes habe ich gestern einen Ersatz für die St.-Pauli-Textilreinigung gefunden. Mit Übernachtservice haben sie es dort aber leider nicht so. Mein Hemd kann ich erst in einer Woche wieder abholen. 

Und das vergleichen Sie jetzt bitte mal mit dem Sofortservice eines Getränkekiosks!



01 Februar 2019

Nein, ich bin NICHT mehr fein!

Jede Ära hat ihr Dummdeutsch, unsere ganz be­sonders. Eine ganze Armada merkbefreiter Wortvermüller walzt die Sprache platt und rottet Geni- und Dativ aus mit Stumpf und Stiel. IQ-Abzugshauben auf zwei Füßen zerhäckseln Komposita mithilfe von Deppenleerzeichen und verman­schen die deutsche Grammatik derart dummdreist mit der englischen, dass nur noch ein Pidgindingsbums übrig bleibt.

Die Lage ist so hoffnungslos, dass willige Helfer aus dem Lehrkörper das alles schon zum „Globalesisch" verklären. Eine ganze WhatsApp-Generation wächst im Glauben auf, ihr in endlosen Chats erworbenes Kommunikations-Nie-wo be­reitete sie aufs Leben vor – also auf Bewerbungsgespräche, Vertragsverhandlungen oder Diskussionen im Dschungelcamp. Das Schlimmste: Wahrscheinlich haben sie recht.

Wie es sein wird, wenn die heute 13-Jährigen die Deutungshoheit haben? „hi ich gürse alle biker“, schreibt ein Dominik in seinem Chatprofil, „biker bleit biker weil bier senn cool gürse meine klasse SIX CROSS.“ Dieser vielfache Artikulationstrümmerbruch ist keine hin­geschlunzte Mail. Nein: So will der gute Dominik die Welt von seinem Liebreiz überzeugen. Ein Chatprofil dient der Balzvorberei­tung – doch welches Weibchen kann Dominik damit becir­cen? Man muss fürchten: irgendeins schon.

Doch wir wollen nicht nur auf Kindern rumhacken. Sondern auch auf Edeka, das uns auffordert, Zucker zu pudern. Oder der Firma Marena: Sie stellt Tütenessen her, laut Verpackung auch „Brat Kartoffeln". Die dafür verant­wortliche Halbsynapse aus der Marketingabteilung glaubt ernstlich, wir merkten nicht, dass sie uns damit barsch einen Befehl zuraunzt – den jeder mit Resthirn natürlich beherzt ignorieren wird. Doch wie viele sind das noch?

Das alles sind Attacken auf die Verständlichkeit; jedes im Halbkoma aus der englischen Grammatik geklaute Leerzei­chen wie in „Brat Kartoffeln" reißt eine Leerstelle in die Seman­tik unserer Sprache. Eingedeutschte Gebrauchsanweisungen hingegen lassen gleich das komplette Gebäude einstürzen: 

„Für iPod Bildschirm und 2. Erzeugung Nano, schlagen Sie einfach die Taste auf dem MicroMemo, um, für das neuere iPod zu notieren, das klassisch ist und 3-Erzeugung Nano, verwenden errichtet in der Schnittstelle auf dem iPod, um zu notieren, es ist einfaches das!“

Mag sein. Oder auch nicht.

Andererseits ist so was kaum schwerer zu kapieren als das eitle Dusseldenglisch, das Werber, Promoter und chief execuitve officers (früher: Geschäftsführer) täglich verzap­fen und von immer mehr Denkschnecken nachgelallt wird. „Jeder muss im Job“, salbaderte mal der Chef einer deutschen Bank, „permanently seine intangible assets mit high risk neu relaunchen.“ Kein Wunder, dass unsere Kredithäuser global nicht mithalten können: Ihre Chefs reden Blech.

Phonetische Verständigungsprobleme gibt es dank der Sprachmansche aber auch im Alltag. In einem Hamburger Bistro wurde in meinem Beisein mal ein „Baguette mit Chicken“ bestellt, weil es so auf der Karte stand. „Das ist nicht mit Schinken“, sagte die Frau hinterm Tresen, ,,das ist mit Huhn." „Dann halt ein Baguette mit Huhn“, korrigierte die Kundin. Rückfrage: „Grilled Chicken … ?“

Der Journalismus, eigentlich ja auf der guten Gegenseite zu Hause, metzelt längst fröhlich mit. So was wie Fälle etwa kennen viele nur noch vom Hörensagen. Da genehmigt Schleswig-Holstein doch wirklich einen „Abschuss von Wolf“  oder man schenkt uns ein Buch „von Gold-Experte Markus Bußler“. Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod? Nein, längst sind beide lethal bedroht. Und der Akkusativ gleich mit.

Maß- und uferlos sind derweil die Fehlübersetzungen, mit denen inzwischen die arme Präposition „für“ grundlos verprügelt wird. Nur weil „wegen“ auf Englisch „for“ heißt, ersetzen die Denglischdeppen in den Redaktionen fast jedes „wegen“ durch ein falsches „für“. Bei der Hamburger Boulevardpostille Mopo, eh ein Hort blanken Horrors, war mal ein Mann „für seine Freundin“ nach Hamburg gezogen – also offenkundig an ihrer Stelle. Dennoch hatten sie das schwere Schicksal einer Fernbeziehung nicht zu wuppen, wie erfreulicherweise im Kontext deutlich wurde, denn die Mopo meinte „wegen“, als sie „für“ schrieb.

Solche Fälle, die ja nicht nur eine Unkenntnis der deutschen Grammatik, sondern auch unverstandenes Englisch dokumentieren, grassieren inzwischen derart, dass man sich ernsthaft Sorgen um die bisherige Semantik des Wörtchens „für“ machen muss. Besser gesagt: Das Wort ist längst verraten und verloren.

Apropos schlechtes Englisch: Einmal lehnte ein Bekannter ein Bier, das ich ihm anbot, mit den Worten ab: „Danke, ich bin noch fein.“ Hallo??? Wenn eine britische Sängerin „Baby, spend your time on me“ singt, heißt das auf Deutsch doch auch nicht: „Schatz, verbring deine Zeit auf mir“! So wird Idiomatik zur Idiotie.

Wer sagt, das sei doch alles nicht schlimm und eine Wut­rede dagegen sogar irgendwie chauvinistisch, der plädiert letztlich dafür, Quatsch zu quatschen, statt Quatsch abzu­schaffen. Gut, soll er – aber hoffentlich verbrennt er sich den Mund an seinem Coffee to go, den er gerade als Freebee be­kommen hat, weil das ein Must-have für die ln-Crowd ist.

Übrigens: Ja, ich bin noch fein. Aber nur noch bis zum Ende des Tages. Dann gehe ich für einen Amoklauf in die Innenstadt. 

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13 Juli 2018

Diesmal wird vorab geätzt!

Es ist ja nun wirklich nicht so, dass die Hamburger Stadtreinigung das seit Jahren pünktlich zum Schlagermove anschwellende Jammern und Wehklagen der Kiezbewohner immer noch ignorieren würde. 

Nein, die erwartungsfrohe Phalanx der Klohäuschen, die sie in den vergangenen Tagen an nahezu jeder Ecke von St. Pauli aufstellen ließ (das Foto zeigt die hochmotivierte Einsatztruppe Millerntorplatz), zeugt vom durchaus tapferen Versuch, das Schlimmste wenigstens in Bahnen zu lenken.

Irgendwas aber sagt mir (es ist, genau gesagt, die Erfahrung), dass die so geschmacksamputierte wie schnapsaffine Heuschreckenarmee der Hirnlos-durch-die-Nacht-Dschihadisten, die sich in diesen schicksalhaften Stunden bereits an den leider schon vor Jahrhunderten geschleiften Stadtmauern zusammenrottet, eben jene Klohäuschen aus promilletrüben Augen lediglich verständnislos anglotzen wird. Um sie dann – das wäre immerhin die günstigste denkbare Entwicklung – rülpsend anzupinkeln.

Der hochtoxische Mix aus Alkohol und Schlager nämlich wirkt auf die zivilisatorische Stabilität des deutschen Durchschnittbürgers, der den Schlagermove mehrheitlich bevölkert, wie ein Spritzer Nowitschok auf das Herz-Kreislauf-System von Exspionen. Nur dass der Durchschnittsbürger trotz allem weiterhin in der Lage ist, das erstaunlich breite Sortiment seiner Körperflüssigkeiten wahllos im gesamten Stadtviertel zu exkorporieren. Hauptsache nicht innerhalb von Klohäuschen.

Wahrscheinlich werden Sie Naivchen von außerhalb mich jetzt für einen misanthropischen Pessimisten halten, und das bin ich natürlich auch, aber morgen Abend – das verspreche ich Ihnen – wird alles noch viel schlimmer gekommen sein.

Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, was ich in der Tat Jahr für Jahr tue: Aber für diese Prognose gibt es handfeste empirische Indizien – und zwar hier, hier, hier, hier und hier. Und hier

Eigene Erfahrungen können in diesem Jahr übrigens erstmals interessierten Stadtbediensteten direkt geschildert werden, und zwar unter folgender „Pipi-Hotline“ (Mopo): 

040-428 28 1000 



21 April 2018

San Bernadino

Wir waren 16. Die dunkle, stille Spanierin aus meinem Dorf war vor allem still, weil sie damals noch schlecht deutsch sprach. Das fand ich geheimnisvoll. Aber ich war hilflos. 

Als ich es mal schaffte, sie zu einem Besuch in meinem Zimmer zu bewegen, spielte ich ihr Christies „San Bernadino“ vor. „Warum?“, fragte sie. „Weil es mich immer an dich erinnert“, sagte ich, „es klingt spanisch, verstehst du?“ Sie verstand nicht – wie auch? – und wurde noch stiller. Wenn ich allein in meinem Zimmer war, legte ich oft „San Bernadino“ auf.

Ein andermal saßen wir im VW-Käfer eines Freundes gemeinsam auf der Rückbank, und es gelang mir eine Weile, ihre Hand festzuhalten. In einem unachtsamen Moment entzog sie sie mir, und wir saßen still nebeneinander da. Nicht mal unsere Beine berührten sich. Zu Hause hörte ich mir „San Bernadino“ an.

Später heiratete sie einen Verwandten von mir, der sie im Suff prügelte und ihr Leben verpfuschte. Mit zwei Kindern floh sie schließlich ins Nachbardorf, viele Jahre zu spät.

Hätte sie mir damals nicht ihre Hand entzogen und hätte „San Bernadino“ besser funktioniert, würde sich dieser Text wahrscheinlich in nichts auflösen. Roberto Blanco hat den Song übrigens mal auf Deutsch gesungen. 

Jetzt ist die dunkle, stille Spanierin gestorben.

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27 August 2017

Mal kein Dreck unter den Fingernägeln

Auf dem Spielbudenplatz ist Winzerfest, ganz St. Pauli umlagert die Stände, trinkt und swingt und fühlt sich super. Wir auch. 

Am Stand des Weinguts Edelhof Minges aus dem pfälzischen Kirrweiler nippen wir an der sehr, sehr trinkbaren Weißburgunderspätlese. Dafür nehmen sie hier pro Schoppen sechs Tacken, was auf der Onlineseite des Weinguts die ganze Flasche kostet, aber so ist das nun mal. Sie haben ja auch immense Kosten zu stemmen zwischen Kirrweiler und Kiezwinzerfest. 

Neben uns lehnt ein junges Paar Anfang 20 am Tresen von Edelhof Minges. Er interpretiert miit seinem Outfit unverkrampft die Hippieära: nackenlange Locken, Fünftagebart, ein weißes, luftiges, über der Shorts getragenes Leinenhemd mit hochgeschlagenen Ärmeln, dazu Turnschuhe. 

Sie wirkt ein wenig wie eine Businessfrau im Freizeitmodus: Bubikopf, lange Kunstwimpern, grauer Wollpulli über wadenlangen Leggins; dazu ebenfalls Turnschuhe. 

Während wir also an der Weißburgunderspätlese nippen, sagt er unvermittelt jenen Satz, ohne den dieser Blogeintrag jetzt hier nicht stünde. 

„Du bist das erste Mädchen beziehungsweise die erste Frau“, kriegt er nämlich mit leicht verlegenem Lächeln gerade noch so die Gendersprechkurve, „für die ich mir je die Fingernägel gesäubert habe.“ (Hervorhebung von mir.)

Ein Geständnis, das zwar einen bestürzenden Blick in seine generellen Vorstellungen von Körperhygiene erlaubt, seine Begleitung aber gleichwohl zu hingerissenem Giggeln animiert. Hier hat jemand offensichtlich den richtigen Ton getroffen. 

Der Ausblick auf gewisse Details des eventuell bevorstehenden Beziehungsalltags ist zwar aus meiner Sicht ein eher trüber, doch so weit scheint der schwer geschmeichelte Bubikopf hier, im Lampionschummer einer weinseligen Kiezsommernacht, nicht zu denken. 

Ich prophezeihe dieser Liaison ewige Dauer, vielleicht sogar mehr als drei Monate. 

Das St.-Pauli-Winzerfest auf dem Spielbudenplatz endet übrigens heute – für den Fall, dass Sie sich auf die Suche nach noch nie gehörten Killerkomplimenten begeben und diese von überteuerten, aber schmackhaften Spätlesen flankiert sehen möchten.


 

21 März 2017

Die schlechtesten Cover ALLER Zeiten (3–6)


Diese im August 2016 gestartete Serie kommt inklusive des heutigen auf erst drei Beiträge, und das hat Gründe. Schließlich muss ich mich mit viel Widerwillen durch ein Sammelsurium katastrophalster Coverdesigns kämpfen. Längere Erholungsphasen sind zwischendrin unabdingbar; das führt zu Zwangspausen, manchmal auch stationär.

Zugleich führt diese belastende Tätigkeit zu dem dringenden Bedürfnis, möglichst viele der entsetzlichsten Beispiele ein für alle mal loszuwerden, und das geht am besten, indem man sie en bloc verbloggt.

Wie heute. Thematisch beschäftigt sich das hier zu sehende Quartett der Qualen mit dem in der Popgeschichte nicht sonderlich häufig vertretenen Sujet „Nackter Mann“. Gleich der erste Kandidat oben links – verbrochen im Jahr 1968 von Dr. K’s Blues Band – zeigt, warum es gern noch seltener hätte Verwendung finden dürfen.

Man wünscht sich aus mehrerlei Gründen, dieses Herrn niemals ansichtig geworden zu sein. Die Frisur etwa vermag nur leidlich zu überzeugen, von der Farbgestaltung des Motivs ganz zu schweigen. Und was umschwappt den Moppel da eigentlich – ist das Gülle mit Schaumkronen?

Zumindest Grünstichigkeit konnte man Herbie Mann im Erscheinungsjahr seines Albums „Push Push“, also 1971, nicht vorwerfen. Was ihn allerdings bewog, seine kräuselhaarige Hühnerbrust plus Bauchmuskeltotalabsenz und Kraternabel der Welt mit derart grundlos eitler Pose darzubieten, wird man wohl nie mehr erfahren, denn der Flötist verstarb 2003.

Zum Cover unten links fällt einem praktisch nichts mehr ein. Ist das der Glöckner von Notre Dame auf Speed? Ein Yeti nach der Schur? Neandertal Man? Und was steht da hinten rechts Weißes rum?

Fragen über Fragen – die aber Wolfgang Dauner mit seiner covergewordenen Grässlichkeit in noch größerer Zahl aufwirft. Da steckt also ein schlaffer Glühbirnenhirni mit Halstuch den Arm in eine Schraubenmutter, worauf ihm ein Licht aufgeht. Wir würden ja gern diese Metaphorik ergründen, müssen aber leider wie hypnotisiert aufs weihnachtsbaumartig wuchernde Nabelhaar starren.

Besuchszeiten im Sanatorium sind übrigens sonntags und mittwochs. Ich würde mich über Besuche freuen.


Dr. K’s Blues Band: o. T., 1968
Herbie Mann: Push Push, Atlantic 1971
Diverse: You Better Believe It! White Trash Rockers 1955-'69, Panic Records



09 Dezember 2016

Warten auf Kerry

Nein, Modernismus oder gar Ranschmeißerei an den Zeitgeist kann man unserer Hausverwaltung keineswegs vorwerfen. 

Der erstmalige (!) Neuanstrich unseres Treppenhauses seit mindestens drei, wenn nicht acht Jahrzehnten – unser Haus wurde um 1906 errichtet – orientiert sich koloral eher an dem, was wir draußen vor der Haustür gewöhnlich an menschlichen Körperflüssigkeiten und -feststoffen vorfinden, vor allem an Wochenenden.*

Insofern eine adäquate Farbwahl, zu der man die Entscheidungsträger nur beglückwünschen kann. Ja, ich würde so weit gehen, diese Wahl als mutiges Statement gegen die Gentrifizierung des Viertels zu deuten, als ein Manifest des widerständigen Traditionalismus – umgesetzt konsequenterweise exakt in der Farbe, die bisher schon unsere Treppenhauswände zierte. Wir müssen uns also nicht mal umgewöhnen. 

Nur das charmant Abgeranzte, die Rußspuren an den Türrahmenritzen, die abgeplatzten Flächen: All das ist halt jetzt nicht mehr da. Aber das kriegen wir wieder hin in den nächsten drei, wenn nicht acht Jahrzehnten. Schließlich sind wir St. Paulianer.

Aber wir haben auch unser Päckchen zu tragen, vor allem, wenn gerade OSZE-Konferenz ist. Gestern an der Fußgängerampel am Casino stieß ich auf eine Menschenmenge, deren mentaler Zustand sich bereits bei meiner Ankunft am Siedepunkt bewegte. Denn sie wurde grundlos am Überqueren der Straße gehindert. Wie der leicht verschüchterte Polizist, der uns in Schach zu halten versuchte, erläuterte, müssten wir warten, bis die Kolonne des US-amerikanischen Außenministers vom Stephansplatz aus kommend die Kreuzung überquert habe.

Allerdings war von Kerrys Kolonne weit und breit nichts zu sehen. Und die Mitglieder der von der Straße geteilten Menge trennten nur je sechs Meter von der anderen Seite, dem Ziel aller Träume. Doch der Cop – Typ graumelierter Studienrat, unbewaffnet – ließ uns nicht.

Eine Radfahrerin war die erste, die den Aufstand wagte. Sie fuhr einfach los und rief: „Ich muss zur Arbeit!“ Eine Frau in Joggingkleidung ergänzte schrill: „Ich hab’s eilig!“ Der Polizist bekam allmählich einen runden Rücken und eine Gesichtsfarbe, die mich an unser Treppenhaus erinnerte. „Das haben wir doch alle“, lächelte er lahm und schaute bang runter Richtung Stephansplatz.

Doch von dort kein Kerry, nirgends. Hier aber eine zweigeteilte Menschenmenge, die wütend mit den Hufen scharrte, mittlerweile schon halb auf der Straße stand und immer lauter murrte. Anweisungen der Ordnungskräfte brauchen halt immer auch eine sich sinnlich erschließende Plausibilität, und die hätte in dieser Situation nur der heranbretternde Herr Kerry herstellen können. Oder wenigstens ein anschwellender Sirenenton.

Das sah nun auch der Polizist ein: Er beugte sich dem Druck des Volkes. „Okay“, sagte er seufzend, und alle strömten herüber und hinüber, von links nach rechts und rechts nach links. Und dann eilten sie davon, um auch heute endlich wieder unbehindert von Phantomen wie Kerry und Konsorten dem Sinn ihres Lebens nachgehen zu können: einer abhängigen Beschäftigung. 

Abends sah ich Kerry im Fernsehen, er war also doch noch gekommen. Im Wohnzimmer roch es ein wenig nach Farbe.


*Das gilt übrigens auch für die Ästhetik dieses Blogs, wie mir gerade dämmert.

18 September 2016

Die schlechtesten Cover ALLER Zeiten (2)


Natürlich, diese zum Aushängeschild einer Langspielplatte geronnene Szenerie ist dermaßen legendär kacke, dass das Motiv einst auch schon von der britischen Zeitung Guardian in ihre Allzeitbestenliste der allerübelsten Albumgestaltungen aufgenommen wurde.

Für meine Ende August gestartete Galerie der schlechtesten Albumcover ALLER Zeiten ist Millie Jacksons 1989er-Werk „Back to the Shit“ aber genau deshalb und in umso größerem Maß die reinste Zierde.

Dass die (nebenbei bemerkt: großartige) Soulsängerin sich auf diesem Foto nicht nur nicht entblödet, ihr bitchy Outfit im Rahmen einer Toilettensitzung komplett ad absurdum zu führen, sondern auch noch guckt, als erlebe sie nach einwöchiger Verstopfung justamente die Erleichterung einer Totalabfuhr, ist für Außens(t)ehende wirklich nur äußerst schwer zu verknusen. Auf mich wirkt das sogar verstörend.

Und warum eigentlich steht die Gute anscheinend kurz davor, uns mit einem ihrer Pumps zu bewerfen – nur weil wir das Cover anstarren wie eine Massenkarambolage auf der A7? Denn das tun wir völlig zu Recht, Millie!

Immerhin ist das Cover bei all seiner Scheußlichkeit gleichwohl in der Lage, auch positive Gefühle auszulösen. Ich empfinde zum Beispiel Mitleid mit dem Blumenstrauß in der Vase unten rechts. Und bin außerdem sehr dankbar für die blickdiche Gardine vorm Klofenster.

Was mich allerdings nachhaltig beschäftigt, ist die bestürzende Tatsache, dass der abgebildete Fußboden peinlicherweise ein verblüffend ähnliches Muster aufweist wie der in unserer Küche auf der Rückseite der Reeperbahn.

Ms. Columbo und ich müssen wohl noch diese Woche den Familienrat zusammenrufen und sehr, sehr ernsthaft über eine ästhetische Neuorientierung im Kochbereich reden.

Herzlichen Dank auch dafür, Frau Jackson. 



 
 
 

11 September 2016

Meine Beklaubarkeit ist grenzenlos

Umkleidekabine von Fitness First am Rödingsmarkt: Als ich  aus dem Kurs von Katha Gnadenlos zurückgekrochen komme, finde ich den Platz unter der Garderobe vor meinem Spind, wo ich immer meine Badeschlappen abzustellen pflege, verwaist vor.

Sie sind weg – und zwar definitiv geklaut, denn oben am Empfangstresen weiß man von nichts. Aber wer um alles in der Welt klaut denn bloß Badelatschen?

Nicht dass ich damit aufwartete, aber wäre es nicht denkbar, eventuell sogar recht wahrscheinlich, dass wildfremde Badelatschen bis in die letzte Polyesterecke mit Fußpilzsporen kontaminiert sein könnten, so dass man die Idee, sie entwenden zu wollen, doch allein schon aus hygienischen Grünen zwingend verwerfen müsste?

Der Dieb indes scheint völlig frei gewesen zu sein von derlei Erwägungen. Oder er hat die bezirzende neongrüngelbe Pracht meiner Badelatschen als eine Verlockung jener Art empfunden, die alle Gegenargumente hinwegzuschwemmen in der Lage ist, sogar welche fungogener Provenienz.

Dies eingedenk: Was kommt als nächstes – Leute, die mir meine gebrauchte Zahnbürste entwenden? Meinen Nasenhaarschneider? Meine vollgeschneutzten Papiertaschentücher?

Immerhin, und das muss ich dem Dieb doch ein wenig anrechnen, nahm er nicht mein Fahrrad mit. Man freut sich ja schon über Kleinigkeiten. Und eins dämmert mir allmählich: Gehörte es wirklich noch zu meiner Lebensplanung, mich zu reproduzieren, so würde ich als einen meiner herausragendsten genetischen Defekte mit hoher Wahrscheinlichkeit wohl vor allem einen vererben: pipileichte Beklaubarkeit. Und das darf man ja keinem Kind sehenden Auges antun.

Jetzt besorge ich mir erst mal neue Badelatschen – und zwar aus lauter Protest genau hier: in einem Strandshop in Travemünde. So.




28 August 2016

Die schlechtesten Cover ALLER Zeiten (1)

Außergewöhnlicherweise startet hier im Blog doch noch mal eine neue Serie, dabei war ich schon mal sehr kurz davor, dieses Projekt ganz einzustellen. Und jetzt das.

Heute also die erste Folge einer Rubrik, die sich der Ästhetik- und Stilkritik widmen wird. Manchmal werden die Ausführungen länger sein, ein andermal verständlicherweise eher Sprachlosigkeit vorherrschen. Vielleicht sogar recht oft, das ist momentan noch nicht abzusehen. 

Los geht es jedenfalls mit einem Motiv, das mir keine rechte Ruhe lässt, seit der verfluchten Minute, als es mir vors Auge trat.

Motivisch und auf jeden Fall auch handwerklich gehört das Albumcover der First International Sex Opera Band ohne jeden Zweifel zu den grauenhaftesten aller Zeiten. Ich meine: Hatte die Band etwa einen 13-jährigen Grafiker, dem kurz vorher vom Klassenlehrer nahegelegt wurde, den Kunstunterricht dauerhaft zu schwänzen, ohne Eintrag ins Klassenbuch? Meine Vermutung: ja.

Was die Formulierung „aller Zeiten“ angeht, bei der jetzt bei vielen von Ihnen der Drang erwacht, mich zu belehren, so rufe ich Ihnen hiermit selbstbewusst zu: Ich weiß genau, was ich da schreibe, denn ich habe eine Glaskugel, die mir auch alle künftigen Albumcover anzeigt, und zwar bis zu dem Moment, an dem die Sonne sich die Erde in einer (übrigens spektakulär anzuschauenden) Supernova einverleiben wird.

Was mich beim Nachgrübeln über die Semantik dieses Motivs aber besonders beschäftigt, ist nicht etwa die mimisch ausgedrückte Lust, welche angesichts dessen, was da gerade passiert, selbst dem verständnisvollsten Masochisten ein Stirnrunzeln aufzwänge, sondern die bohrende Frage: Warum springt die körpermittig entflammte Frau mit den lila Haaren, also vermutlich Anita, nicht einfach in den praktischerweise bereitstehenden Pool?

Und warum bloß gibt es diese Lücke im Geländer da hinten rechts?

Theoretische Erörterungen, Exegesen, Theorien erhoffe, nein: erwarte ich in den Kommentaren. Lassen Sie mich bitte nicht allein mit all dem.







 


06 Juli 2016

„Blödmann!“

Der Franke ist zwar der weltweit größte FC-Bayern-Fan von ganz Eimsbüttel, hat aber gleichwohl schon Planungsfehler in Dimensionen gemacht, dass du dir an den Kopf fasst.

Einmal saß er während eines Champions-League-K.O.-Spiels im Flugzeug, ein andermal im Zug und einmal auf einer italienischen Halbinsel fest. Erst mal munter terminieren und am Ende feststellen: Da war doch was, nämlich ein Bayern-Spiel – so ist er, der Franke.

Am vergangenen Samstag aber toppte er all dies auf eine Weise, welche die Historie seines Fehlverhaltens augenblicks pulverisierte. Völlig arglos und ohne Blick in den Kalender hatte er sich vor Wochen von seiner Freundin zu einem Wochenende in Stettin beschwatzen lassen, wo er in eine Tanztheatervorführung unter offenem Himmel verschleppt werden sollte.

Auf all das ließ er sich bereitwilligst ein – ohne zu bedenken, dass ein Europameisterschaftsviertelfinale des deutschen Teams, dem er auf ähnlich hündische Weise zugeneigt ist wie dem FC Bayern, parallel vonstatten gehen sollte.

Als ihm das Dilemma dämmerte, blieb ihm nur noch lautes Wehklagen und Haareraufen (wozu er, wie ich neidvoll zugestehen muss, wenigstens noch in der Lage ist) – und der Auftrag an mich, ihn live per SMS auf dem Laufenden zu halten.

Nun, dies geschah auch: 


Dankbarkeit sieht anders aus, wie ich als Hesse finde. Je nun. So ging es weiter: 


Aus seiner schmallippigen Antwort vermochte ich unschwer eine gewisse Frustration zu destillieren, doch das fand ich eher ermunternd. Schließlich war er drauf und dran, eins der dramatischsten Duelle zwischen Deutschland und Italien zu versäumen – irgendwo im Nirgendwo und wahrscheinlich im Angesicht von Männern in Strumpfhosen. Kein Grund, nicht Öl ins Feuer zu gießen: 


Inzwischen aber verspürte ich nicht nur eine verdammte Chronistenpflicht – manchmal muss ein Mann tun, was ein Mann tun muss –, sondern auch das Bedürfnis, seine ausweglose Lage nicht auch noch durch Süffisanz zu verschärfen. Na ja, ein bisschen zumindest.

Denn mittlerweile war der arme, in der polnischen Diaspora gefangene Franke, wie ich später erfuhr, bereits zwangsversetzt worden, da mein ständiges Simsen nicht nur seine Freundin kirre machte, sondern wohl auch die ganze Tanztheaterveranstaltung in Gefahr brachte. Den Männern in Strumpfhosen wär’s wahrscheinlich recht gewesen: Dann hätten sie die Verlängerung vielleicht noch in der Theaterkneipe mitgekriegt.

Verlängerung also. Und nicht nur das: auch noch Elfmeterschießen. Das Drama aller Dramen, und der Franke sitzt blind und taub in einem Amphitheater in Westpommern. Aber er hat ja mich und meine SMS. 



Gut, die letzte war ein Rückfall ins Sarkastische, sie bohrte in einer tiefen, tiefen Frankenwunde, die sich hienieden nie mehr schließen lassen wird, aber verdammt: Ich bin auch nur ein Mensch. Einer mit Schwächen.

Und er ist ja selber schuld. Das Desaster, in das er fern der Heimat geriet, kann man nicht mal mit einem Anfängerfehler entschuldigen – die oben geschilderten Beispiele verpasster oder nur unzulänglich verfolgter, aber definitiv unverpassbarer Spiele zeigen das überdeutlich. Der Franke kompensierte das zu diesem Zeitpunkt aus reinem Selbstschutz längst mit einer Prise Fatalismus: 


Als alles vorbei war, das Drama, die Euphorie, die Erledigung des Italientraumas – also all das, an das man sich als Fußballfan ewig erinnern wird (sofern man es gesehen hat …) –, habe ich ihm weitere SMS-Dienste angeboten.

Zum Beispiel im Halbfinale, während er wahrscheinlich rituellen Fruchtbarkeitstänzen aus Nordostsibirien beiwohnt. Oder beim Endspiel (Achtsamkeitsworkshop in Worpswede).

Komisch, dass er darauf noch gar nicht geantwortet hat.







10 Juni 2016

Ein Gruß aus der Vergangenheit

Gestern stieß ich in einem vergessenen Winkel zwischen Hängeschrank und hinterster Zimmerecke, neben ausgemustertem Subwoofer und Altkleidersammelsack, auf eine alte Laptopumhängetasche.

Alte Taschen wollen inspiziert werden, das ist ihr Lebenssinn. Ergebnis: Sie war weitgehend leer. Bis auf einen mit Reißverschluss ausgestatteten Gefrierbeutel, in dem sich eine angebrochene Tafel Schokolade befand. Natürlich eine Ritter Sport Dunkle Voll-Nuss.

Es fehlte eine Rippe, verzehrt wahrscheinlich als Notration auf einer längeren Zugfahrt unter den Konditionen eines ausgefallenen (oder als zu teuer eingeschätzten) Bordrestaurants.

Wann ich die Tasche zuletzt in Gebrauch hatte, ist mir jedenfalls völlig unklar. Ein Indiz könnte das Mindesthaltbarkeitsdatum der Schokolade liefern. Es war der 23. August 2015. Auf der Seite von Ritter Sport heißt es zu diesem Sachverhalt:

„Für unsere Schokolade haben wir ein MHD von ca. einem Jahr festgelegt.“
 

Längstens hätte meine prähistorische Tafel also seit August 2014 satt und zufrieden, wenngleich ein wenig einsam in der Laptopumhängetasche geruht. Weiter heißt es bei Ritter:

„Natürlich schmeckt sie auch danach noch, aber eben nicht mehr ganz so gut.“

Na, das wollen wir doch mal überprüfen. Zunächst zur Optik. Die Schokolade wirkt leicht angeranzt, ein Hauch von grauer Patina überzieht die restlichen drei Rippen, vor allem dort, wo die eingegossenen ganzen Nüsse sich keck übers Plateau der Tafel wölben. Aber kein Schimmel, nichts auffällig Unappetitliches.

Nun zur Olfaktorik. Ein starker, den Rande des Strengen nicht nur streifender Kakaoduft steigt intensiv in die Nase. Und rieche da: Er ist gar nicht unangenehm. Ja, er macht sogar Lust auf einen Bissen. Und ich wäre der Letzte, der dieser Lust nicht nachgäbe, die Welt ist meine Zeugin.

Mit einem kräftigen Knack breche ich ein Segment aus Rippe Nr. 2, stecke es mir in den Mund – und erkenne sofort, dass Ritter Sport auf seiner Webseite auf dreisteste Weise LÜGT. Denn diese Schokolade, gefertig irgendwann um den Dreh herum, als Götze Schürrles Flanke zum Entsetzen ganz Argentiniens im Netz versenkte, schmeckt nicht „nicht mehr ganz so gut“.

Sondern sie schmeckt fast wie neu. Beinah so, als hätte sie nicht Jahre in einer Laptopumhängetasche in einem vergessenen Winkel zwischen Hängeschrank und hinterster Zimmerecke verbracht, neben ausgemustertem Subwoofer und Altkleidersammelsack.

Damit ist quasi der Nachweis erbracht, dass nicht nur Kakerlaken (und Lemmy Kilmister leider schon gar nicht!), sondern auch und vielleicht als einzige biologische Substanz eine Tafel Ritter Sport Dunkle Voll-Nuss sowohl einen Atomkrieg als auch die Smartphonezombieapokalypse unbeschadet überstehen würde.

Seit die Tafel im Sommer 2014 fabriziert wurde, ist der Preis dieser Sorte übrigens um ungefähr 33 Prozent gestiegen. Mein schrecklicher Verdacht: Mit meinen zahlreichen Elogen auf diese Schokolade bin vor allem ich schuld daran. Denn ungenießbare Sorten wie Brombeer Joghurt, Vanille-Mousse oder Knusperkeks sind davon komplett unbetroffen. Warum also nur meine Lieblingssorte?

Offiziell ist von Nussmissernten in der Türkei die Rede. Aber das wollen SIE Ihnen natürlich nur einreden, um MICH, ihren besten Kunden, vor dem Mob zu schützen. 


Egal: Auf zum nächsten Bissen.



20 Mai 2016

Begegnung mit einem potenziellen Mörder


Neulich Lärm unterm Balkon, wie so oft. Hier ein Beispiel.

Zu sehen ist eine Dreiergruppe Männer, einer davon brüllt. Es handelt sich um einen volltätowierten, stoppelhaarigen Hantelmann im Muskelshirt. „Ich will jäzz sofott’en Nigger uffhängen!“, brüllt er, „einfach nuor, weilor schwozz is!“

Einer seiner im Gegensatz zum Wortführer unauffällig gekleideten Kumpels ist verhalten irritiert. „Hier in Hamburg?“, fragt er bang. „Jöu!“, brüllt der Mordlüsterne zurück, „miör ögol! Öder ’n Kanaggn!“

Die aufrechten Ritter der politischen Korrektheit werfen mir wahrscheinlich jetzt wieder vor, ohne Not den Akzent des moralisch mächtig Herausgeforderten wiedergegeben zu haben; dies, so höre ich sie sagen, trüge eventuell zur Diskriminierung der ostdeutschen Bevölkerung bei, und das sei unfair all jenen Ostdeutschen gegenüber, die gerade keinen Nigger oder Kanaggn uffhängen möchten.

Darauf kann ich nur erwidern: miör ögol. Wenn die Wahrheit diskriminierend ist, dann ist sie, die Wahrheit, höchstselbst dafür verantwortlich, aber nicht der, der sie ausspricht.

Vom Balkon brülle ich: „Scheiß Nazis! Verpisst euch aus St. Pauli!“, aber es kommt keine Reaktion, wahrscheinlich weil der Brüllaffe das unmittelbare Gruppenumfeld sonisch zu stark dominiert.

Was bleibt, ist die bestürzende Erkenntnis, dass es wirklich Menschen gibt, die Mordlust verspüren, nur weil ein anderer von Natur aus irgendwie aussieht. Sie sind keine Fantasie, keine Comicfiguren aus dem Schwarzbuch der Antifa. Sie sind echt, sie laufen durch Deutschland, manchmal sogar durch St. Pauli.

Einer davon atmet gerade, sein Herz schlägt, sein Kreislauf funktioniert; wahrscheinlich irgendwo im Osten Deutschlands. Das darf eigentlich nicht sein.


Doch was kann man tun? Was hätte man tun sollen und müssen, damals, als er ein Kind war?

Lösungsvorschläge in den Kommentaren, danke.


PS: Wie weit so einer ideologisch entfernt ist von jemandem, der ein Schild wie das oben abgebildete ausdruckt und in Altona verliert, weiß ich nicht. Mir fallen aber ideologische Distanzen ein, die größer sind.



17 November 2015

Die gelähmte Kuh



Fleischlastigkeit ist seit jeher ein typisches Feature meines hessischen Heimatdorfes. Daran wurde ich bei einem Besuch jetzt mal wieder in aller Deutlichkeit erinnert.

Gleich am ersten Abend nämlich verschleppte man mich ins Dorfgemeinschaftshaus zum einmal jährlich stattfindenden sog. „Schlachtfest“. Ausgetragen wird es traditionsgemäß vom – Achtung! – Vogelschutzverein.

Und in der Tat war auch keinerlei Federvieh Bestandteil der als einziges Gericht angebotenen Schlachtplatte. Stattdessen war sie komponiert aus – neben den zwar inhaltlich, aber keineswegs quantitativ vernachlässigbaren Beilagen Kartoffeln, Kraut und Graubrot – zwei verschiedenen Würsten,  einem Rippchen und einer ordentlichen Scheibe „Presskobb“ (phonetische Schreibweise).

Beim ehrfürchtigen Betrachten des zupackend geschichteten Riesenhaufens von geschätzten 5000 Kalorien Totgewicht kam ich nicht umhin zu konstatieren, dass der Vogelschutzverein sich ja auch satzungsgemäß keineswegs dem Wohlergehen des Mastschweins verpflichtet hat. Ereignisimmanent betrachtet war das also schon in Ordnung so.

Als wir am nächsten Tag durch die Gemarkung fuhren, wurde ich auf eine Kuh hingewiesen, die unbeweglich auf einer Weide ruhte, und zwar in einem Haufen Heu, den sie behaglich dezimierte. Die Kuh wirkte wie eine bovine Couchpotato, hatte aber ein schweres Schicksal zu tragen.

Vor einigen Tagen nämlich, so erfuhr ich, war die Hochschwangere einen Abhang hinabgestürzt und hatte sich das Rückgrat gebrochen. Nun herrschte Uneinigkeit unter den Farmersleuten, ob man das gelähmte Nutzvieh sofort zum Schlachter schaffen (-> der Mann) oder doch erst noch die Geburt des Kälbchens abwarten solle (-> seine Frau).

Ich schwankte zwischen Mitleid mit dem armen Tier, dessen Schicksal unabhängig vom Ausgang der Diskussion besiegelt war, und Neid auf seine Unwissenheit. Bis zum letzten Tag würde die anscheinend wenigstens von Schmerzen ungeplagte Kuh weiter zufrieden an dem stets auf wundersame Weise neu in Maulweite aufgeschichteten Haufen Heu herummöfeln, ohne auch nur eine Vorstellung von Zukunft zu haben.

Vom Vogelschutzverein veranstaltete Schlachtfeste kamen in ihrer paradiesisch schlichten Vorstellungswelt nicht vor, und selbst wenn, dann fände sie es wahrscheinlich höchst beruhigend, dass nur so was wie Presskobb auf die Teller geklatscht würde, aber nichts, das einstmals Körperbestandteil von Artgenossen gewesen war. 

Als wir am nächsten Tag wieder an der Weide vorbeikamen, war der Platz, wo die Kuh gelegen hatte, leer. Doch sie hatte fast das ganze Heu geschafft.