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26 Mai 2023

Wir haben uns vergiftet

Als ich in Planten un Blomen gerade Bärlauch in der Blüte seines Lebens pflücke, stoppt neben mir ein Fahrzeug der Parkverwaltung. Zwei Frauen in Arbeitsklamotten sitzen darin, und ich befürchte das Schlimmste: dass sie mir die Ernte untersagen. Für uns ist die Bärlauchsaison nämlich quasi die fünfte Jahreszeit, eine paradiesische Phase zwischen Frühling und Sommer, in der wir uns mehrfach die Woche dem Genuss des – wie der Österreicher sagt – Latschenknofels widmen, meist in Form eines Salats. Soll das nun alles vorbei sein? Weil mich die Gärtnerinnen erwischt haben? Die Fahrerin beugt sich aus dem Fenster. „Sie wissen schon, dass Bärlauch giftig ist, wenn er blüht?“

Ich glaube mich verhört zu haben. Seit vielen Jahren ernten wir das köstliche Wildgemüse und sehen seiner Blühphase stets besonders vorfreudig entgegen. Zwar bedeutet sie einerseits das baldige Ende der fünften Jahreszeit, andererseits sind gerade die Bärlauchblüten von besonderer Schmackhaftigkeit. Noch intensiver als die inzwischen gar zu großen Blätter konzentriert sich in ihnen das knoblauchähnliche Aroma, und zudem trägt ihre weiße Pracht beträchtlich zur ästhetischen Veredelung von Ms. Columbos Salatkompositionen bei. Kurz: Wir lieben Bärlauchblütentage!

Das Wort Gift nun in einem nahtlos vorgetragenen Satz gemeinsam mit dem Wort Bärlauch zu vernehmen: Das irritiert mich. Und ich kann auch eine gewisse Verunsicherung nicht leugnen, denn wen habe ich hier vor mir? Eine hauptberufliche Gärtnerin! Gleichwohl lebe ich noch, was mich zur Gegenrede ermuntert. „Wie bitte?“, leite ich nach dem ersten Schreck (und der Erleichterung, dass sie mir anscheinend die Ernte nicht grundsätzlich untersagen möchte) meinen Einwand ein: „Wir verzehren Bärlauch seit Jahren, auch die Blüten, und vertragen alles bestens.“

„Ich sag’s ja nur“, rechtfertigt sich die Frau und lächelt bedauernd. Wenn ich also nachher tot umfalle, das soll mir wohl ihr gelächeltes „Ich sag’s ja nur“ mitteilen, dann ist keinesfalls sie schuld. Denn sie hat’s ja nur gesagt. Und sie ist die Expertin. Wobei ich an dieser Stelle betonen muss, ein glühender Anhänger des Expertentums zu sein. Während der Pandemie habe ich auf Virologen vertraut und nicht auf die YouTube-Universität, und bei Stromproblemen rufe ich den Elektriker, nicht den Klempner. Ja, ich mag Fachkräfte, und diese Frau hier betreut einen öffentlichen Park, sie wird doch wohl wissen, wovon sie spricht, nicht wahr.

Andererseits: Ich lebe noch.

Nach ihrem „Ich sag’s ja nur“ ist die Sache für die Gärtnerin erledigt. Sie und ihre Kollegin, die stumm geblieben ist, fahren weiter und überlassen mich meinem Schicksal – also Tod und Verderben. Zu Hause wird natürlich sofort gegoogelt. Eine fachlich kompetent wirkende Infoseite bestätigt mich vollumfänglich und blamiert die Gärtnerin: Viele Menschen glaubten, heißt es dort, dass Bärlauch zur Giftpflanze mutiere, sobald er blüht. „Doch das stimmt nicht.“

Das und die hervorragende Verträglichkeit des Bärlauchgiftes beweisen gerichtsfest: Was die Gärtnerin mir erzählt hat, ist Quatsch. Florales Querdenkertum. Mein unerschütterlicher Lobpreis des Expertentums, von dem mein Freundeskreis augenrollend Zeugnis ablegen kann, wirkt plötzlich schal. Ich meine: Diese Frau verdient ihr täglich Brot mit der Botanik, gleichwohl trötet sie Humbug über ein unschuldiges Wildgemüse in die Welt hinaus? Das ist ja ungefähr so, als glaubte ein Astronom an Astrologie. Oder ein Chemiker an Homöopathie.

Natürlich haben wir trotz alledem und gerade deshalb auch diese Portion Bärlauchblätter und -blüten zu einem köstlichen Salat verarbeitet – und ihn mühelos überlebt. Morgen geh ich wieder hin, vielleicht zum letzten Mal in dieser Saison. Denn die fünfte Jahreszeit ist schon fast wieder vorbei, es ist ein Jammer.




21 März 2020

Unter Corona (2): Des Virus nützliche Idioten

Was nützt einem in diesen Zeiten schon der brav eingehaltene Zweimeterabstand zu entgegenkommenden Spaziergängern, wenn keuchende, schwitzende, tropfende Jogger regelmäßig diese Lücke nutzen, um hindurchzulaufen? Heute Vormittag in Planten un Blomen (Foto) passierte uns das mehrfach. 

Außerdem rannte eine Läuferin mit Kopfhörern derart nah an mir vorbei, dass es beinahe zur Kollision gekommen wäre. Aber wahrscheinlich dachte sie, dass Anrempeln ja gar kein Übertragungsweg sein kann, weil der Virologe Drosten das in seinem Podcast noch nie erwähnt hat (sofern sie je von Drosten oder diesem komischen Virus, das heißt wie ein Bier, gehört hat). Und für das Trio russischer Jungs, das uns wenig später frohgemut palavernd überholte, war Social Distancing auch eher ein sehr fremdes Fremdwort.

Warum ich das alles erwähne: weil es erklären soll, warum ich die Wirksamkeit der offiziellen Appelle und Aufrufe, die uns davon abhalten sollen, zu Virenschleudern zu werden, eher skeptisch betrachte. Die Scheißegalhaltung vieler Mitbürger wird uns nicht nur mehr Infizierte, mehr Schwerkranke und letztlich mehr Todesopfer einbrocken, sie wird uns in Bälde auch einige bürgerliche Freiheiten kosten – und leider auch viele gute Argumente dagegen. Oder hat wenigstens die FDP noch ein paar überzeugende in petto? Ich zweifle.

Ab Montag dürften demzufolge verschärfte Ausgangsbeschränkungen in Kraft treten, die auch unsere tägliche Runde durch Planten un Blomen – den ausgedehnten Park, der vom Millerntorplatz auf St. Pauli bis zum Messegelände mitten durch die Stadt mäandert – ernsthaft gefährden könnte.

Zum Glück ist unsere Wohnung vom einen bis zum anderen Ende fünfzehn Meter lang. Wir müssten sie nur vierhundertmal ablaufen, und schon hätten wir einen ausgefallenen Spaziergang durch Planten un Blomen kompensiert. Und das sogar bei besserer Musik!



16 März 2020

Unter Corona (1): Von okay auf null


Am Samstag waren wir morgens noch mal im Fitnessclub und abends mit Freunden im Portugiesenviertel essen, am Sonntagvormittag huschten wir noch mal ins Kino („Bombshell“) und lustwandelten danach durch Planten un Blomen, wo unbeeindruckt Krokusse blühen und der Bärlauch die ersten zarten Spitzen reckt – und ab sofort ist das alles, das öffentliche Machen und Tun, auf unabsehbare Zeit vorbei. 

Hier auf dem Kiez sind die Nächte gespenstisch still geworden, es ist schlimmer als an Karfreitag, an der Davidstraße steht nicht eine Hure mehr. Und über den Dächern der Reeperbahn schimmern Dutzende Sterne mehr als sonst, weil der heruntergedimmte Hafen weniger Lichtsmog gen Himmel schickt. Unser aller CO2-Bilanz wird gezwungenermaßen fantastisch ausfallen dieses Jahr.

Weniger fantastisch hingegen sind die Aussichten vieler Selbstständiger, und davon haben wir einige im Freundes- und Bekanntenkreis. Katha zum Beispiel ist freie Fitnesstrainerin. Die Verfügung des Hamburger Senats, ab sofort stadtweit alle Fitnessclubs dichtzumachen, ist so logisch wie notwendig, nur bricht für Katha damit von einem Tag auf den anderen das komplette Einkommen weg. Von okay auf null. Wie lange sie nun von ihren Reserven leben muss und wie lange die reichen werden, weiß niemand. 

Und die selbstständige Profifotografin Anne, bisher gut ausgelastet nicht nur mit Porträt- und Hochzeitsfotografie, sah in den vergangenen Tagen von jetzt auf gleich sämtliche Aufträge der nächsten Wochen wegbrechen. Was tun zur Überbrückung? Auf ihrer Webseite ihren Bilderkatalog zum Kauf anbieten, um in der nächsten Zeit halbwegs über die Runden zu kommen. 

Annes Selfie, das diesen Blogeintrag illustriert, gehört natürlich auch zum dort angebotenen Portfolio – und soll zum einen zeigen, mit welcher Künstlerin es potenzielle Bildkäufer überhaupt zu tun haben, und zum anderen, was die Frau fotografisch und gestalterisch und als Model so drauf hat. Wer sich auf ihrer Seite umschauen und sich über die Modalitäten ihres Katalogverkaufs informieren möchte, klicke gern auf diesen Link.

Und ansonsten gilt auch unter Corona das, was der Slampoet Rainer Maria Rilke schon 1902 so ähnlich in Verse goss: „Wer jetzt kein Netflix hat, braucht es umso mehr.“ 

Foto: Anne Hufnagl 


22 Juni 2016

Pareidolie (109–111)



Keine einzige Pareidolie seit fünf Monaten? Das ist inakzeptabel, und deshalb gibt es hier und jetzt gleich drei auf einmal.

Die Fundorte sind Boppard (das Katzengesicht oben links), Schwerin (das gutgelaunte Nilpferdbaby rechts) und Planten un Blomen.

PS: Eine ganze Galerie gibt es bei der Pareidolie-Tante.

31 Mai 2016

Fundstücke (213)


Was in Klabautermanns Namen ist das – die Überreste eines adipösen Riesenkalmars? Bettwäsche mit der Lizenz zur Fotosynthese? Oder die Hinterlassenschaft des Buddhistenfestivals von vorletztem Wochenende?

Jedenfalls lag dieser grüne Haufen heute im eh vor lauter Grün schier platzenden Planten un Blomen herum, wo wir – glauben Sie’s oder lassen Sie’s – noch immer Bärlauch gefunden haben.

04 Juli 2012

Reiher in Gefahr



Nennen Sie mich ruhig pareidolid, aber mal ehrlich: Erinnert der Baumstamm, auf dem dieser Reiher so apart die Flügel spreizt, nicht fatal (ja geradezu letal) an ein Krokodil? Ich finde schon.

Gleichwohl rubriziere ich diesen Beitrag nicht unter der wahnsinnig beliebten Pareidolierubrik, weil das eherne Prinzip, nur Menschengesichter in Zufallsmustern zu entdecken, nicht von einer simplen Echse außer Kraft gesetzt werden sollte.

Ob der Reiher das alles überlebt hat, weiß übrigens nur der Gärtner von Planten un Blomen.

05 Juni 2012

Und nun zu etwas ganz anderem

„Bügeln ist undemokratisch!“
„Wegen der freien Entfaltung, die man verhindert?“
„Nein, weil alles gleich- und plattgemacht wird. Es lebe das Knitterhemd!“
„Du willst doch deine Faulheit nur politisch verbrämen.“
„… Oh, ein Eichhörnchen …!“


(Entdeckt in Planten un Blomen)



01 Februar 2010

Vögel, die ins Nirgends starren



Die von ramses101 fein beobachteten Blutflecken im Schnee auf dem Außenalstereis haben wir heute auch gesehen.

Allerdings fiel in unserer Gegenwart niemand um oder auch nur auf. Ein friedliches Herumgehen und -stehen prägte die Stimmung auf der riesigen Eisfläche. Deshalb war das einprägsamste Bild des Tages auch nicht auf der Alster zu sehen, sondern auf dem Spaziergang dorthin, im Park Planten un Blomen.

Auf einem zugefrorenen Teich stand ein Schwarm Möwen still und stumm herum und starrte gemeinsam in Richtung Süden. Das sah aus wie eine eingefrorene Vogelschwarmskulptur – und schlug mich derart in den Bann, dass ich nicht mal auf die Idee kam zu fotografieren.

Stattdessen starrte ich (als Herdentier) einfach ebenfalls in die gleiche Richtung wie die Vögel. Aber dort war absolut nichts zu sehen.

Nicht mal ein gelandetes Ufo.


30 März 2009

Eingeknickt



Heute, als wir in Planten & Blomen (Foto) am Untersuchungsgefängnis vorbeikamen, rief ich aus einer Laune heraus hinüber: „Osman, dein Bruder hat gesungen!“

Natürlich hätte ich auch Ede, Tobi, Pjotr oder Ahmed mit dem feigen Einknicken ihrer Brüder konfrontieren können, was ich hiermit virtuell nachhole.

Doch wie auch immer: Es kam keine Antwort.

Und dann waren wir auch schon am Kino angekommen und schauten „Slumdog Millionaire“, worum Osman, Ede, Tobi, Pjotr und Ahmed uns mit Sicherheit glühend beneidet haben.



18 August 2008

Unser Antikinokarma



Fotopingpong mit dem Don: Er stellt meiner Bilderstrecke von gestern eine eigene gegenüber, die eine idyllische Gartenszene zeigt, deren um sorglose Enten bereichertes Pendant ich wiederum just in Planten un Blomen vorfand.

Dort im Park, nur wenige Meter entfernt von Bettlern und Bordellen, wirkt St. Pauli wie eine andere Welt. Ich weiß nicht warum, doch niemals sieht man sozial inkompatible Heckenpinkler, dort lagern weder Punks noch Obdachlose, nie taumeln Betrunkene durch die Botanik, niemand missbraucht in Ermangelung einer heimischen Dusche die Wasserspiele.

Ja, es fährt nicht mal jemand Rad in diesem Park, und Hunde müssen draußen bleiben, was sie seltsamerweise auch tun – gut für alle, die mitten auf der Wiese ihr Lager aufschlagen, seien es Enten oder Picknicker.

Wir laufen stets durch Planten un Blomen, wenn wir ins Kino am Dammtor wollen, das dauert zu Fuß knapp 30 Minuten. Als wir auf den Kiez zogen, gab es hier noch diverse Kinos, und ich meine nicht die ganzen Pornoschuppen. Kurz nach unserer Ankunft aber schloss das Oasekino auf der Reeperbahn, wenig später das nicht weit entfernte Aladin.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt begann ich das Kinosterben mit unserer Anwesenheit in Verbindung zu bringen. Dabei sind wir sehr filmaffin. Nicht selten bin ich abends spontan noch rübergehuscht zur Reeperbahn, um mir als Betthupferl eine Spätvorstellung anzuschauen; ich war jung und hatte das Geld.

Doch damit war es bald vorbei; Kinos, die teils Dekaden hier überdauert hatten, sahen sich angesichts unseres Herzugs nach kurzer Zeit zum Schließen gezwungen, ein anticineastischer Fluch schien von uns auszugehen. Zuletzt erwischte es das Studio, womit sich unser schlechtes Karma also vorgekämpft hat bis in die Bernstorffstraße.

Übriggeblieben ist nur noch das gemütlich schmuddelige B-Movie, eine Schuhschachtel mit Sitzgelegenheiten, in der wacklige Edgar-Wallace-Streifen oder liebevoll zusammengeklebte und während der Vorstellung weiterhin unverdrossen reißende Trashfilme aus den 70ern oder so gezeigt werden.

Tolle Sache natürlich, doch für den neusten Film der Coen-Brüder müssen wir halt doch durch Planten un Blomen, vorbei an Enten, Kindern und kontemplativen Kiezianern, die sich hier erholen wollen vom Lärm und Ludentum um die Ecke.

Wahrscheinlich müssten wir wegziehen, um auf St. Pauli einen Kinoneugründungsboom auszulösen. Doch das kommt natürlich überhaupt nicht in Frage.


10 April 2008

Ein kleiner Anfall von Depression

Es ist furchtbar. Draußen grinst uns noch immer frech der Winter an, doch bereits in zehn Wochen werden die Tage wieder kürzer.

Dann ist der Sommer gefühlt so gut wie rum, und die Eichhörnchen in Planten un Blomen werden allmählich anfangen, Nüsse zu verstecken. Schon das allein ist zum Heulen.

Doch nur zwei Wochen nach dem Beginn des Kürzerwerdens der Tage ist auch die Europameisterschaft, auf die ich mich seit zwei Jahren freue, nur noch Erinnerung.

Es ist alles ganz furchtbar. Kann das alles mal irgendjemand stoppen, bitte?

23 Oktober 2007

Hierzu ist mir keine Überschrift eingefallen



Von nun an soll
also der bislang goldschimmernde Herbst mehr ins Bleigraue lappen, wie man hört. Gut: Dann wird er hier eben konserviert, mit zwei Fotos aus Planten un Blomen vom Sonntag.

Wäre ich Droste, Rilke oder Regener, fiele mir bestimmt etwas Besinnliches zum Herbst ein, doch mir gelingt ja nicht mal eine Überschrift zu diesem Eintrag, und so sehr ich auch hin und her sinniere, ich muss immer nur an die anstehende Saison der tropfenden Nasen denken und an meine Grippeimpfung am Donnerstag.

Und an einen saisonübergreifend schnuffelnden Bekannten, der sich seine Lage geschickt schönredet: „So ein Grundschnupfen“, tröstete er sich neulich selbst, „ist nicht schlecht, der härtet ab.“ Doch vor was eigentlich – Schnupfen …?

Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Spruch, soviel ist klar.

26 März 2007

Am Gefängnis

Im Park Planten un Blomen blüht die Kirsche, Eichhörnchen turnen durchs Gehölz, und die Schilder an den Bäumen, die transsaisonal vor brüchigen Eisflächen auf den Teichen warnen, wirken wie ein schlechter Witz, über den wir trotzdem schmunzeln müssen an einem Strahletag wie diesem.

Der Park drängt an seiner Nordseite gegen die Mauern des Untersuchungsgefängnisses, und all das – Kirschblüte, Eichhörnchen, Teiche – können auch die Gefangenen sehen, wenn sie an den Zellenfenstern stehen.

Manche stecken die Unterarme durch die Gitterstäbe, lassen sie baumeln im Freien, in Freiheit. Unten, auf dem Parkweg, der sich an den Mauern des Gefängnisses entlangschlängelt, stehen die Angehörigen und schreien Grüße hoch, und von oben schallt es tieffrequent zurück; hier werden wichtige Dinge geklärt, meist auf türkisch oder kurdisch, es ist wie in diesem Raubkopiererspot, nur dass die Gefangenen mit dem Blick auf Kirschblüten, Eichhörnchen und Teiche noch nicht wissen, was sie erwartet, denn es ist ja ein Untersuchungsgefängnis.

Nennt uns Spaziergänger schadenfroh, doch das Gefangensein derer, die den Park nur anschmachten dürfen aus der Höhe, trübt unsere Stimmung keineswegs – im Gegenteil: Die Freiheit wird uns gar doppelt bewusst.


Und ohne schlechtes Gewissen fotografieren wir Kirschblüten, Eichhörnchen, Teiche und uns selber – und beschließen insgeheim, nichts zu unternehmen, was uns je dazu zwänge, den Park aus jener speziellen Perspektive anschmachten zu müssen.

22 Mai 2006

Alarm in Entenhausen

Die Entenmutter mit ihren zehn Küken gehört eindeutig nicht mitten auf die Clemens-Schultz-Straße. Das wird mir sogleich klar, als ich die Bäckerei mit den Sonntagsbrötchen verlasse und die Bescherung sehe. Wo kommen die überhaupt her? Weit und breit kein Teich noch Tümpel.

Ein Passantin mit zum Glück parierendem Hund schirmt die fehlgeleiteten Vögel nach hinten ab, wo bereits eine Kolonne Sonntagsfahrer Ungeduld ausdünstet, angeführt und in Schach gehalten indes von einer sichtbar gerührten Mittelklassewagenlenkerin. Die Enten müssen in den Park, nach Planten un Blomen, so viel ist klar. Das wird tüftelig, denn zwei selbst sonntags stark frequentierte vierspurige Straßen gilt es zu überwinden.

Angesichts dieser nur im Team zu bewältigenden Aufgabe findet sich spontan eine Schicksalsgemeinschaft, der auch ich anzugehören die Ehre habe. Sie besteht aus der Dame mit Hund, einem gemütlichen Schnauzbartträger mit Balkanakzent, der weiterhin hochentzückten Mittelklassewagenlenkerin, die inzwischen geparkt hat und mitsamt ihrer Freundin – Conny, zufällig aus Frankfurt zu Gast – der Entenrettung höchste Priorität einräumt. Eigentlich waren die beiden ja auf dem Weg in die Kunsthalle, wo es ein gutes Frühstück geben soll, doch wat mutt, dat mutt.

Es ist übrigens interessant, wie man als Hüter einer Entenfamilie plötzlich mit den Augen der Schutzbefohlenen in die Welt schaut. Plötzlich scheint aus jeder zweiten Passage ein yetigroßer Hund hervorzustürmen (was ist eigentlich aus dem Leinenzwang geworden, Herr Innensenator?!), und diese lautlos uns entgegenrollenden, ultraschmalen, aber immens hohen Dinger mit nichtsahnenden Menschen obendrauf (sog. „Fahrräder”) nerven ungemein.

Uns gelingt es dennoch irgendwie, die Enten auf den Bürgersteig zu drängen, was immerhin den Verkehrsfluss im Viertel wieder begünstigt. Doch der Gehweg ist eng, die Entenmutter, um die sich die Küken halbkreisförmig scharen, zeigt deutliche Anzeichen aufkeimender Panik. Manchmal versucht sie zur Seite auszubrechen, doch mal der Schnauzbart, mal ich, mal eine der Frauen wissen das jeweils sanft, doch bestimmt zu unterbinden.

Inzwischen haben sich uns auch ein ungefähr 12-jähriges Mädchen namens Lotte (Foto), eine etwa 40-jährige Radlerin und ein so weißhaariger wie solariumsgebräunter Ruheständler angeschlossen. Die illustre, die Gesamtbevölkerung in ihrer Alters- und Milieustruktur verblüffend genau abbildende Rettungstruppe nähert sich mitsamt ihren Schützlingen jetzt der ersten großen Hürde. Sie heißt Budapester Straße und brüllt vor Verkehr.

Der wird kurzerhand gestoppt. Rauf auf die Straße, Blickkontakt zu den Automobilisten und mit breiten Armen entschuldigende Stoppgesten wedeln – die Verblüffung der auf freie Fahrt eingestellten freien Bürger weicht nur in der ersten Reihe dem offenbar genetisch bedingten Entzücken beim Anblick der Vogelfamilie. Dahinter aber geht das Gehupe los. Wir ertragen es mit gandhiesker Gleichmut. Geschafft.

Übers Heiligengeistfeld geht es gut voran. Eins der Küken verschwindet zwar fast zwischen den obszön weit auseinanderliegenden Streben eines Gullydeckels, doch es rettet sich in letzter Sekunde. Puh. Jetzt aber die Glacischaussee; das nächste Problem mit vier Spuren. Wir bringen erneut den Verkehr mit den inzwischen bewährten Mitteln minutenlang zum völligen Erliegen, und die Entenarmada watschelt nervös durchs Spalier.

Nur noch wenige zehn Meter bis zum Parkeingang. Daisy Duck scheint allmählich das rettende Wasser zu riechen, oder ist es die nun doch überhandnehmende Panik? Jedenfalls setzt sie zum Watschelsprint an, der die vor Eifer und Schutzbedürfnis fast platzenden kleinen Wollknäuel in ihrem Gefolge unter höchsten Stress setzt.

Da, der Teich! Die Alte bricht durchs Ufergebüsch, ihre Küken stolpern, klettern, wackeln hinterher, und plötzlich sind alle im Wasser: eine adrenalinüberflutete Entenmama mit ihren zehn Winzlingen, denen nun auch über den heutigen Tag hinaus eine Zukunft beschert sein dürfte.

Für uns alle ein außergewöhnlich schönes Sonntagserlebnis. Wir tauschen Mailadressen, plaudern noch ein wenig, gehen ein Stück gemeinsam und verabschieden uns dann voneinander, fast wie Freunde.

Erst als ich in die Seilerstraße einbiege, dämmert mir: Wir hätten eigentlich die Feuerwehr rufen müssen; die kümmert sich ja professionell um so was. Und sie ist vor allem eins: versichert. Ein von uns verursachter Auffahrunfall beim mutwilligen Stauen einer Hauptverkehrsstraße hätte bei der Assekuranz sicherlich Stirnrunzeln hervorgerufen.

So aber fühlt er sich verdammt gut an, dieser Sonntag. Und zwar nur deshalb, weil wir die Sache selbst in die Hand genommen haben. Wie Jack Bauer in „24“.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Vögel (via Andreas)
1. „Surfin' bird“ von The Trashmen
2. „Blackbird“ von The Beatles
3. „Bird on the wire“ von Leonard Cohen