31 Dezember 2007

Offener Brief zu Silvester (2)

Ich weiß, ich weiß: Das habe ich alles letztes Jahr schon mal gesagt. Doch damals hat es nichts genützt.

Deshalb versuche ich es noch mal. Bitte lest also diesen Beitrag, solange ihr noch Augen habt. Erneut erwarte ich für diese guten Tipps keinen Dank; eure geretteten Gliedmaßen sind mir Lohn genug, obwohl ich von ihrer Rettung nie erfahren werde.

Einen guten Rutsch also. Möge morgen früh noch alles an euch dran sein, und zwar an den richtigen Stellen.

Cheers!



Foto: anschlaege.de

30 Dezember 2007

Kunde des Jahres

Obwohl ich von Berufs wegen mit neuen Alben überschüttet werde, kaufe ich noch immer viele Platten, vor allem im Internet. Neulich zum Beispiel beim US-Versender CD Baby.

Im Anschluss erhielt ich eine Kaufbestätigung per E-Mail. Und die erstaunte mich nicht wenig. Schon der Absendername („CD Baby loves Matthias“) schmeichelte mir, doch der Text selber steigerte sich dann noch mal erheblich.

Hier die übersetzte Mail:

Von: CD Baby loves Matthias
Betreff: Matthias - Your CD Baby Order! (#295755)

Datum: 22. Dezember 2007 22:43:00 MEZ
An: MattWagner__web.de


Matthias,
danke für Ihre Bestellung bei CD Baby!

Ihre CDs wurden mit sterilisierten und dekontaminierten Handschuhen zärtlich unserem Regal entnommen und auf ein Samtkissen drapiert. Ein Team von 50 Angestellten inspizierte Ihre CDs und polierte sie, damit sie in der denkbar besten Verfassung sind, bevor sie auf den Postweg gehen.

Unser japanischer Verpackungsspezialist entzündete eine Kerze, und das Pubikum verstummte ergriffen, als er die CDs in die beste goldverkleidete Schachtel legte, die man für Geld kaufen kann.

Danach hatten wir eine wunderbare Feier, und alle Teilnehmer zogen schließlich hinunter zum Postamt, wo sich die ganze Stadt Portland versammelt hatte, um Ihrem Päckchen ein „Bon voyage!“ hinterherzuwinken – auf seinem Weg zu Ihnen, wohin heute der CD-Baby-eigene Jet abhob.

Ich hoffe, es hat Ihnen viel Freude bereitet, bei CD Baby einzukaufen. Wir glauben es fest. Ihr Bild jedenfalls hängt an unserer Bürowand mit der Aufschrift „Kunde des Jahres“.

Jetzt sind wir alle erschöpft, können Ihre Rückkehr aber trotzdem kaum erwarten. Danke, danke, danke!

Seufz …

Derek Sivers, Präsident, CD Baby


Tja. Klingt schon anders als eine Standardmail von Ebay oder der Telekom. Der Kaufwert lag übrigens bei 26,96 Dollar.

Ein ganz und gar unutopischer Tag

Heute wagte ich nur einen einzigen Ausflug vor die Tür. Er reichte, um etwas sehr Unspektakuläres festzustellen: Auf St. Pauli geht alles seinen normalen Gang – und der regt mich auf.

Irgendjemand nämlich hat mir am Fahrrad mal wieder die Lampenleitung durchgeschnitten, bei Edeka ignoriert ein Merkbefreiter die Brötchenzange und wühlt mit bloßen Händen im Gebäck, von Fenstern und Balkonen bewerfen Scherzbolde die Passanten mit Knallfröschen, und auf dem Spielbudenplatz liegt unpassenderweise gestapelter Schnee herum.

Was also bleibt einem übrig, als sich zu Hause zu verkriechen, die Bude aufzuräumen und zwischendurch Aphorismen zu schmieden?

Zum Beispiel den hier:

Glorifizierung ist die nachträgliche Utopisierung der Vergangenheit; die Utopie hingegen glorifiziert vorauseilend die Zukunft.
Klingt nicht unpassabel. Doch der tristen Kiezgegenwart aus durchgeschnittenen Drähten, Brötchenbetatschern und in Kniehöhe explodierenden Sprengkörpern nützt so ein Spruch rein gar nix.


29 Dezember 2007

Vor und in Umkleidekabinen

Wohl dank einer Geistesverwirrung habe ich mich heute in den postweihnachtlichen Einkaufswahn gestürzt.

Zur Strafe stand ich bei H&M in der beträchtlich langen Umkleideschlange. Vor mir hatte sich eine Armada von Frauen aufgereiht, obwohl wir uns in der Herrenabteilung befanden. Vermutlich waren die Schlangen in der Damenabteilung noch länger.

Andererseits taugte dieses in der Toilettensphäre häufig vorkommende Phänomen noch nie als Grund, einfach mal so aufs Herrenklo zu gehen; warum also war die Hemmschwelle geringer bei Umkleidekabinen?

All das aber ging mir in diesen zähen Minuten noch gar nicht durch den Kopf. Dafür sorgte erst eine H&M-Verkäuferin. „Mädels“, sprach sie vertraulich die vordere Hälfte der Schlange an, „das hier sind die Umkleidekabinen für Jungs.“

Betretenes Schweigen in der Damenarmada. Diese spürbare Betroffenheit hätte alle möglichen Chancen geboten. Man hätte die Schraube nur noch eine Vierteldrehung weiterdrehen müssen, und schon wären die Damen bestürzt gen richtige Etage geflohen.

Innerlich war ich längst auf der Seite der H&M-Verkäuferin und hoffte auf den entscheidenden Satz. Doch was sagte sie? Sie sagte: „Ich sag’s ja nur.“

Fatal! Die vor mir in der Schlange stehenden Damen nahmen das natürlich erleichtert als Freibrief. Sie reagierten wie ein Ochse, dem jemand ins Horn zwickt, nämlich gar nicht.

Somit verlängerte sich meine Schlangenverweildauer unnötig. Doch ich war viel zu feige höflich, um die Damen zur Schnecke zu machen. Genauso wie etwa eine Stunde später im Kaufhof, als eine Verkäuferin forsch den Vorhang der von mir belegten Kabine beiseite zog mit den Worten: „Oh, Entschuldigung, ich suche einen anderen Herrn!“

Grundsätzlich wäre das natürlich nicht schlimm gewesen, da ich just mal nicht im Slip vorm Spiegel stand. Doch leider war ich gerade dabei, Fotos anzufertigen, von denen eins der Bebilderung dieses Beitrags dient.

Wahrscheinlich hält mich die Kaufhoffrau jetzt für einen Perversen, der sich daran aufgeilt, in öffentlicher Heimlichkeit seinen Bauch zu knipsen. Ich versuchte eilends diesen Eindruck zu zerstreuen, indem ich genau die Hose kaufte, die sie mir empfohlen hatte.

Allerdings quält es mich nun nicht wenig, niemals erfahren zu können, ob diese Taktik auch gefruchtet hat.


28 Dezember 2007

Die Beinwurzsalbengewissensfrage

Ewig nicht mehr genutzte Badezimmer im elterlichen Haus bergen manch seltsamen Fund. Zumindest wenn man ewig nicht mehr genutzte Wandschränkchen öffnet.

Unvorbereitet stieß ich so auf eine Gugelhupfplatte mit Haube. Auch ein „Schokoladen-Fondue Schleckermäulchen“ (für vier bis sechs Erwachsene) geriet mir ins Blickfeld. Fasziniert betrachtete ich zudem ein Töpfchen mit der hochmerkwürdigen Inhaltsangabe „Beinwurzsalbe“. Und dann war da auch noch das „Universal-Anti-Beschlagmittel“ VAPEX.

Dessen Herstellerfirma sitzt laut Aufschrift in einer Stadt mit vierstelliger Postleitzahl – das nur zur Verdeutlichung, wie lange dieses Wandschränkchen bereits die bittere Last des Linksliegengelassenwerdens schultern muss.

Das Antibeschlagmittel jedenfalls hat – sofern es überhaupt noch über eine auftragbare Konsistenz verfügt (was ich NICHT überprüft habe!) – inzwischen wohl eher zementierende Grundeigenschaften.

Am vermutlich prähistorischsten aber war ein braunes Fläschchen mit einem Rest essigsaurer Tonerde. Die ausgebende Apotheke hatte ebenfalls ihre Adresse draufgedruckt und gab einen Landkreis an, der unter diesem Namen seit der hessischen Gebietsreform nicht mehr existiert. Und die war 1976.

Von den ganzen Sachen habe ich übrigens nichts weggeworfen, nicht mal die Beinwurzsalbe. Ohne Einzelfallprüfung gemeinsam mit den rechtmäßigen Eigentümern wäre das unethisch gewesen. Oder doch eher verantwortungsvoll?

Eine Gewissensfrage, die ich vor der Rückreise nach Hamburg nicht mehr zufriedenstellend beantworten konnte. Doch sie läuft ja nicht weg, diese Frage.

Garantiert nicht.

26 Dezember 2007

Bumm, bumm, bumm



Wenn Herr Mehdorn den Lokführern schon nicht mehr bezahlen will, so sollte er ihnen zumindest Englischkurse finanzieren. Auf der ICE-Fahrt nach Hessen wurde uns diese Notwendigkeit mal wieder schmerzlich bewusst.

Als Lautsprecherdurchsage erlebten wir zum Beispiel ein „Ereiwel on dreck nammber twölf“. Lustiger war aber noch der ältere Herr, der plötzlich mit wichtiger Miene und Fahrkarte in der Hand vor meinem Sitz stand und fragte: „Sitzen Sie auf Nummer 26?“

Ich bejahte das. „Wie weit fahren Sie denn?“, schob er interessiert nach. „Bis Kassel.“ „Ah gut“, atmete er auf, „ich habe ab Kassel reserviert. Aber bleiben Sie ruhig sitzen.“

„Natürlich“, sagte ich. „Ich habe bis Kassel reserviert.“
„Wie gesagt, gar kein Problem“, sagte er, „bleiben Sie sitzen.“

Nun, das blieb ich auch. Trotz des Kindes schräg hinter mir. Zwischen Harburg und Göttingen sang es mit bedingungsloser Konsequenz, die man sich eigentlich nur als Überlebenstechnik in pakistanischer Einzelhaft aneignen kann, unablässig eine einzige Liedzeile.

Sie lautete: „Und die Trommel und die Trommel, sie macht bumm, bumm, bumm.“

Ich war nicht wenig erleichtert, als die Fahrt vorbei war und ich endlich einen einsamen Baum fotografieren konnte, der bedingungslos konsequent das Maul hielt.

25 Dezember 2007

Undank ist der Welt Lohn

Es kommt kein Auto, also will ich schnell über die Simon-von-Utrecht-Straße huschen, trotz der roten Fußgängerampel.

Doch in diesem Moment fährt gegenüber eine junge Mutter vor; ihr etwa dreijähriges Kind sitzt vorn im Fahrradkorb und schaut interessiert hinein in die Welt. Mama flüstert ihm etwas zu, wahrscheinlich vom Unterschied zwischen Rot und grün und Leben und Tod.

Jedenfalls fühle ich mich ausgebremst und bleibe ungeduldig stehen. Wer weiß, ob nicht das künftige Seelen- und Knochenheil dieses hoffnungsfrohen Menschleins von meiner Mitgestaltung dieser einen Minute abhängt; von mir und meinem guten Beispiel.

Jetzt wird die Ampel grün. Stolz schreite ich aus, bereit, die wärmende Dankbarkeit und Verehrung wenn auch nicht des Kindes, so doch seiner Mutter huldvoll entgegenzunehmen, und zwar mitten auf der Simon-von-Utrecht-Straße, genau dort, wo wir uns in diesem Augenblick begegnen.

Und genau das geschieht … nicht. Die stoffelige Tante schiebt ihr Rad samt Blag an mir vorbei, ohne mich auch nur anzusehen. Dabei habe ich ihrem Kind das Leben gerettet.

Gute Taten zählen halt nicht mehr im 21. Jahrhundert, nicht mal an Weihnachten. Na, dann ist ja eh alles egal.

23 Dezember 2007

Roger Cicero rehabilitiert Blondinen

Beim Konzert von Roger Cicero im Mandarin Kasino, wo voluminöse Papierlampen über der Theke schweben, fällt mir eine frappierende Blondinenquote auf. Ob dick, ob dünn, ob kugeligklein oder Bohnenstange: Die meisten ciceroaffinen Frauen sind unglaublich blond.

Dabei legt der statistische Durchschnitt eigentlich eine erheblich niedrigere Anzahl nahe. Das widerlegt verspätet jene Flut an Witzen, die einst eine sich in Blondheit manifestierende genetische Beschränktheit nahelegte.

Damals zog man den gleichsam agrarischen Rückschluss, strohblond sei gleich strohdumm. Doch wer den cleveren Jazz von Cicero schätzt, das wird mir zwischen zwei Saxofonsoli klar, kann unmöglich ein Dummerchen sein.

(Edit für Ms. Columbo: Das bedeutet freilich keineswegs, dass jene, die Ciceros Jazz nicht schätzen, automatisch Dummerchen sind, selbst wenn sie braunes Haar haben. Nein, das bedeutet es nicht. Nein! Echt nicht!)


22 Dezember 2007

Ich verstehe den Kapitalismus nicht mehr

Unablässig rieseln Informationen auf uns nieder. Wir ziehen daraus ständig unsere Schlüsse, ob bewusst oder unbewusst.

Neulich zum Beispiel erfuhr ich, die Post sei zurzeit bis zum Zusammenklapp überlastet, sie kumuliere daher vor lauter Erschöpfung die Sendungen und stelle sie nur noch alle zwei Tage gesammelt zu.

Unter anderem diese Meldung war es, die mich heute bewog, meine beiden Päckchen lieber bei Hermes abzugeben. Wenn die Post am Ende ist, so meine eigentlich logische Überlegung, muss das ja nicht automatisch auch für die Konkurrenz gelten; vielleicht schafft wenigstens die das übliche Tempo.

Doch just als ich durch die schneeüberzuckerte Seilerstraße (Foto) zum Hermesshop wollte, kam der Postbote und überreichte mir vor der Haustür ein Päckchen, worauf erstaunlicherweise ein … Hermeszettel pappte.

„Warum“, fragte ich baff den Postler, „überreichen Sie mir denn ein Hermespäckchen, wo Sie doch von der Post sind?“ „Ach“, sagte er, während er mir sein elektronisches Dingens zum Unterschreiben reichte (dessen blöder sarkastischer Stift mich zum viermaligen Autogrammgeben zwang), „wir helfen aus.“

Aha …? Die Post, obzwar bis zum Kumulierungszwang überlastet, hilft also bei Hermes aus, dem größten postunabhängigen
Logistikdienstleister.

Sollte sie, die Post, diese abgezweigte Manpower nicht besser in den Abbau der eigenen Überlastung stecken? Wahrscheinlich muss sie doch nur deshalb ihre eigenen Sendungen tagelang kumulieren, weil sie auch noch die ganzen Hermespäckchen am Hals hat.

Ich informationsberieselter Rückschlusszieher dachte übrigens wirklich, die beiden seien Konkurrenten. Versteh einer den Kapitalismus.

Endlich haben wir auch mal Glück (2)




Von: MattWagner@xxx.xx
Betreff: Unglaublich - schon wieder eine Kreuzfahrt!
Datum: 17. Dezember 2007 22:45:17 MEZ
An: info@planet49.com


Liebe Leute von Planet49,

es ist wirklich geradezu unfassbar, aber ich habe schon wieder eine Kreuzfahrt von Ihnen gewonnen! Bereits am 9. Dezember ereilte mich dieses Wahnsinnsglück und ich sandte Ihnen daraufhin eine Mail, in der ich Sie um Klärung aller Modalitäten bat (Außenkabine: wichtig!!).

Leider erhielt ich bisher noch keine Antwort von Ihnen; wahrscheinlich der Vorweihnachtsstress, das ist verständlich. Doch wie sich nun herausstellt, ist das gar nicht so schlimm, denn jetzt können wir einfach beide Reisen auf einmal festklopfen!

Wir würden am liebsten ein paar Freunde mitnehmen. Die Reise ist doch gewiss übertragbar, und sicherlich ist es möglich, in Nachbarkabinen untergebracht zu werden, oder?

Wie auch immer: Bitte melden Sie sich bald. Wir müssen generell möglichst früh im Jahr die Urlaubsplanungen mit unseren Redaktionen abstimmen, da hülfe eine baldige Terminierung der beiden Kreuzfahrten immens.

Mit hellauf begeisterten Grüßen

Matthias Wagner, Hamburg


Von: info@planet49.com
Betreff: Re: [Ticket#20071218100044XX] Unglaublich - schon [...]
Datum: 18. Dezember 2007 17:58:35 MEZ
An: MattWagner@xxx.xx


Sehr geehrte Kundin,
sehr geehrter Kunde,

vielen Dank für Ihre Nachricht!

Wir sind bemüht Ihre Anfrage schnellstmöglich zu bearbeiten.
Eine Bearbeitungs-Nummer zur Verfolgung Ihrer Anfrage wurde generiert, sie lautet:

20071218100044XX

Bitte nutzen Sie bei Rückfragen immer die "Antwort-Funktion" Ihres Mailprogramms, um eine eindeutige Zuordnung im System zu gewährleisten.

Mit freundlichen Grüssen

Ihr Planet49 Service Team

19 Dezember 2007

Dinge zwischen Himmel und Erde

Auf die neue SIM-Karte soll demnächst meine gewohnte Handynummer portiert werden. Die Karte habe ich im alten Telefon deponiert; so weiß ich immer, wo sie ist.

Kein Mensch kennt die Nummer dieser neuen SIM-Karte. Trotzdem klingelte heute das Telefon. Dreimal. Als ich rangehen wollte, hörte es auf.

Ich sah mir die Nummer im Speicher an. Hamburger Vorwahl, aber unbekannt. Bang wählte ich sie. Besetzt. Zehn Minuten später versuchte ich es erneut. Immer noch besetzt.

Wer kennt die Nummer meiner neuen SIM-Karte, die selbst ich nicht auswendig weiß? Und woher?

Diese Frage beschäftigte mich noch immer, als ich wenig später die Simon-von-Utrecht-Straße entlangging. Als ich an der Hausnummer 21 (Foto) vorbeikam, summte plötzlich der Türöffner.


Doch niemand hatte geklingelt, kein Mensch stand vorm Haus. Nur ich ging gerade vorbei.

Schon sehr komisch, diese Weihnachtszeit.


17 Dezember 2007

Warum nicht amputieren?

Kaum fantasiere ich davon, die Kiezpolizei gesetzeskonform zu entwaffnen, fällt für zwei Tage mein Server aus. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Jedenfalls herrscht um uns herum seit neuestem Waffenverbot. Wer künftig friedlich auf der Reeperbahn Baseball spielen will, bekommt den Schläger abgenommen und 200 Euro Strafe aufgebrummt. Ebenso ergeht es jenen, die ihren Apfel mit einem Taschenmesser schälen oder die Taubenpest per Pistole oder Pfefferspray eindämmen wollen.

Etwas Entscheidendes aber ist weiterhin erlaubt: die lockeren Fäuste der testosteronprallen „Was guckst du?“-Hirnis. Eine temporäre Amputation vorm Kiezbesuch sollte obligatorisch werden; kann man ja alles im Morgengrauen wieder annähen, schließlich haben wir eine Uniklinik.

Doch Spaß beiseite: Das Waffenverbot ist toll. Niemand kann mir plausibel erklären, wozu er Knarren, Prügel oder K.O-Spray braucht, wenn er doch nur zum Picheln und Pimpern herkommt. Das geht auch ohne, meine Damen und Herren!

Zumindest nehme ich das an.

15 Dezember 2007

Das Waffenverbot wird ignoriert



Auf dem Weg zum Einkauf gerate ich am Schulterblatt in kleinere Scharmützel zwischen Polizei und versprengten Demonstranten.

Ich weiß nicht genau, wie sie provoziert wurde, doch in Rage ist die Ordnungsmacht nicht gerade. Lustlos traben die staatlich Vermummten ein bisschen hinter den privat Vermummten her, stoppen dann ab und schlurfen wieder zurück zur Phalanx der Kollegen. Alles nur Spielereien, Finten, Rituale. „Samstags frei für die Polizei!“, höhnen die Gejagten den Jägern lachend hinterher.

Im Demozug hält einer einen Papppfeil mit der Aufschrift „Sehr verdächtig!“ einem Polizisten an die Schulter und geht konsequent hinter ihm her. Der erträgt das mit allenfalls innerem Groll. Auf der Budapester Straße sitzt ein Demonstrant und stützt sich mit blanken Händen auf den eisigen Asphalt – gegen Schäuble, gegen den Überwachungsstaat.

Um ihn herum stehen unzählige Polizisten, hochgerüstet, gepanzert, vollausgestattet. Sie haben wohl einfach noch nichts gehört vom neuen Waffenverbot auf dem Kiez.

Es scheint mir allerdings nicht der richtige Zeitpunkt, sie darauf hinzuweisen.

Nur ein Wort

WEIH!
nachtsf
ei
er …

13 Dezember 2007

Von Berg und Bauern

Müsste ich einen Artikel schreiben über den TV-Smash-Hit „Bauer sucht Frau“, so betitelte ich ihn aus lauter Spaß an der Freud mit dieser Zeile: „Zurück in die Kuhzunft“.

Doch leider schreibe ich keinen Artikel darüber, und deshalb wird auch diese Überschrift niemals das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Schade drum.

Ans Licht zerre ich ersatzweise ein Zitat der hochverehrten Dichterin Sibylle Berg, deren Newsletter zu empfangen ich die monatliche Ehre habe, wie Stammleser wissen.

„Zürich ist unbedingt eine Reise wert“, schreibt sie. „Es ist so angenehm teuer, dass man hier kaum betrunkene Kegelreisende trifft.“ Damit liefert Frau Berg eine fantastisch treffsichere Definition des Gegenteils von unserer hiesigen Wohnumgebung.

Man muss „Kegelreisende“ nur ersetzen durch „Dombesucher“, „Freier“, „Pinneberger“. Oder „Bauern auf Frauensuche“.



Ziemlich zebraesk

Dank eines noch halb traumumflorten Griffs in den Kleiderschrank erlitt ich heute zufällig eine merkwürdige Klamottenkombination.

Mein weißes T-Shirt hatte Längs-, die gleichfarbige Haushose Querstreifen, und zwar jeweils schwarze. Wahrscheinlich fragen sich jetzt einige Stilisten, was eine derartige Hose überhaupt in meinem Kleiderschrank verloren hat.

Nun, das kann ich erklären. Tu ich aber nicht.

Jedenfalls ergab diese Kombi eine selbst für mich verwirrende Zebraoptik. Ich musste sie gleich Ms. Columbo vorführen. „Schau mal“, strahlte ich sie an, „mit diesem Outfit würde ich in der Savanne jedem Löwen entkommen. Er bekäme Augenflimmern, und weg wäre ich.“

Ms. Columbo schaute auf, und ihre Augen weiteten sich in namenlosem Schrecken. Es dauerte quälende Sekunden, bis sie ihre Fassung wiedergefunden hatte. „Nein“, sagte sie dann, „er bekäme sogar einen epileptischen Anfall.“


Wäre mir auch recht. Und allein das rechtfertigt bereits den Besitz dieser Hose.

Bei der nächsten Safari ist sie an Bord, definitiv.

12 Dezember 2007

Klingelstreich

Natürlich: Das Wesen des Vandalismus, sein Kern, sein innerstes Ich liegt in der sinnlosen Zerstörung. Danach strebt er, das befriedigt ihn.

Dennoch wäre es mir auf eine mir selbst rätselhafte Weise lieber, ich wüsste genau, warum jemand nur die Kuppel einer Klingel klaut, statt sie komplett von meinem Fahrradlenker abzuschrauben und sich hinfort selbst ihrer tadellosen Funktionsfähigkeit zu erfreuen.

Was bloß will der Vandale mit dem Blechdeckel alleine? Er wird ihn über kurz oder lang frustriert entsorgen müssen, und ich meinerseits bleibe auf dem Rest einer Klingel sitzen, die nun so viel wert ist wie ein Schuh ohne Sohle oder Kopf ohne Hirn.

Wem nützt das also? Keinem von uns beiden. Doch vielleicht liegt es ja an mir, an meinem verkrampften Bedürfnis nach Kausalität, nach Ursache und Wirkung, Sinn und Zweck, Diebstahl und Nutzen, dass mir das Wesen des Vandalismus, sein Kern, sein innerstes Ich erschreckend fremd bleibt.

Tatsache bleibt: Ich kann zurzeit nichts und niemand vom Fahrradweg klingeln. Ich muss „Achtung!“ rufen, und das ist auf eine mir selbst unverständliche Weise ein Stück weit entwürdigend.

Es bleibt wohl kein anderer Ausweg: Eine neue Klingel muss her. Oder gibt es irgendwo den Deckel gesondert zu kaufen? Wenn man ihn überhaupt so nennt.

11 Dezember 2007

Neuigkeiten zum Zusammenbrechen

Auf einem der Fernseher im Fitnessclub läuft n-tv. Aus der Ferne sehe ich: Das Laufband leuchtet rot, und das verweist auf sensationelle Neuigkeiten.

Was also mag passiert sein? Ist der Yellowstonevulkan endlich ausgebrochen? Die Kanzlerin zurückgetreten? Rollt ein Tsnunami auf Hamburg zu? Kehrt Michael Schumacher in die Formel 1 zurück? Hat Stoiber Nacktfotos im Playboy zugestimmt?

Neugierig eile ich hin. „BREAKING NEWS“ schreit mich das Laufband alarmistsch an; der Begriff „Eilmeldung“ ist n-tv wohl zu popelig. Aber das ist mir egal, solange die Sensation nur groß genug ist für ein ROTES LAUFBAND.

Und dann erfahre ich sie, die unfassbare breaking news, die Neuigkeit zum Zusammenbrechen: Das Spaceshuttle Atlantis startet NICHT. Sondern erst im Januar.

Muss manchmal echt hart sein, das Leben als Nachrichtensender.


(Natürlich werde ich den Teufel tun und nach den neusten Erfahrungen hier das Logo von n-tv oder etwas Ähnlichem abbilden – sondern lieber ein selbstgeschossenes unscharfes Foto von einem Spiegel, der im Fitnessclub hängt.)


09 Dezember 2007

Endlich haben wir auch mal Glück



Von: MattWagner|web.de
Betreff: Yippiee: Kreuzfahrt!!!
Datum: 9. Dezember 2007 21:47:29 MEZ
An: info@planet49.com


Liebe Leute von Planet 49.com,

ich freue mich wie Bolle über den Gewinn der 4-Sterne-Nil-Kreuzfahrt, den Sie mir über die Webseite www.kicktipp.de mitgeteilt haben! Das finde ich ganz und gar großartig, denn das Jahr 2007 war hart genug!

Jetzt würde ich gerne zeitnah mit Ihnen über die Details reden. Zum Beispiel hätten ich und meine Frau am liebsten eine Außenkabine. Können Sie uns sagen, ob das ohne Aufpreis möglich ist? Wenn nicht, dann schlage ich vor, wir verrechnen das einfach mit dem 50-Euro-Gutschein, den ich ja auch noch gewonnen habe.

Wichtig ist natürlich auch der Termin. Am liebsten wäre uns der Zeitraum vor oder nach Juni nächsten Jahres. Während der Europameisterschaft können wir nämlich leider nicht. Oder gibt es die Chance, die Spiele an Bord zu verfolgen, vielleicht sogar auf einem Fernseher in der Außenkabine?

Fragen über Fragen, die unser Glück natürlich nicht trüben! :))

Falls wir terminlich nicht auf einen Nenner kommen, wären wir auch mit einer Barauszahlung einverstanden. Die Kontonummer kann ich Ihnen bei Bedarf nennen, kein Problem. Um welche Höhe handelt es sich denn? Mit etwa 3000 Euro können wir doch rechnen, oder? Wahnsinn!

Prall vor Glück:
Matt


08 Dezember 2007

Der Entkalkungsversuch

Die Espressomaschine musste entkalkt werden, schon seit Monaten. Alle 600 Tassen muss man das tun, sagt die Anleitung. Wir waren schon mindestens hundert drüber.

Endlich raffte ich mich auf. Der Beutel mit dem Entkalker war bedruckt mit allerlei bedrückenden Warnhinweisen. Am Ende, als es um Kinder ging und ihre Neigung, alles in den Mund zu stecken, nahmen sie einen geradezu panischen Grundton an.

Trotzdem schnitt ich den Beutel auf. Sofort entwich ihm ein entsetzlicher Gestank, und ich beeilte mich, die Flüssigkeit in den halb mit Wasser gefüllten Tank zu schütten und das Gebräu sofort durch die Maschine zu jagen.

Danach mit klarem Wasser nachspülen, und schon würden wir uns wieder an duftendem Espresso erfreuen können – sagte die Theorie. Die Praxis wich davon ab. Denn der Maschine entstieg auch nach dem Spülen noch immer die bösartige Karikatur eines Geruchs.

Also jagte ich einen weiteren Tank mit Wasser durch den Apparat, ohne Wirkung. Noch ein Tank. Und noch einer. Und noch drei. Keine Chance: Es miefte. Einen Testespresso, an dem ich trotz allem nippte, kippte ich in den Ausguss.

Die Frau von der Hotline hatte von so etwas noch nie gehört. „Nach dem Spülen“, sagte sie, „müsste alles sein wie vorher.“ Hätte, müsste, könnte. Sie versprach einen Kontakt mit der Technik plus Rückruf. Der erfolgte sogar.

Die Technik hatte von so etwas noch nie gehört. „Nach dem Spülen“, sagte sie, „dürfte eigentlich nichts mehr riechen.“ Eigentlich. Ich solle spülen, hieß es, immer weiterspülen.

Das war vor drei Tagen. Seither habe ich gespült und gespült. Und ganz allmählich – Tank für Tank, Liter für Liter – wurde der Gestank in mikrospkopisch kleinen Schritten kleiner. Er kämpfte tapfer, doch dem Tsunami meines immer manischere Züge annehmenden Spülens musste er sich letztlich geschlagen geben.

Ich habe bei dieser Aktion mindestens 600 Tassen durch die Maschine gejagt. Eigentlich müsste ich sie wieder entkalken.

Pflock ins Herz!

Der notorische Indieschluffi C. sang heute plötzlich wie aus dem Nichts „Ich war noch niemals in New York“ vor sich hin. Und ein paar Stunden später einen Song von Nena.

Normalerweise singt er NIE, nicht mal einen Song von Bloc Party. Wir waren tief besorgt. Als er nachmittags den Raum zum Rauchen verließ, fingen wir an, über ihn zu tuscheln.

Meine wahrscheinlich mit hektischen roten Flecken auf den Wangen vorgebrachte Theorie erwies sich in der Diskussion als die plausibelste: C. wurde ausgetauscht, wie in „Die Dämonischen („Invasion of the body snatchers“)“.

Dabei war IHNEN allerdings ein Fehler unterlaufen, und jetzt summte der Indieschluffi völlig wesensfremd Udo Jürgens. Auch die Austauschfabriken im All können halt immer noch besser werden.

Egal: C. war jedenfalls ausgetauscht worden. Er war in Wahrheit nicht mehr C., aber immer noch rauchend auf der Balustrade. Was also tun? Wie sollten wir adäquat reagieren auf seine Rückkehr? Immerhin ahnte er nichts von seiner Enttarnung; das war unser Vorteil. Alle Trümpfe lagen bei uns.

Ich schlug flüsternd das probateste aller Mittel vor: Pflock ins Herz. Meine Kollegin war sofort einverstanden. Doch wer sollte es tun? Schließlich ist niemand von uns als van Helsing geboren.

Zum Glück kam plötzlich der Cleaner reingeschneit, und damit war die Sache rasch erledigt. Zumindest auf leicht variierte Weise.


PS: Das Foto zeigt C. vor dem Austausch. Natürlich habe ich ihn, klüger geworden durch jüngste Vorfälle, unkenntlich gemacht.

07 Dezember 2007

Mich hat's bös erwischt

Am 6. Mai diesen Jahres tat ich etwas, was ich gewöhnlich vermeide: Ich illustrierte einen Blogeintrag mit einem Foto, das ich über Google entdeckt hatte.

Im Text ging es u. a. um Nudeln, und wahrscheinlich war ich einfach zu faul, mich nur wegen eines Fotos an den Herd zu stellen und Nudeln zu kochen. Das hätte ich aber mal tun sollen – wäre jedenfalls billiger gewesen als

747,50 Euro
.

Soviel soll ich nämlich bezahlen, wie ich heute per Abmahnungsschreiben erfuhr. Absender: ein Hamburger Anwalt, der die notorische Webseite Marions Kochbuch vertritt (die hier natürlich nicht verlinkt wird, das will die ja nur). Von dort nämlich soll das Nudelbildchen stammen, und deshalb hält man es für angemessen, mir das Monatseinkommen eines Hartz-IV-Empfängers abzuknöpfen.

Eine kleine Recherche ergab, was man so denkt im Web über die berüchtigte Kochbuchseite: Die Betreiber sollen ihre Fotos angeblich ähnlich verlockend bereitlegen, wie man Käse in einer Mausefalle drapiert – zubeißen leicht gemacht, damit der Abmahnwahn in Gang kommen könne. Prozesse, heißt es, führe man tunlichst immer in Hamburg, weil das dortige Landesgericht gleichsam williger Vollstrecker dieser Methode sei.

Doch all das ist nur Bloggergeraune. Ich glaube nicht daran. Man kann charakterlich nicht so tief sinken, seine ganze berufliche Existenz auf eine so schäbige Basis zu stellen.

Doch wie auch immer: Ich war – um im fiktiven Bild zu bleiben – offensichtlich blöd genug, nach dem Happen zu schnappen. Jetzt muss auch ich mir einen Anwalt nehmen; er kennt Marion gut.

Je nachdem, wie das Ganze ausgeht, bekommt Ms. Columbo eben nix zu Weihnachten.

06 Dezember 2007

Ich werde immer beliebter



Über Kunst zu sprechen, ist wie über Architektur zu tanzen – sagt man nicht so?

Der Leiter der Kasseler Kunstschau documenta, Roger Martin Buergel, gilt jedenfalls als besonders begnadeter Schwurbler und Schwaller, und pfiffige Phrasenentlarver haben im Internet die Buergelmaschine programmiert: Man lädt ein beliebiges Bild hoch, und der virtuelle Buergel legt los mit gelehrt klingendem Phrasendreschen, das so hohl ist, als wäre es wirklich echt.

Mein Bloglogo habe ich daraufhin „Selbstporträt als Flurlampe“ getauft, es der Buergelmaschine hingehalten – und prompt bestätigt bekommen, meine Kunst sei motivisch durchdrungen von einer Ethik des Miteinanders.

Das tut gut – und wird bestätigt vom heute veröffentlichten Ranking der beliebtesten und somit auch unbeliebtesten Berufe, das ein unsensibler Pressedienst mir per Mail als gebrüllte Schlagzeile vor den Latz knallte: „JOURNALISTEN JETZT BELIEBTER ALS SPARKASSENMITARBEITER!“

Klingt komisch für einen, der Sparkassenmitarbeiter war, ehe er Journalist wurde. Doch nach langen Jahren am Tabellenende, so stellt sich heraus, habe ich mich inzwischen ins Mittelfeld hochgehangelt. Jetzt rangiere ich plötzlich weit vor den neuen Parias unserer Zeit, Telekomleuten und Versicherungsvertretern.

Liegt bestimmt alles nur am Bloggen, das fördert unheimlich die Ethik des Miteinanders.

05 Dezember 2007

Im rechten Winkel

Heute kreuzten sich in der Abendsonne überm Hamburger Himmel die Bahnen zweier Flugzeuge, zum Glück zu unterschiedlichen Zeiten.

Sie taten das derart rechtwinklig, als hätten die Piloten eine Wette laufen.

Mehr war heute nicht. Muss man auch mal zugeben können.

04 Dezember 2007

Taxi, TANs und Wendelin

Mein Glückstag: Ein Taxifahrer hält mitten auf St. Pauli freiwillig an, als er mich am Bordstein stehen sieht, damit ich gefahrlos die Straße überqueren kann. Dabei hätte ich mich nicht mal auf einen Zebrastreifen berufen können.

Unerklärlich. Na, vielleicht strahle ich selbst am Straßenrand eine gewisse Grundsympathie aus. Wenn der Taxifahrer jedenfalls wüsste, wie einfach er Menschen den Tag verschönern und damit an seinem Karma werkeln kann, er käme vor lauter Bremsen nicht mehr zum Geldverdienen.

Zum Geldverdienen kommt mit Sicherheit auch nicht der Absender der abgebildeten Phishingmail, die mich heute im Namen der Volksbank erreichte. Ich meine: Wer tippt allen Ernstes stapelweise TAN-Nummern in irgendwelche Felder im Internet? Solche Menschen kann es gar nicht mehr geben, das ist völlig unmöglich.

Andererseits gibt es auch Eltern, die den Nachnamen Niedlich tragen und ihren Sohn trotzdem Wendelin nennen.

Und das ist wirklich zu wahr, um schön zu sein.

03 Dezember 2007

Zwischen Ein- und Ausatem

Irgendwo im interessant beleuchteten VHS-Haus (Foto) an der Schanzenstraße findet auch die Einführung in Cranio-Sacrale Körperarbeit statt, doch Ms. Columbo und ich sind für das Wochenendseminar „Ruhepunkte“ angemeldet. Wir möchten erfahren, wie wir besser mit Stress umgehen können.

Wenig später sitzen wir mit geschlossenen Augen in einer überwiegend weiblichen Runde, und eine 50-jährige Sozialpädagogin sagt: „Lasst es geschehen, dass sich der Einatem in eurem Bauch und Becken ausbreitet. Nach und nach, mehr und mehr.“


Gut, wird gemacht.

Auch vom Ausatem verlangt sie was. Er möge, fordert sie, mit seinem Entfleuchen auch alle Anspannung von uns nehmen. Ich muss an die chemische Zusammensetzung des Ausatems denken, also an verdammt viel Kohlendioxid, und frage mich, ob er, der Ausatem, mit dem Transportjob nicht ein klitzekleinwenig überfordert sein könnte. Doch er macht seine Sache ausgezeichnet.

Anschließend folgt ein Schnellkurs in autogenem Training. Unversehens hänge ich mit Baumelarmen auf meinem Stuhl wie ein Orang Utan unter Valium, während die Sozialpädagogin mich auffordert, mir innerlich den Satz „Mir wird das rechte Bein schwer und warm“ vorzusagen.

Das tue ich auch, schließlich habe ich bezahlt, woraufhin mir das rechte Bein schwer und warm wird und die Birne ungeheuer matschig. Zweimal vermeide ich es in letzter Sekunde, autogen vom Stuhl zu kippen.


Das alles hier funktioniert also prächtig. Gut investiertes Geld.

Vor der Mittagspause sagt die Kursleiterin: „Versucht einmal hinzuspüren, wo ihr die Pause verbringen wollt.“ Wir spüren hin und her, und am Ende läuft alles auf die Tapasbar schräg gegenüber hinaus.

Fazit: ein super Wochenende, entspannend wie lange keins. Und während ich dies schreibe, breitet sich mein Einatem in Bauch und Becken aus, nach und nach, mehr und mehr. Hoffentlich gibt’s bald den Anschlusskurs.

01 Dezember 2007

Im Separee mit Edeltraut und Herbert

Zwei, drei Mal im Jahr verlieren wir die Beherrschung. Dann müssen Ms. Columbo und ich ins Freudenhaus, nur zwei Fußminuten von unserer Wohnung entfernt.

Rote umschnürte Plastikherzen, von Kerzen heimelig illuminiert, verzieren dort die Fenster. Drinnen erwarten uns jene heißen Genüsse, die uns zwei, drei Mal im Jahr die Beherrschung verlieren lassen, auch wenn sie nicht ganz billig sind.

Im Freudenhaus ist man auf Paare genauso eingestellt wie auf Singles. Die bildhübsche Assistentin führt uns in ein mit rotem Samt ausgeschlagenes Separee. Ms. Columbo ließ es schon vor einer Woche reservieren, was weise war, denn das Freudenhaus ist auch heute Abend restlos ausgebucht.

Gegenüber unserer Kuschelecke hängt ein Aktbild an der Wand; es zeigt zwei lüsterne Engel, die sich mithilfe von Obst und Gemüse prächtig amüsieren. Unsere Stimmung steigt.

Die Assistentin präsentiert lächelnd das Angebot und fragt nach unseren Wünschen. Ms. Columbo leckt sich recht schnell die Lippen nach einem muskulösen Hirschen ohne ein Gramm Fett, er heißt Herbert. Ich hingegen entscheide mich für eine knusprige Brünette mit Schenkeln zum Reinbeißen und dem etwas altmodischen Namen Edeltraut.

Und nur ein Viertelstündchen später machen wir uns gierig her über die beiden geilen Weihnachtsmenüs im Restaurant Freudenhaus.

30 November 2007

Eine leereiche Erfahrung

Heute hat die Biathlonsaison begonnen. Ms. Columbo hasst Biathlon. Sie fühlt sich von dieser Sportart verfolgt und bedrängt, und ihr dauerhaftes Vorkommen in Nachrichtensendungen ist für sie ein Drangsal ersten Ranges.

„Von November bis April ist Biathlon!“, ruft sie empört aus, „und dazwischen habe ich Angst davor, dass es wieder losgeht!“ Ich bin total hilflos. Als derjenige, der sie vor den Übeln und Gefahren dieser Welt schützen soll und will, versage ich in dieser Beziehung total.

Biathlon ist mir über. Es ist wirklich überall, und auch ich entwickle unterm Einfluss von Ms. Columbo bereits Aversionen gegen diese Sportart, die in ihrer ganzen Machart etwas Lächerliches hat.

Auf Skiern durch die Gegend zu rutschen, um sich plötzlich in obszöner Breitbeinigkeit flach auf den Bauch zu werfen (vor allem für Männer nicht ohne Risiko!) und hechelnd auf eine Scheibe zu ballern, die einem nicht das Geringste getan hat: Das muss man Menschen mit absonderlichen Neigungen natürlich grundsätzlich zugestehen, solange sie die öffentliche Sicherheit nicht gefährden. Doch warum stehen dabei immer Fernsehteams Stativ bei Fuß und bringen Biathlonberichte ins heute journal? Und zwar von November bis April?

Um Ms. Columbo von dieser langen, schrecklichen Zeit, die ganz Deutschland von nun an wieder mal bevorsteht, ein wenig abzulenken, zitiere ich eine Mail von heute. Eine Promoterin, die ihre Plattenfirma verlässt, verabschiedete sich von uns mit dem Satz: „Ich danke Euch allen für 2,5 leereiche Jahre.“

Manchmal denke ich, Freud hatte doch Recht.

PS: Schlimm übrigens, dass Ms. Columbo jetzt auch in diesem bisher biathlonfreien Blog auf Biathlon stößt. Waaaah!

29 November 2007

Musiktauschen im 21. Jahrhundert

Nur einen Song möchte ich von C., einen einzigen: „Moonshiner“, eine ältere Dylan-Coverversion von Cat Power. Doch sie befindet sich ausschließlich auf seinem iPod nano, die Originalquelle ist verschollen.

Spielen und löschen könnte man das Stück problemlos, aber das will ich gar nicht, sondern es mir einfach von ihm schenken lassen. Schließlich sind wir befreundet, dann darf man das, ohne sofort in den Knast zu wandern. Aber wie kriege ich es auf meinen iPod? Von diesen Geräten kann man ja nichts mehr runterkopieren. Eigentlich.

Bestimmt ist meine Methode eine Umstandskrämerei erster Kajüte, und jeder Computerfex östlich von Richmond lacht sich ein Loch in den Chip, doch ich starte TinkerTool, ein nützliches Programm, das versteckte Dateien sichtbar macht, natürlich auch die von C.s iPod nano.

Ich ziehe alle sonst unsichtbaren und kryptisch benannten Musikdateien aus seinem „Music“-Ordner in mein iTunes-Fenster. Das dauert nur eine Stunde. Am Ende ist mein freier Festplattenspeicher um fast vier Gigabyte geschrumpft, der Songbestand hingegen um fast tausend Titel gewachsen.

Und unter all den Massen von Tracks entdecke ich nach der alphabetischen Sortierung auch „Moonshiner“. Ich ziehe es in eine Wiedergabeliste, markiere alle anderen Songs von C. und lösche sie wieder aus der iTunes-Bibliothek.

Insgesamt hat die ganze Aktion nicht mal 90 Minuten gedauert, für einen knapp sechsminütigen Song. Trotzdem habe ich das Gefühl, zu Zeiten der Compactcassette wäre das alles einen Tuck einfacher gewesen.

Vielleicht verfärbt aber auch einfach die Nostalgie meine Erinnerung.

27 November 2007

Was aß Grass?

Warum mir das Folgende ausgerechnet heute Abend wieder einfiel, weiß ich nicht.

Jedenfalls waren wir im Sommer auf Urlaub in Danzig, im Mercure Hevelius Hotel. In seiner ruhmreichen Geschichte nächtigten dort bereits unzählige Gäste, darunter sogar noch prominentere als Ms. Columbo und ich.

Eine beeindruckende Fotogalerie in der Lobby kündete von ihrer Hochkarätigkeit, und wir standen gleich am ersten Danzigtag ehrfürchtig vor den Porträts von Margaret Thatcher, Richard von Weizsäcker, Günter Grass oder George (Papa) Bush.

Das Interessanteste jedoch waren die dazugehörigen Menükarten. Unter jedem Promiporträt hing eine und informierte die Nachwelt über die kulinarischen Köstlichkeiten, mit denen das Mercure dermaleinst die Zelebritäten verwöhnt hatte.

Mir gibt das Gelegenheit, mal wieder ein kleines Rätselspiel zu veranstalten, bei dem es – wie stets – Unglaubliches zu gewinnen gibt: nämlich einen der hier auf dem Kiez weltberühmten Musiksampler aus eigener Produktion. Wer also folgende vier Menüs den richtigen Prominenten zuordnen kann, für den wird’s viel früher Weihnachten als gedacht.

Hier sind sie (das letzte war bis auf einen Gang nicht zu rekonstruieren):

1. Waldpilzragout, Brokkolicremesuppe, Forelle in Stachelbeersoße, Apfelkuchen mit Vanillesoße

2. In Kirschen manirierte Bratente mit Oliven und Kräutern, Dillcremesuppe, Tournedo (ein Stück aus dem Rindsfilet) mit grünem Spargel in „Gribich“-Soße

3. Parmaschinkensalat mit Krabben und Äpfeln, Toast mit Rührei und gebratenen Tomaten, Birnen in Likör und Grapefruitsoße, grüner Tee mit Sahne und frischgepresstem Orangensaft

4. Scholle
Es gewinnt, wer als erster die vier Namen Margaret Thatcher, Richard von Weizsäcker, Günter Grass
und George Bush von 1 bis 4 in die richtige Reihenfolge bringt und sie als Kommentar hinterlässt. Auch die Auflösung erfolgt nach einer angemessenen Frist ebenda, wo ich dann den oder die Glückliche um eine Mail mit den Adressdaten bitten werde.

Wer also aß die Pilze und wer die Ente, wer Scholle und wer Toast? Man kann drauf kommen …

26 November 2007

Das Leben ist gerecht

Wie wir genau auf Hollywoodikone Mae West kamen, weiß ich auch nicht mehr.

Jedenfalls erklärte mir Ms. Columbo plötzlich mit deutlichen Zeichen der Erheiterung, der Künstlername dieser legendären Sexbombe (wie man das damals noch nannte) habe auch konkrete Bedeutungen. Nämlich sinnigerweise „aufgepumpte Schwimmweste“ und „Panzer mit Zwillingstürmen“.


Manchmal ist das Leben eben doch gerecht.

Nur in Dubai eher selten. Dort soll ein Brite, der auf dem Flughafen an Bewegungsmangel litt und sie mit Liegestützen bekämpfte, für drei Monate ins Gefängnis gewandert sein – Delikt: „Belästigung des Flughafenbodens“.

Man stelle sich erst mal vor, er hätte Mae West belästigt.

Andererseits wissen wir ja alle seit Schäuble: Wer nichts zu befürchten hat, hat auch nichts zu verbergen. Chrome’s Blog hat den Nachnamen unseres Innenministers daher mal durch den Anagrammfleischwolf gejagt und stieß auf „Belausche“ und „Ach, Übles“.

Manchmal ist das Leben doch gerecht – hätte ich beinah gesagt, doch das habe ich ja schon.

Der Anblick des winterlichen Ottensens von heute Abend hat übrigens mit all dem nicht das Geringste zu tun.


Kurios

„Einverstanden, wenn ich den iPod auf Zufallsauswahl stelle? Es könnte allerdings eine kuriose Abfolge dabei herauskommen“, warne ich Ms. Columbo, als ich pflichtgemäß den Soundtrack fürs Frühstück vorbereite.

„Sie ist immer kurios“, antwortet sie, gestählt bis zur Stoik von langen gemeinsamen Jahren mit einem diktatorischen Musikauswähler.

„Ja, aber homogen kurios!“, triumphiere ich. Und drücke die Abspieltaste.

25 November 2007

Von wegen Klimawandel



Die Sonne hat auch schon mal mehr Power gehabt. Hoffentlich sehen das keine Atomkraftbefürworter.


Gefunden im Levantehaus in der Mönckebergstraße.


24 November 2007

Umnebelt

Die Bar Morphine, wohin ich eingeladen bin, um mir einen Künstler anzuschauen, könnte überall angesiedelt sein, in Meiendorf oder Norderstedt, in Harburg oder Pinneberg.

Aber nein, sie liegt in der Seilerstraße; ich könnte in Puschen hinüberschlendern. Tue ich trotzdem nicht.

Drinnen pusten sie alle fünf Minuten Trockeneis auf die Tanzfläche, wo ein totemähnlicher Pfeiler steht, anfangs noch wie ein trutziger Solitär. Bald ist er umgeben von Zwanzigjährigen, die hier den Altersschnitt definieren, und ich fühle mich … älter.

Alle sind umflort vom zischenden Nebel, und der endlose stumpfe Beat des Technohouse, den der DJ in den Raum pumpt wie eine Injektion aus Adrenalin, nivelliert die Unterschiede. Die Körper pulsieren im Takt, Flaschen und Gläser vibrieren in unseren Händen.

Neben mir umarmen sich gestylte faltenlose Menschen mit vor gespielter Begeisterung geweiteten Augen (das kann allerdings auch vom Kokain kommen, das sie gerade auf dem Klo geschnupft haben).

Ein bärtiger Student mit Hornbrille (Fachrichtung: Grafikdesign. Hundertprozentig.) hält das Cocktailglas seltsam affektiert in Ohrenhöhe rechts von seinem Kopf und schwenkt manchmal ohne hinzuschauen den Arm nach links, wo der Strohhalm traumhaft sicher seinen Mund findet.

Eine passable Methode, geriete sein Ellenbogen nicht beim Zurückschwenken immer wieder in gefährliche Nähe zu meinem Jochbein. Ich wechsle den Platz, treffe Kalle Schwensen und beschließe in der Zehntelsekunde, bevor wir uns die Hände schütteln, diesmal richtig gegenzuhalten. Es funktioniert.

Als ich gehe, wird mir bewusst, dass keine der herumwuselnden Promoterinnen, welche die Gäste zum Eintrag in einen Mailverteiler animieren sollen, mich angesprochen hat. Vielleicht war der Trockeneisnebel zu dicht.

Ja, bestimmt.

23 November 2007

Heißer Feger



Unser Schornsteinfeger sieht sich veranlasst, mit der Unterstreichung eines entscheidenden Wortes explizit zu betonen, zu welchem Zweck er demnächst vorbeikommen wird.


Das lässt Rückschlüsse zu. Zumindest bei Menschen mit schmutziger Fantasie. Vielleicht wurde er von einem oder mehreren Bewohnern unseres Hauses in der Vergangenheit mit Anforderungen konfrontiert, die er nicht erfüllen wollte. Oder konnte.

Deshalb kommt er diesmal nur zum FEGEN vorbei. Ausschließlich. Zu nichts anderem. Erst beim nächsten Mal wieder, eventuell.

Na ja, wir haben eh keinen funktionsfähigen Ofen mehr.



21 November 2007

Sehr geehrter Herr Hoeneß

Datum: 21. November 2007 18:18:09 MEZ

Sehr geehrter Herr Hoeneß,

wie ich einem Interview entnehmen konnte, das Sie dem Bayerischen Rundfunk gewährten, haben Sie Ihre Loge in der Allianzarena bisher noch kein einziges Mal benutzt. Dabei kostet sie pro Saison einen sechsstelligen Betrag.

Welch eine Verschwendung!

Ich bin Mitglied des FC St. Pauli, ein Verein, den Sie ja auch mögen; Ihre Rettungsaktion ist hier oben auf dem Kiez unvergessen. Aus diesem Grund möchte ich auch Ihnen mal aus der Patsche helfen. Mein Angebot: Ich erkläre mich bereit, als Ihr Ersatzmann die verwaiste Loge in der Allianzarena zu besetzen, wann immer Sie verhindert sind.

Falls ich selbst einmal verhindert sein sollte (z. B. wegen eines Bahnstreiks), nominiere ich gerne einen Ersatzersatzmann, wobei ich Ihnen natürlich ein Mitspracherecht einräumte, ist ja nur fair.

Wäre das nicht eine fantastische Lösung für alle Probleme, die mit Ihrer leeren Loge zusammenhängen?

Die näheren Details können wir sofort regeln, damit es vielleicht schon am Samstag gegen Wolfsburg klappt.

Ich packe vorsorglich mal ein paar Kleinigkeiten in meine Reisetasche.

Über einen regelmäßigen Zuschuss für die Fahrkarte würde ich mich übrigens sehr freuen; ist ja nicht ganz billig, zweimal im Monat längs durch die Republik zu reisen.

Aber das kriegen wir bestimmt alles einvernehmlich geregelt.

Viele Grüße

Ihr Matthias Wagner

20 November 2007

Aggy gegen Gerd

Morgens um 10:31 Uhr versuchte mich eine Müllmail zu charmieren. Sie begann mit dem Satz „Restlos faust digge hinter den Loeffeln hat es die anmutige Aggy.“

Spätestens da wusste ich: Der Tag hat Potenzial.

Letztlich war es aber dann doch nicht so. Denn nachdem mir in einer Pressemeldung das optisch wie akustisch schönste Wort seit langem untergekommen war („Bassbalalaika“), beließ es der Tag bei nur noch einer weiteren Attraktion.

An der Reeperbahn Ecke Davidstraße war von Wahlwerbungsarchäologen ein Relikt freigelegt worden: Schröder! Ein Gespenst aus fernen Zeiten.

Vielleicht wäre die Wirkung des Plakats noch erschreckender gewesen, hätte nicht ein barmherziger Passant den Exkanzler kieztypisch aufgepeppt.

Eventuell war es ja auch die anmutige Aggy von 10:31 Uhr. Schließlich hat sie es faust digge hinter den Loeffeln – und bestimmt zufällig einen Edding dabei gehabt.

19 November 2007

Der Bierkonflikt

Auf der Bühne des Docks explodiert der Retrorock der schwedischen Hives lauthals und stilbewusst (Anzüge! Krawatten! Schwarze Hemden!), doch ein kleines Drama spielt sich nicht da vorne ab, sondern neben uns am Tresen.

Ein Teenager hat ein Bier bekommen, aber zu wenig Wechselgeld. Behauptet er. „Ich habe dir zehn gegeben“, sagt er der Bedienung. „Nein, fünf“, sagt sie.

„Ehrlich: zehn“, barmt der Junge, und er sagt es auf eine dringliche Art, bei der jedes Gericht auf einen Eid verzichten würde. Seine Aussage stimmt, auf jeden Fall. Das irrlichternde Flackern in seinen Augen rührt von Verzweiflung her, nicht von Unrechtsbewusstsein.

Die Bedienung ist gleichwohl anderer Meinung. Sie bleibt hart. Gegenüber dem Franken schildere ich meine allgemeine Problemlösungsmethode für solche und vergleichbare Fälle: Telefonnummern austauschen, und abends nach dem Kassensturz checkt das Docks, ob ein Überschuss von fünf Euro aufgelaufen ist, ruft gegebenenfalls den Burschen an, und die Sache ist erledigt.

„Ich weiß genau“, insistiert der Junge, „dass ich noch Geld für zwei Bier hatte!“ Vergeblich. Eine Welle von Mitleid überschwemmt mich. Ich überlege, ob ich ihm das nächste Bier ausgeben soll, nicht nur aus Großherzigkeit, sondern auch, um die Bedienung zu düpieren.

Doch wie käme das an: Ein Mittvierziger (zumal in Begleitung eines gleichaltrigen Franken!) spendiert einem 18-jährigen Unbekannten ein Glas Gerstensaft – wirkt das nicht irgendwie anzüglich? Und will ich das riskieren? Zehn Minuten später bin ich noch immer zu keinem Entschluss gekommen. Da sehe ich die Bedienung, wie sie ihm ein Bier rüberschiebt, kostenlos, aus Kulanz.

Eine wirklich salomonische Lösung, in mehrerer Hinsicht.

18 November 2007

No sex, we’re british

Nachts auf dem Kiez, nicht weit vom Spielbudenplatz (Foto): Während um uns herum das Leben tobt, sitzen wir zu dritt in der beschaulichen Weinbar Traubenzauber und kriegen die Bedienung dazu, den ekligen 80er-Jahre-Pop durch Rat-Pack-Songs zu ersetzen. Sie leistet kaum Widerstand.

Als sie weg ist, kommt die Frage auf, welche Männer wir sexy fänden, wenn wir schwul wären. German Psycho erkürt (natürlich) Christian Bale zu seinem persönlichen Sexgott, zur Not akzeptiere er auch Brad Pitt.

C. pickt sich Jack Nicholson raus. Ich erbitte eine Lebensphaseneingrenzung und schlage die „Easy Rider“-Ära vor, was C. erleichtert bejaht.

Nur mir fantasielosem Hetero fällt kein Kerl ein, kein einziger. Was bedeutet das bloß, tiefenpsychologisch gesehen? Bin ich etwa – Gott bewahre – homophob?

Ohne Ergebnis wechseln wir gegen eins in den English Pub am Hans-Albers-Platz, wo plötzlich eine Prostituierte auftaucht. Sie verkörpert den orientalischen Typ mit ihren streng hinterm Kopf zusammengebundenen schwarzen Haaren, dem dunklen Teint und einer Nase, mit der man die Vorsilbe „Stups“ keineswegs assoziiert.

Durchs sorgfältig zerschnittene Blau ihrer hautengen Jeans schimmern weiße Fäden. Ihre Gürteltasche – Pflichtaccessoire aller Huren auf St. Pauli – scheint prall gefüllt. Kein Zweifel, sie will hier im English Pub klammheimlich und illegal ihr Revier erweitern.

Bald verschwindet sie mit einem jungen Türken aufs Klo. Doch die beiden haben die gewiss nicht knappe Rechnung ohne die Bedienung gemacht, die mit ihren blonden Zöpfen irgendwie zünftig und sehr entschlossen aussieht. „Heidi Stahl“ nenne ich sie insgeheim, obwohl das ein Spitzname ist, den German Psycho soeben für eine andere blonde Wuchtbrumme erfunden hat.

Heidi Stahl jedenfalls holt die beiden Geschäftspartner vom Örtchen, ihre Schimpfkanonade übertönt sogar die Musikbox. Dann schmeißt sie die Hure raus. Die wehrt sich nur der Form halber, sie weiß genau, was Sache ist und was ihr blüht, wenn sie sich mit Heidi Stahl anlegt.

Als sie sich trollt, trägt sie ihre bachtliche Nase grundlos hoch, was ihr beim Abgang zumindest den schwachen Anflug einer Siegeraura gibt.

Der frustrierte Junge hat die ganze Zeit wortlos dabeigestanden. Trotz seines offenkundigen Triebstaus lässt er keinen Kampfgeist erkennen, keinen unbedingten Willen zum Sex. Er geht ihr nicht einmal nach. Was ist nur los mit der Jugend von heute?

Amüsiert stehen wir am Tisch und kippen ein Newcastle. Es hat erstaunlich viel Schaum für ein englisches Bier, das muss ich schon sagen.

16 November 2007

Zwei Bar zu wenig

Der Fahrradladen in der Clemens-Schultz-Straße liegt nicht weit weg von diesem hübsch verzierten Hauseingang. Sein Chef ist von recht kompakter Gestalt. Ich schätze ihn auf ungefähr 90 Kilo. Er legt die Handkante auf meinen Vorderreifen und wuchtet seine Masse hoch, so dass die kompletten 90 Kilo über die Handkante auf den Reifen drücken.

Er quetscht ihn zusammen bis auf die Felge. Mehrfach, um den Test auch wissenschaftlich zu fundieren. „Ssu wännik Luhft!“, verkündet er dann feierlich das Ergebnis. „Sinn swei Bar. Musse aber sein vier.“

Vier Bar also, staune ich. „Ginge schwär ssu fahre?“, fragt er und zeigt jenes sanfte Lächeln des überlegenen Fachmanns, das stets ein wenig mit Spott kontaminiert ist. Ich nicke ertappt.

Meine sporadische Daumenprobe hatte nie etwas Auffälliges ergeben; stets schien mir der Reifen ausreichend prall. Und jetzt das. Mir dämmert plötzlich: Zeit meines Radlerlebens habe ich mich mit zwei Bar zu wenig über Flachstrecken gequält. Absolvierte Abfahrten, die ich als schnell in Erinnerung habe, wurden in Wahrheit gebremst, von zwei Bar zu wenig.

Darin aber steckt auch etwas Tröstliches. Denn dass ich die Berge hochkroch wie ein asthmatischer Dackel, lag dann wohl doch nicht an mangelndem Training, den falschen Drogen oder daran, dass ich die Visitenkarte von Dr. Fuentes verlegt habe.

Der Chef holt seine Pumpe, steckt sie auf, drückt den Hebel runter mit der Kraft seiner 90 Kilo. Und dann haut er mir umstandslos vier Bar rein.

Als ich draußen aufsteige und losfahre, geht gleichsam die Sonne auf. Das Rad schwebt. Es eilt entfesselt dahin, als hätte es einen eigenen Willen und Super getankt. Es gehe leich ssu fahre! Und alles nur wegen zwei Bar mehr.

Die verlorenen Jahre des Kriechens muss ich jetzt ganz schnell vergessen.

Energy fur die Chefin – fast

Nach der gefühlt tausendsten Mail mit dem Betreff „Energy fur ihren Schwanz“ habe ich heute einen speziell darauf abgestimmten Spamfilter eingerichtet. Zu diesem Zweck kopiere ich die Betreffzeile in den Zwischenspeicher.

Wenig später will ich einen interessanten Spon-Artikel an die Chefin schicken. Ich markiere ihn, kopiere ihn in den Zwischenspeicher und füge ihn ins E-Mail-Textfeld ein.

Denke ich zumindest.

Denn in genau der Millisekunde, bevor ich den Sendeknopf drücke, sehe ich, was wirklich in der Mail steht: „Energy fur ihren Schwanz“.

Manchmal kann man ja eine geplante Aktion nicht mehr stoppen, obwohl sich durch hektisches Synapsenfeuer inzwischen herausgestellt hat, dass sie vollkommen bescheuert ist.

Heute nicht, zum Glück. Doch es war verdammt knapp.

15 November 2007

Wie ein komatöses Krokodil

Der blöde Schnellbus 37 kommt zurzeit mal wieder jeden Morgen verlässlich zu spät. Meist stehe ich mir ab 9 Uhr rund 20 Minuten lang an der U-Bahn-Haltestelle St. Pauli die Beine in den Bauch und vertreibe mir die Zeit damit, zum Takt von Philip Glass den HVV zu verfluchen. Philipp Glass’ Musik ist übrigens sehr rhythmisch.

Die äußerst zuverlässig eintreffenden Busse der erheblich unbrauchbareren Linien 36 und 112 scheinen beim Eintreffen zu feixen. Ich habe es vorher auch nicht gewusst, aber verdammt: Busse KÖNNEN feixen, ich erlebe es jeden Morgen!

In der 37, so sie denn kommt, sitzt dann meist eine sehr blonde, sehr verlebte und deshalb sehr aufgetakelte Busfahrerin. Auch heute wieder. Das Auffälligste an ihr ist nicht ihre mimisch offen zur Schau gestellte Grundgenervtheit, sondern die Art, wie sie den Bus steuert. Nämlich einhändig.

Ihre linke Hand erledigt komplett alles, was nötig ist, um verlässliche 20 Minuten Verspätung zu erzielen, während ihre rechte wie eingeschlafen auf der Kasse ruht. Vier Finger liegen in mathematischer Akkuratesse auf dem Gerät, während der Daumen träumerisch hinter der unteren Kante des Kastens verschwindet. Selbst bei engen Kurven und schwierigen Ausweichmanövern bleibt die Blonde verbissen bei dieser manuellen Arbeitsteilung, als hätte sie eine Wette laufen.

„Wahrscheinlich“, vermutet Ms. Columbo, der ich ratlos davon erzähle, „ist die Kasse nicht verschraubt, und um den ständig drohenden Diebstahl zu verhindern, muss sie sie festhalten.“ Was Besseres fällt mir dazu ehrlich gesagt auch nicht ein.

Als wir am Bahnhof Altona eintreffen, geht es plötzlich nicht mehr weiter. Ich schaue vom Spiegel hoch und stelle fest: Niemand ist mehr im Bus außer mir. Vorne steht die Blonde neben ihrem Sitz und fuchtelt mit den Armen.

Ich nehme den Kopfhörer ab und erfahre so auch akustisch von ihrer Aufforderung, den Bus wechseln zu sollen. Hinter uns parkt ein weiterer 37er, dort sollen wir hinein aus irgendeinem Grund. Alle haben es schon kapiert, nur ich noch nicht, dank Philip Glass und Spiegellektüre.

Also wechsle auch ich den Bus, und erst unterwegs dorthin wird es mir bewusst: Ich habe doch wahrhaftig die rechte Hand der Busfahrerin bei einer anderen Tätigkeit erlebt, als auf dem Kassenkasten zu liegen wie ein komatöses Krokodil. Beim Fuchteln nämlich.

Somit ein ganz besonderer Tag. Doch morgen wird bestimmt wieder alles so sein wie immer.

PS: Wenn ich vor lauter 37er-Frust dann doch mal die 112 nehme, die mich immerhin in die Nähe meines Zieles bringt, dann führt die Route wenigstens über den Hafen, und ich kann Kräne kucken. Und schon habe ich wieder ein Kränefoto hier eingeschmuggelt. Ich bin echt ein Fuchs.

14 November 2007

Liwa auf Kuba

Für einen Ex-Pornodarsteller ist A. ein erstaunlich scheues Reh. Er will sich einfach nicht zu mir vor die Bühne im Hafenklang stellen, auf der die Flowerpornoes spielen.

Dort steht sonst niemand, und wenn wir da stünden, dann versperrten wir Tom Liwa & Co. wenigstens ein bisschen den Blick auf den todtraurigen Saal. Denn kaum 30 Leute verlieren sich bühnenfern und schüchtern im Halbdunkel, inklusive A.

Sollen sie doch. Ich hingegen schaue mir Liwa näher an, der sich heute Abend für ein merkwürdiges Outfit entschieden hat. Auf dem Kopf trägt er eine übergroße schlammfarbene Zipfelmütze, die mich an den Film „7 Zwerge – Der Wald ist nicht genug“ erinnert, obwohl ich ihn nie gesehen habe. Liwas Torso wird zudem umschlottert von einem weißen Nachthemd, wahrscheinlich aus dem Nachlass seiner Großmutter.

Es reicht ihm bis zu den Knien, darunter folgt nur noch nacktes Bein. Liwas Waden sind erstaunlich trainiert; die Muskulatur tritt geradezu eckig hervor. Natürlich ist der Zipfelmützenmann im Omahemd barfuß. Das ist nur konsequent.

Einmal kniet er sich hin, um ein Gitarrensolo zu spielen, der Mützenzipfel rutscht ihm ins Gesicht, er sitzt gebeugt da, und im orangen Licht des Hafenklangsaals wirkt Liwa plötzlich wie ein Häftling auf Guantanamo Bay.

Man kann sich von alldem einfach nicht mehr frei machen, nie mehr.

12 November 2007

Cruise grinst Hitler weg

Gestern sahen wir im Kino den Trailer zum Film „Walküre“ über das Attentat auf Hitler vom Juli 1944. Hollywoodstar Tom Cruise spielt Claus Schenk Graf von Stauffenberg, also die Hauptrolle.

Eine kleine Sequenz aus diesem Trailer pflanzte mir den Stachel der Skepsis ins Hirn, und dort wird er bleiben bis nächsten Sommer, wenn „Walküre“ ins Kino kommt.

Sie geht so: Einer der Mitverschwörer spricht gegenüber Stauffenberg von der Todesgefahr, in der sie alle schweben, und Tom Cruise antwortet so was wie: „Wie werden dem Tod heute noch öfter begegnen.“ Das ginge ja vielleicht noch durch als üblicher Hollywoodsprech für pathetische Situationen, in denen die Furchtlosigkeit des Helden durchscheinen soll. Doch während Cruise das sagt, grinst er auf seine hundertfach erprobte Weise aasig sarkastisch, als wäre er ein Broker, der als nächstes die Chefsekretärin flachlegen will.

Weiter entfernt vom realen Stauffenberg können diese zwei Cruise-Sekunden einfach nicht sein, dafür umso näher am draufgängerischen Sonnyboy, der diesem schrägen Diktator jetzt mal zeigen will, was ’ne richtige Harke ist – let’s roll!

Oh Mann. Der Film wird bestimmt ganz, ganz furchtbar. Und für solche Cruise-Momente durften sie im Bendlerblock drehen.

Wahrscheinlich werden Ms. Columbo und ich uns „Walküre“ trotzdem ansehen. Aber nur, wenn parallel kein EM-Spiel läuft.

PS: Wer generell wissen will, was zurzeit im Kino sehenswert ist und was man tunlichst meiden muss, sollte sich donnerstags auf Gunnars brandneuem Kinoblog Orientierung holen. Selbst wenn er einen Film noch nicht gesehen hat: Eine Meinung dazu hat er immer, garantiert …

11 November 2007

Man trägt Damenhandtasche



In der Tankstelle am Spielbudenplatz stehe ich hinter einem älteren Herrn in der Schlange. Er trägt ein teures hellbraunes Lederjacket, dessen Farbe perfekt mit der seiner Haare harmoniert.

Auf den Tresen legt er aber nicht etwa die Financial Times Deutschland, sondern die Gala und die Bunte – und bezahlt den Kleckerbetrag mit einer goldenen American-Express-Karte. Erlebt man so etwas nur auf St. Pauli? Wahrscheinlich schon.

Genauso wie den etwa 65-jährigen Mann abends im Bus, der auf eine Weise adrett gekleidet ist, wie man es Mitte der 70er war oder Dustin Hofman in „Tod eines Handlungsreisenden“. Er brabbelt mit unstetem Blick vor sich hin, ohne dass es ihm peinlich wäre. Als wir uns der Haltestelle St. Pauli nähern, brüllt er plötzlich: „ST. PAULI! ST. PAULI!“

Auf dem Sitz neben ihm steht seine Damenhandtasche. Ms. Columbo und ich entwickeln auf dem Heimweg Theorien über diesen Mann. Dass er mit hoher Sicherheit allein lebt und sich dabei für ihn selbst unmerklich lautstarke Selbstgespräche angewöhnt hat, darüber herrscht Konsens. Nur nicht über die Damenhandtasche.

Ms. Columbo vermutet Geiz. Er streifte, so ihre These, durch Kaufhäuser und fand nur für Damenhandtaschen Grabbeltische, weshalb er sich für die leicht merkwüdige, aber preisgünstige Variante entschied.

Meine Theorie hingegen ist folgende: Die Handtasche ist in Wirklichkeit die seiner Frau, und die liegt bei ihm zu Hause in der Tiefkühltruhe.

Selbst Ms. Columbo muss meiner Theorie eine größere Interessantheit zugestehen.

Nach der Flut



Wenn die Elbe in die Stadt hineinströmt, dann strömen die Hamburger Richtung Elbe. Natürlich auch ich, Sturmflut kucken.

Am Fischmarkt war Land unter, dort zog man Autos aus den graugrünen Fluten. Oben am Pupasch hatte man Flutschutzmauern hochgezogen, man musste drübersteigen, um auf die Landungsbrücken zu gelangen.

Dort freilich sah alles aus wie immer; sie schwimmen ja, die Landungsbrücken, sie gehen seit eh und je auf und ab mit Ebbe und Flut, und man musste sich schon bewusst machen, dass man sich dreieinhalb Meter höher aufhielt als gewöhnlich, um dem Thrill der Sturmflut nachhängen zu können.

Doch wie hoch das Wasser auch stieg, wieviele Autos auch absoffen, wie durchweicht meine Turnschuhe auch waren nach dem Waten über den Fischmarktparkplatz: Die beschissene Gegenwart ist immer die gute alte Zeit von übermorgen.

Das war das Wort zum Sonntag.


10 November 2007

Nur keine Hemmungen



Tagtäglich verschlägt es mich berufsbedingt in die Zeisehallen, und ebenso oft streift mein Blick ein Gitterkonstrukt, welches hier als schwarzes Brett fungiert.

Die an dünnen Metallstreben befestigten Aushänge flattern und fleddern schon nach kurzer Zeit zerzaust vor sich hin. Es sei denn, sie sind ganz frisch, wie der abgebildete. Ein wirklich erstaunlicher Aushang. Sowohl sein Zielpublikum als auch die dahinter sich verbergende Lehre sind mir zwar völlig schleierhaft. Dennoch begann ich innerlich zu juchzen und zu jauchzen, und alles nur wegen des Textes zum Tryptichon.

Kein einziger Deppenbindestrich, trotz der prachtvoll entwickelten Komposita! Wo findet man das heutzutage noch? Ich erwog, meine Begeisterung in eine spontane Schüttelanwendung münden zu lassen, merkte aber, dass dies mit Hilfe einer Enthemmungsmusikrassel erheblich einfacher zu bewerkstelligen wäre. Doch ich hatte zufällig keine zur Hand.

Und der Obdachlose mit dem hygienisch bedenklichen Dreijahresbart, der immer hinterm Gitterzaun sitzt und mich täglich fragt, ob er mich malen dürfe, hatte nicht einmal ein geeignetes Ansprechpartnergesicht zu bieten. Im Gegenteil.

Noch Stunden danach beschäftigte mich der Zettel. Welche speziellen Hemmungen soll die Enthemmungsmusikrassel nach dem Willen des Zettelaufhängers überhaupt lösen? Eine Frage, die mich einfach nicht mehr loslässt.

09 November 2007

Sehen wir uns zum Buhen?

Am Samstagabend um 20.30 Uhr spielt mein Freund und sporadischer Bloggast Mark (r.) mit seiner komischen Musiziertruppe in der Prinzenbar. Das ist wohl so ähnlich gelaufen wie damals mit den Blues Brothers, nach dem Motto „Wir bringen die Band wieder zusammen“ oder so.

Vielleicht will Mark damit ja ebenfalls ein Waisenhaus retten. Denn obwohl der feine Herr in seinem Leben gefühlte tausendmal mit mir gemeinsam auf Gästelisten stand und sich auf diese Weise die größten Popstars der Welt für lau reingepfiffen hat, legt er bei seinem eigenen Gig keine Gästeliste aus, nicht mal die klitzekleinste, sondern der Mann will GELD. Mal wieder typisch.

Jedenfalls kostet der „Spaß“ empörende fünf Euro. Selbst ich muss zahlen. Dabei habe ich das zuletzt … Moment … 1995 bei Dave Edmunds in der Großen Freiheit gemusst. Aber ich tu’s, verdammt, weil es Mark ist und er bei mir ein eigenes Tag hat. Und nicht, weil die Band besser aussieht als die Chippendales.

Ihr müsst auch alle kommen – zum Buhen. Damit er mal sieht, wie das ist, der feine Herr Mark.


PS: Parallel dazu spielt Tish Hinojosa um 21 Uhr in Anna's Country & Western Saloon in Meiendorf. Da müssen wir natürlich auch alle hin. Hmm.

07 November 2007

Fundstücke (35)

1. Gestern lenkte ein wohlmeinender Kollege meine Aufmerksamkeit auf die Webseite von Martha Olschewski. Sie hat eine besondere Dienstleistung im Angebot, die sie auch hier auf dem Kiez in einem Ladenlokal offerieren könnte: das „Genitallesen“.

„Wie schon ihre Mutter“, erläutert die gebürtige Georgierin bereitwillig, „brachte meine Mutter mich mit 12 mit dem Genitallesen in Kontakt.“ Mit 12! Und mit Folgen: „Bis irgendwann eine gute Freundin mir vorschlug, das Genitallesen doch nebenberuflich auszuüben. Mir gefiel die Idee, und auch mein Mann meinte, dass es durchaus einen Versuch wert sei.“


Auch ihr Mann also. Heute ist die Olschewski, die wahrscheinlich mehr Schniedel in Händen hielt als Domenica und Dolly Buster zusammen, längst selbstständig. Sie liest Tausenden die Zukunft aus Pimmeln und Muschis, ob Einzelpersonen oder Unternehmen. Interessante Vorstellung übrigens: Die Firma Letzte Ruhe Bestattungs-GmbH geht geschlossen zum Genitallesen.

Jedenfalls hat Martha Olschewski eine echte Marktlücke entdeckt und geni(t)al besetzt: „Das Genitallesen“, eröffnet sie uns denn auch offen und ehrlich, „ist heute eine nur noch wenigen Menschen bekannte Technik.“

Ja, das ist eine ganz, ganz großartige Seite. Ich bitte nur darum, das Gästebuch nicht noch mehr zu versauen, als es eh schon ist. OKAY?

2. „Hundertmal werd ich’s euch sagen und tausendmal: Irrtum ist Irrtum! Ob ihn der größte Mann, ob ihn der kleinste beging.“ Sagt Friedrich Schiller. Leider hat er die Frauen vergessen.

3. „Das Internet ist so etwas wie eine offene Form der geschlossenen Anstalt. Auch von mir selbst weiß ich manchmal nicht so genau, ob ich nun Pflegekraft oder Patient bin. Aber ich bemühe mich wenigstens darum, mich nicht ganz offensichtlich wie ein Patient zu verhalten.“ Gefunden an der Blogbar.

4. „Man fühlt sich erdrückt von einer um sich greifenden öffentlichen Dummheit, der man kein korrektes Urteil in den elementarsten Dingen zutrauen kann.“ Hannah Arendt nach ihrem Besuch in Deutschland 1949 – übrigens das Jahr, in dem Martha Olschewski geboren wurde.

Nur ein Bier, BITTE!

Vorm Tätowierladen in der Barner Straße, den die meisten Leute, die ich kenne, seit einiger Zeit „Tättushobb“ nennen, steht ein großer Hund vor der Tür und schaut sehnsüchtig hinein.

Hunde haben einen fantastischen Geruchssinn, vielleicht riecht er Blut. Das Blut all der lustvoll gepeinigten Masochisten, die Kunden sind im Tättushobb. Oder er beobachtet sein Frauchen, das an der Theke lehnt und wahrscheinlich gerade die Modalitäten eines Arschgeweihs bespricht.

Egal, mein Bus kommt, die Sache bleibt ungeklärt. Abends beim Konzert von Lucinda Williams (Foto) in der Fabrik schleiche ich mich zwischendurch raus, um in der Pizzeria nebenan kurz die Zwischenergebnisse der Champions-League-Spiele zu erfahren. Pro Forma bestelle ich ein Bier. Doch der Ober lehnt ab: „Wir sind keine Bar.“

Zehn Minuten, barme ich, nur zehn lächerliche Minuten, dann sind die Spiele zu Ende und ich verschwinde wieder und lasse die deutschitalienische Gastronomie in Ruhe mit meinen empörenden Konsumwünschen.

Er ist gnädig, räumt aber mit deutlicher Muffigkeit die gewaltige kreidebeschriftete Tafel wieder ab, die er wie einen stummen Vorwurf auf den Stuhl gegenüber gestellt hatte. Nach dem Abpfiff gebe ich trotzdem 50 Cent Trinkgeld, aber ich hasse mich dafür.

Soviel Selbstachtung muss sein.