25 August 2024

Cat ohne Power

Vorab: Sich im großen Saal der Elbphilharmonie aufhalten zu dürfen, ist immer ein Genuss für sich. Die augenschmeichelnde Architektur, das wohlig warme Dämmerlicht: All das tut dem Gemüt gut, ganz unabhängig davon, wer oder was tief dort unten – wir saßen unterm Dach auf Ebene sechzehn – die Rundbühne bevölkert. Selbst wenn es die amerikanische Sängerin Cat Power ist.

Von ihrer grundsätzlich bezirzenden Idee, Bob Dylans berühmtes 1966er-„Royal Albert Hall“-Konzert (das in Wahrheit in der Free Trade Hall in Manchester stattfand) eins zu eins nachzuspielen, hatte ich mir als passionierter Dylanologe natürlich einiges versprochen – es allerdings vorab verabsäumt, Frau Power davon auch in Kenntnis zu setzen.

Das Problem der an diesem Abend geradezu Liza-Minnelli-haft zu- und hergerichteten Amerikanerin: Sie verfügt zwar über ein ansprechendes Timbre, kann aber – so hart muss man es sagen – nicht singen, zumindest nicht live. Und so leid es mir tut: Einen Ton nicht zu treffen, bedeutet noch lange keine gelungene Neuinterpretation.

Der Lagerfeuerklampfer, der sie in der ersten – akustischen – Konzerthälfte aufs banalste begleitete, verstärkte den Eindruck einer künstlerisch höchst dürftigen Darbietung, deren herausragendes Feature die Langeweile war. In der zweiten Hälfte wurde das Ganze, analog zur Vorlage, dann zum Rockkonzert. An Cat Powers größtem Talent, nicht singen zu können, änderte das freilich wenig, wodurch wir uns ermuntert sahen, in aller Ruhe das Weite zu suchen, also St. Pauli. 

Doch was soll’s: Wir hatten uns im großen Saal der Elbphilharmonie aufhalten dürfen, und selbst wenn dort unten auf der Rundbühne eine frisch bemalte Leinwand gestanden hätte, der wir beim Trocknen zugesehen hätten: Es wäre ein Genuss für sich gewesen.

Aber schade um die schönen Songs war’s schon.




06 August 2024

Der Streetworker von St. Pauli


Das auf dem Foto ist Herr H. Dass er so heißt, habe ich von einem Nachbarn erfahren. Anscheinend hat Herr H. zu Hause keinen Raum, den er als Arbeitsplatz nutzen kann. Deshalb macht er Streetoffice. Herr H. ergreift dazu Stuhl und Laptop, betritt den Kiez, setzt sich auf den Gehweg und arbeitet. Ganz gerne wüsste ich schon, an was. Aber bisher habe ich eine gewisse Scheu, Herrn H. danach zu fragen.

Manchmal errichtet Herr H. sein Streetoffice auch nicht auf dem Gehweg, sondern direkt auf der Straße. Dass dieser Anblick auf herannahende Autofahrer irritierend wirken könnte, kümmert Herrn H. keineswegs. Schließlich sind sämtliche Fahrzeuge mit Lenkrädern ausgestattet und somit in der Lage, mit wenig Aufwand einen Bogen um ihn herum zu fahren. Wenn sie das nicht in der Fahrschule gelernt haben, was dann.

Übrigens habe ich noch nie einen Autofahrer gesehen, der sich über Herrn H.s auf der Fahrbahn errichtetes Streetoffice echauffiert hätte. Man hört ja sonst so allerhand, wie es zugehen soll vor Ampeln und auf Autobahnen. Geschrei, Gepöbel, justiziable Eigenschaftszuschreibungen: All das scheint in Deutschland gar nicht selten vorzukommen. Doch nicht in Gegenwart von Herrn H. Man umkurvt ihn offenkundig verständnisvoll und deshalb kommentarlos. Was er als selbstverständlich hinnimmt.

Nein, Herr H. lässt sich bei dem, was immer er dort tut, nicht stören. Man kann sogar sagen, dass die resiliente Konzentration, mit der Herr H. sein Streetoffice-Pensum abarbeitet, bewundernswert ist. Nichts bringt ihn aus der Ruhe.

Herr H. richtet seinen Stuhl immer nach Westen aus. Zwar scheint ihm dann die Sonne mitten ins Gesicht, doch wenigstens nicht aufs Laptopdisplay. Das könnte schließlich bei der Arbeit stören, eventuell sogar die Qualität der Ergebnisse beeinträchtigen. Deshalb vermutlich nach Westen. Manchmal denke ich, dass Herrn H. eine Schirmmütze guttäte, aber wer bin ich, seine selbst geschaffenen Rahmenbedingungen infrage zu stellen.

Herr H. ist mir bisher ein Mysterium. Steht er vielleicht in der Tradition von Melvilles Schreiber Bartleby? Welche biografischen Wendungen und Winkelzüge führten zu seinem stoischen Dasein als Streetworker im wortwörtlichen Sinn?

Vielleicht überwinde ich demnächst meine Scheu und frage ihn einmal. Dann mehr an dieser Stelle.