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27 Oktober 2021

Unter Corona (15): Beim IQ-Test durchgefallen

O Blog, welch eine Brache! Aber es ist ja auch nix los auf St. Pauli. Abgesehen vom inzwischen längst wieder verhallten Lärm der schwarz gekleideten Rostocker Fußballfans vom vergangenen Wochenende.

Deren Intelligenzquotient war nicht nur ablesbar an der rhetorisch feinziselierten und choral vorgetragenen Kritik, die sie an ihrem Zweitligagegner übten („Scheiß-St.-Pauli!“), sondern auch an der Tatsache, dass sie ohne Eintrittskarten angereist waren. Ihr Verein nämlich, der FC Hansa Rostock, hatte das komplette Gästekartenkontingent zurückgegeben, und zwar aus Protest gegen die Unzumutbarkeit der 2-G-Regel, die der FC St. Pauli als Einlassvoraussetzung erlassen hatte.

Ich meine: Da fährst du los in Rostock in dem vollen Bewusstsein, dass du 150 Kilometer weiter in Hamburg mit Ansage gewaltigen Frust schieben wirst, weil du nicht ins Stadion darfst. Das weißt du vorher, und du weißt auch, dass dir dann nichts anderes übrig bleiben wird, als polizeieskortiert durch die Kiezstraßen zu ziehen und hilflos „Scheiß-St.-Pauli!“ zu brüllen.

Was treibt solche Leute an? Wie muss man sich ihre Prioritätensetzung im Leben vorstellen? Wen konnten sie mit ihrem überschaubaren Liebreiz zu einer romantischen Beziehung überreden? Wer nennt sie Schatz oder Papa?

Nein, das Universum hat es wirklich nicht leicht mit uns Menschen. Das gilt auch im Hinblick auf Corona. Diese Pandemie kommt mir immer mehr vor wie ein groß angelegter Intelligenztest. Und leider bestehen ihn manche nicht. Sie fallen sogar krachend durch, manchmal sogar mit letalen Folgen.

Ob diesbezüglich die Rostocker Fußballfans vom Wochenende beim Pandemie-IQ-Test im oberen Drittel abschneiden, wage ich zu bezweifeln. Masken habe ich jedenfalls keine gesehen in diesem dicht gepackten Block von ungefähr 200 Chorsängern. Aber wenn ihr eigener Verein gleichsam offiziell gegen eine Maßnahme zur Pandemieeindämmung protestiert, kann man es ihnen vielleicht nicht mal übelnehmen.

Jetzt sind sie jedenfalls wieder weg, zurück in Rostock. Dank der Fahrtkosten etwas ärmer, aber um keinerlei Erlebnis reicher. Mit Ansage.

O IQ, welch eine Brache!



13 Juni 2021

Unter Corona (14): Die Rückkehr des Bösen

Seit Monaten pinkelte, kotzte und kackte uns niemand mehr in den Hauseingang, und samstagsmorgens, wenn ich zum Brötchenholen aufbrach, musste ich von dort auch keine Junkies mehr verscheuchen. Ehrlich gesagt: Nicht alles war schlecht am Lockdown. So sorgte er zum Beispiel auch für einen spürbaren Krakeelerschwund.

Natürlich, diese jeglicher Außenwirkungskontrolle abholden Herumbrüller waren auch vor Corona auf St. Pauli nicht endemisch, doch sie empfanden unser Viertel als natürliches Habitat und prägten durchaus das hiesige Biotop. Vor allem durch die kiezspezifisch beständige Zufuhr von Alkoholika vermochten die Krakeeler St. Pauli akustisch mit großem Erfolg in Beschlag zu nehmen. Demzufolge war ihr Besatz im Viertel vor Corona enorm.

Doch nachdem hier alles schließen musste, sank der Krakeeleranteil signifikant. Dem verbliebenen Restbestand erwuchs allerdings ein Killerfeature, welches den zahlenmäßigen Schwund mehr als auszugleichen in der Lage war. War die von ihnen ausgehende Belästigung bisher ausschließlich sonischer Natur, so wurden diese Leute im Zuge der Krise nun auch zu hoch effizienten Aerosolemittenten. Zwar war das auch vorher schon der Fall, aber auch ziemlich egal, da ihre eruptiven Speichelwölkchen coronafrei waren. Nun hatte dieses Phänomen seine Unschuld verloren. Wir hielten in den Monaten der Einschränkungen also noch mehr Abstand zu den Restvorkommen dieser Spezies als eh schon.

Jetzt, seit den Lockerungen, ist im Grunde alles wie vorher: Enthemmte Teilnehmerinnen von Junggesellinnenabschieden torkeln wieder Lieder kreischend durch die Straßen, ohne sich im Geringsten um Ton- und Textsicherheit zu scheren, Horden junger Betrunkener versuchen sich selbst auf Kurzdistanz so zu verständigen, als wären ihren Saufkumpanen die Hörgeräte abgestürzt, und die Rückkehr der Harleyhirnis führt uns vor Ohren, welch erstaunlich unterstützende Wirkung 120 Dezibel auf unsere Mordlust haben.

Doch nicht nur der Lärmpegel nähert sich hier wieder seiner Vor-Corona-Infernalität. Vor unserer Haustür liegt auch sonntagsmorgens wieder das übliche Junkiebesteck (Foto), und beim Kiezbäcker hörte man wieder Dialoge wie folgenden (absolut authentisch, ich schwör): „Digger, machst du mir ’n Brötchen mit Pute klar? Und ’ne Capri-Sonne? Und 'n Eistee, Digger!"

Lockdown, wo bist du, wenn man dich mal braucht?




31 Dezember 2020

Der 16. offene Brief zu Silvester (Corona-Edition)

Liebe Anwärter auf den Darwin-Award,

nachdem ich seit nunmehr fünfzehn langen Jahren jeweils zum Jahresende an Sie appelliere, doch bitte auf das Wegsprengen Ihrer Gliedmaßen zu verzichten und es nie auch nur ein klitzekleines Bisschen was nutzte; nachdem sogar meine späte Erkenntnis, dass dieser Appell fünfzehn niederschmetternde Jahre lang ein Kontraindikator war, Sie sich also umso trotziger Arme, Beine, Augen, Ohren und Schniedel wegsprengten, je eindringlicher ich Sie bat, das doch am besten zu unterlassen, und ich Sie aus diesem Grunde im vergangenen Jahr erstmals sogar ausdrücklich genau dazu ermunterte, um – so die wilde Hoffnung – damit zum Kontrakontraindikator zu werden (Effekt: null); nach all diesem fruchtlosen Machen und Tun meinerseits hat nun endlich die Bundesregierung höchstselbst das Verfahren an sich gezogen.

Nach dem Studium aller Silvestereinträge dieses Blogs seit 2005 rang sich das Kabinett – dank eines eindringlichen Vortrags des gebenedeiten Gesundheitsministers – einstimmig dazu durch, Ihnen, den störrischen Holzköpfen mit zurzeit noch allen Gliedmaßen, einfach die Grundlage Ihres hirnrissigen Tuns zu entziehen und den Verkauf und Gebrauch von Böllern und Ähnlichem zu verbieten.

Natürlich kann jemand wie die Regierung schlecht zugeben, dieses Verbot nur aufgrund der Lektüre meiner fünfzehn Silvesterappelle verhängt zu haben. Deshalb führt sie ersatzweise und der Einfachheit halber den wohlfeilsten aller diesjährigen Gründe dafür an: Corona!

Nun, ich, der ich als zweiten Vornamen Bescheidenheit im Pass stehen habe und als dritten Demut, verzichte gern auf solche Meriten oder gar das Bundesverdienstkreuz; darauf warte ich gern noch ein paar Jahre, wenn der Staub sich gelegt hat. 

Nein, mir geht es ausschließlich um die Sache, nämlich den Fortbestand Ihrer Extremitäten, ob oben, unten oder in der Mitte. Sollte es Sie also wirklich auch dieses Jahr wieder zerfetzen, dann weiß ich echt nicht mehr.

Es grüßen Sie jedenfalls hoffnungsfroh bang

Matt und Jens

Foto: Gruppe anschlaege.de




15 Dezember 2020

Unter Corona (13)


Solange der Sarkasmus lebt, ist noch nicht alles verloren.
Entdeckt in der Annenstraße.

16 Oktober 2020

Unter Corona (11): Prügeln nur noch mit Maske

In den vergangenen Wochen hatte man hier auf dem Kiez das Gefühl, als wäre nichts passiert und alles längst wieder beim Alten. 

Wenn ich Samstag früh auf dem Weg zum Bäcker wie üblich kurz vor neun auf dem Rad über den Hamburger Berg husche, tummelt sich dort längst wieder das kiezübliche Personal: in ihrer Kotze dahindämmernde Schnapsleichen, tätowierte Rumpöbler, rauchende Drallheiten mit Laufmaschen in den Strümpfen, obdachlose Krakeeler, einhertaumelnde Junkies mit verfilzten Haaren und imaginären Gesprächspartnern – und mittendrin in dieser postapokalyptischen Szenerie, gegen die das „Blade Runner“-Setting wie ein liebreizender Freizeitpark wirkt, versuchen mühsam sich am Riemen reißende Polizisten in Reflektorwesten irgendwie zu verhindern, dass alles endgültig aus dem Ruder läuft. 

Also alles so wie vor Corona. 

Nun aber muss dieses elende Ensemble der Gescheiterten – denn mal ehrlich: Wer verbringt schon die ganze verdammte Nacht ausgerechnet auf dem Hamburger Berg außer Leuten, die jede Restkontrolle über ihr Leben verloren haben? –, nun also muss dieses elende Ensemble der Gescheiterten plötzlich damit zurechtkommen, zwischen Freitagabend um 18 Uhr und Sonntag früh um vier seinen trübseligen Vergnügungen auch draußen (vgl. die Karte oben) nur noch maskiert nachgehen zu dürfen. Und auch der Spritnachschub, der dafür sorgen könnte, dass die Lage viertelwegs erträglicher würde, ist nicht unbedingt garantiert. 

Zu welchen Verwerfungen um Kalle Schwensens willen wird diese neue Verordnung führen, hier in der Postapokalypse auf dem Hamburger Berg? Nun, ich nehme an, bestenfalls dazu, dass die Testosterontrottel sich weiterhin die Nasen zerdeppern, aber dank der Masken nicht mehr sagen können, ob die Trümmer darunter zu einer Hackfresse gehören oder nicht. Das wäre, wie gesagt, die positive Variante.

An diesem Wochenende werde ich mir das mal en passant anschauen – und neue Erkenntnisse natürlich gern mit Ihnen teilen, Ehrensache.



08 Juli 2020

Unter Corona (9): If 16 was 19

Am Sonntag hatten wir in Herborn noch eine Dreiviertelstunde Zeit, bis unser Zug abfuhr, und die verbrachten wir im kulinarisch empfehlenswerten Café Zarnitz, nur wenige Schritte entfernt vom Bahnhof. 

Als man uns die Rechnung über die beiden konsumierten Espressi überreichte, fiel mir ein Detail ins Auge: Der Bon wies 19 Prozent Mehrwertsteuer aus – obwohl doch am 1. Juli der Satz auf 16 Prozent abgesenkt worden war, um unsere durch Corona geschrumpfte Konsumbereitschaft zu befeuern. Doch hier im Café Zarnitz schien man davon nichts wissen zu wollen – und machte auch keinerlei Hehl daraus; der Kassenzettel gab sich da entwaffnend offen. 

Keineswegs aus Knauserigkeit, sondern aus purer Neugier ging ich zum Chef und sprach ihn auf diesen Umstand an. Warum also weiterhin 19 statt – wie es die aktuelle Gesetzeslage erforderte – nur noch 16 Prozent? Der Zarnitz-Chef gab bereitwillig Auskunft: Wegen dieser sieben oder acht Cent, erklärte er, würde er doch nicht die Kasse umrüsten; das käme ihn viel zu teuer.

Aha. Die Sache, fand ich, begann interessant zu werden. Aber wie, wollte ich weiter wissen, regele er das denn mit dem Finanzamt? Nun, jeden Abend, erläuterte der Chef freimütig, setze er sich ans Kassenbuch und verwandele die 19 in 16 und die sieben in fünf Prozent. Dann stimme alles wieder. „Aber Ihre Kunden“, wandte ich ein und meinte damit auch mich und Ms. Columbo, „haben doch 19 und sieben Prozent bezahlt …?“ Er lächelte säuerlich und zuckte wortlos mit den Schultern. 

Ich bedankte mich herzlich für seine offenen Worte und verabschiedete mich. Doch dieses kleine Erlebnis hallte noch eine Weile nach. Das tut es immer noch. So wüsste ich zum Beispiel gern, was unser Finanzminister von diesem kreativen – man könnte auch sagen: kontraproduktiven – Umgang mit seiner Rezessionsbekämpfungsmaßnahme hielte. Hoffentlich liest Olaf Scholz diesen Blogeintrag und nutzt die Kommentarfunktion. 

Leider vergaß ich, testweise das Bezahlen unserer Espressirechnung zu verweigern mit den Worten „Wegen der vier Euro hole ich meine Girokarte nicht aus der Tasche, das wäre mir viel zu aufwendig“. Die Reaktion des kontrakreativen Zarnitz-Chefs hätte mich schon interessiert.

Sollte ich diesen Reaktionstest demnächst in Hamburg mit einem hiesigen Probanden nachholen, werde ich Sie in Echtzeit informieren. Bei Bons jedenfalls lese ich ab jetzt immer das Kleingedruckte.






07 Juni 2020

Unter Corona (8)

Der Musikclub Hafenklang destilliert das Beste aus der Krise, nämlich Sarkasmus. 

Eine Tür weiter interpretiert er zudem das klassische SOS neu: als „Save our sounds“. 

Entdeckt in der Großen Elbstraße.



24 Mai 2020

Unter Corona (7): Minus eins

Der Kiez kehrt allmählich zur Normalität zurück. Zwar sind die Kneipen, Bars und Puffs noch dicht. Doch das hinderte heute früh in der Silbersackstraße ein paar testosteronbesoffene Hitz- und Hohlköpfe nicht daran, sich vorm Haus neben dem Kiezbäcker aufs Maul zu hauen. 

Endlich wieder blutige Nasen! Wie hab ich das vermisst. 

Mittags spazierten wir durch die Taubenstraße und begegneten einem weiteren kiezspezifischen Phänotyp, der zuletzt von den Straßen des Viertels verschwunden war: dem schallstark streitenden Paar. 

„Du denkst nie an mich!“, schrie sie ihn an. „Total null! MINUS EINS!“ Wir zogen innerlich die Hüte vor dieser schön eskalierend aufgebauten Beschimpfung. Und er wohl auch, denn ihm fiel verständlicherweise kein einziges Widerwörtchen ein.

Wenn uns jetzt noch jemand in den Hausflur kackt, dann haben wir unser altes Leben zurück. 


04 Mai 2020

Unter Corona (6): Die Große Freiheit ist kaputt


Die Große Freiheit, wo sonst sehnige Dollhouse-Damen an Stangen herumrutschen oder Olivia Jones (rechts im Bild) Travestiekünstler auf die Bühne schickt, die alle aussehen wie Olivia-Jones-Klone (weshalb das Foto eventuell auch einen dieser Klone und nicht Olivia Jones zeigen könnte), diese Große Freiheit sieht im Moment alles andere als amüsierviertelkompatibel aus. 

Denn die Straße ist auf ganzer Strecke eine einzige offene Wunde, sämtliche Gehwege sind aufgerissen, von vorne bis hinten. Herrschte jetzt der ganz normale Touristenstromwahnsinn, wie er hier außerhalb von Pandemien alltäglich und -nächtlich ist, dann wäre dieses Bauprojekt nichts weniger als die städtebauliche Variante einer OP am offenen Herzen. 

So aber muss man sagen: perfektes Timing, liebes Straßenbauamt – besser kann man die Coronapause im Rotlichtviertel nicht nutzen.


23 April 2020

Unter Corona (5): Die Herbertstraße hat den Blues


Nicht nur Restaurants, Bars, Fitnessclubs und Frisörläden haben zu, sondern auch Puffs. Für St. Pauli natürlich ein besonders schmerzlicher Zustand. Zu den Hauptbetroffenen gehört eine stadtteilspezifische Institution mit weltweiter Bekanntheit: die Herbertstraße. Wobei sie natürlich nicht zugesperrt ist – wie auch, sie ist schließlich keine private, sondern eine öffentliche Straße. 

Allerdings ist sie zurzeit völlig verwaist, die hundert Meter lange Pflasterstraße hat den Blues. Ein beispielloses Elend, das unbedingt dokumentiert und somit verewigt gehört. Deshalb ging ich gestern bei schönstem Frühlingswetter dort vorbei. 

Einen Fotoapparat zu zücken gehört in der Herbertstraße normalerweise zu den tödlichsten aller Todsünden, und wer das in der Vergangenheit wagte, bekam sofort Riesenärger mit loszeternden Huren, aber alsbald auch mit deren Luden, und vor allem Letzteres ist – wie ich mir von gewöhnlich gut informierten Kreisen habe erzählen lassen – ganz und gar nicht zu empfehlen. Da bleibt es selten beim Zetern, nein, da fällt blitzschnell Elektroschrott an und manch ein Schneidezahn aus, und melden Sie dieses Ungemach mal auf der benachbarten Davidwache – die Kollegen dort hegen mehr Sympathie für hurenrächende Luden als für Fotospanner wie Sie, versprochen.

Jedenfalls wirkte die Ruhe in der Herbertstraße geradezu meditativ. In den Schaufenstern, wo sonst die bestens drapierten Damen Modalitäten verhandeln, liegen nur noch ihre Handtücher auf depressiven Drehstühlen herum. Immerhin wirkt das Interieur allzeit bereit; man hat den Eindruck, als wäre es binnen Minuten reaktivierbar. Und wer weiß, vielleicht wird das auch bald schon nötig sein. Denn warum sollten Frisöre wieder öffnen dürfen, aber die Herbertstraße nicht? Körperkontakt ist Körperkontakt.

Wenn Sie, liebe Leserinnen, also eine Zone, die für Sie außerhalb von Pandemien generell tabu ist, einmal unbehelligt inspizieren wollen, so tun Sie das am besten bald. Und wenn es nur zum Meditieren ist, mitten in der Stadt.






21 April 2020

Unter Corona (4): Vom Ausmisten

Seit die Pandemie Besitz ergriffen hat von der Welt, ist vieles anders, nicht nur im Großen, auch im Kleinen. Wenn man durch das gelähmte Hamburg läuft, fällt zum Beispiel auf, wie viel zu Verschenkendes plötzlich die Gehwege verziert. Anscheinend kommen die Menschen vor lauter Lockdownlangeweile endlich einmal dazu, die Bestände zu sichten. 

Vor allem Bücherkisten stehen draußen herum, heute sah ich zudem zwei Paar Damenschuhe sowie CDs und Handyschutzhüllen. Allerdings gibt es bisher keine Hinweise darauf, dass irgendetwas davon auch nur einen der rar gesäten Passanten interessiert. Ausnahme: eine Pappschachtel mit (natürlich noch verschlossenen) Chipstüten, die am Wochenende bei uns im Treppenhaus stand. Keine zwei Stunden später war sie leer – und das sogar ohne unsere Mithilfe. Wir sind eher chipsophob.

Eine zweite Auffälligkeit betrifft einen erheblich unappetitlicheren Sachverhalt: Überall in der Stadt tauchen plötzlich Hotspots eingetrockneter Vogelkacke auf. Beide, Mensch und Tier, scheinen in der Not also auszumisten. Das Guanophänomen läuft allerdings aufs Merkwürdigste einer hier in Hamburg gerade breit diskutierten Entwicklung zuwider, nämlich der unter den Tauben grassierenden Hungersnot. 

Seit die vom Lockdown zum Konsumverzicht verdonnerten Menschen mangels Gelegenheit weniger Müll unsachgemäß entsorgen, müssen die armen Vögel darben. Wie sie es aber schaffen, im Gegenzug die Produktion von Exkrementen mächtig anzukurbeln, dürfen uns gern die Ornithologen erklären. Oder noch besser die Physiker, denen dieser aufregende Fall eines taubeninduzierten Perpetuum mobile – man steckt oben weniger rein, bekommt hinten aber mehr raus – sicherlich viel zu forschen aufgibt. Vielleicht liefern uns diese seltsamen Vögel damit sogar die Lösung aller künftigen Energieprobleme?

Die heute Nachmittag auf dem Heiligengeistfeld herumstaksenden Tauben schien das Dramatische ihrer Situation indes kaum zu kümmern. Es wurde fröhlich herumgebalzt, man umtänzelte und bestieg sich munter; ja, diese vögelnden Vögel taten ganz so, als gäbe es doch ein Morgen. Ein tröstlicher Gedanke, der augenblicklich meinen Tag erhellte. 




05 April 2020

Unter Corona (3): Nur die Dealer arbeiten noch

Hamburg – und damit natürlich auch St. Pauli – ist zurzeit komplett touristenfrei. Der im vergangenen Juni an dieser Stelle dokumentierte feuchte Traum aller Gentrifzierungsgegner wurde also schneller wahr als gedacht. Wenn auch aus ganz anderen Gründen.

Die Stadt liegt leise und leer in der Frühlingssonne. Ein böiger Ostwind fegt um die Ecken. Wenn man lange Spaziergänge macht – zum Beispiel vom Jenischpark im Westen, wohin man in einem leeren Bus der Linie 111 fuhr, zurück nach St. Pauli –, sollte man nicht zu viel getrunken haben und auch unterwegs nichts nachgießen, denn neben der Gastronomie sind auch die öffentlichen Toiletten geschlossen. Wir bewältigten die Herausforderung mit Bravour, aber knapp. 

Unter den wenigen, die ihr Geschäft nicht geschlossen haben, sind die üblichen afrikanischen Dealer an der Balduintreppe. Sie stehen dort zu viert im Karree. Zwischen ihnen klafft der behördlich angeordnete Mindestabstand von mehreren Metern, sodass wir als Spaziergänger sogar hindurchlaufen können, ohne gesetzesbrüchig zu werden. Man möchte den Herren danke sagen für ihre Einsicht in die Notwendigkeit. Wie es allerdings aussähe, wenn sie gerade ein Geschäft abwickelten, also Geld entgegennähmen und dafür Ware rüberreichen müssten, das können wir nicht sagen; denn als wir vorüberliefen, herrschte dealtechnisch gerade Ebbe.

In der Bernhard-Nocht-Straße hing ein Plakat mit der Aufschrift: „Wer hamstert ist zu faul zum Plündern“, und wie fast immer ist unabhängig von der getroffenen Aussage schärfstens zu monieren, dass sie kontaminiert wird von einem kapitalen Rechtschreibfehler, hier ein abwesendes Komma. Warum haben jene mit Botschaften so selten die Fähigkeit, sie auch korrekt auszudrücken? Gibt es da vielleicht sogar einen Zusammenhang? 

Jedenfalls werden Korrektoren und Lektoren weiterhin gebraucht, auf allen Ebenen. Was mir die Gelegenheit gibt, noch einmal freundlich auf meinen Blogeintrag vom 15. Januar hinzuweisen. 




21 März 2020

Unter Corona (2): Des Virus nützliche Idioten

Was nützt einem in diesen Zeiten schon der brav eingehaltene Zweimeterabstand zu entgegenkommenden Spaziergängern, wenn keuchende, schwitzende, tropfende Jogger regelmäßig diese Lücke nutzen, um hindurchzulaufen? Heute Vormittag in Planten un Blomen (Foto) passierte uns das mehrfach. 

Außerdem rannte eine Läuferin mit Kopfhörern derart nah an mir vorbei, dass es beinahe zur Kollision gekommen wäre. Aber wahrscheinlich dachte sie, dass Anrempeln ja gar kein Übertragungsweg sein kann, weil der Virologe Drosten das in seinem Podcast noch nie erwähnt hat (sofern sie je von Drosten oder diesem komischen Virus, das heißt wie ein Bier, gehört hat). Und für das Trio russischer Jungs, das uns wenig später frohgemut palavernd überholte, war Social Distancing auch eher ein sehr fremdes Fremdwort.

Warum ich das alles erwähne: weil es erklären soll, warum ich die Wirksamkeit der offiziellen Appelle und Aufrufe, die uns davon abhalten sollen, zu Virenschleudern zu werden, eher skeptisch betrachte. Die Scheißegalhaltung vieler Mitbürger wird uns nicht nur mehr Infizierte, mehr Schwerkranke und letztlich mehr Todesopfer einbrocken, sie wird uns in Bälde auch einige bürgerliche Freiheiten kosten – und leider auch viele gute Argumente dagegen. Oder hat wenigstens die FDP noch ein paar überzeugende in petto? Ich zweifle.

Ab Montag dürften demzufolge verschärfte Ausgangsbeschränkungen in Kraft treten, die auch unsere tägliche Runde durch Planten un Blomen – den ausgedehnten Park, der vom Millerntorplatz auf St. Pauli bis zum Messegelände mitten durch die Stadt mäandert – ernsthaft gefährden könnte.

Zum Glück ist unsere Wohnung vom einen bis zum anderen Ende fünfzehn Meter lang. Wir müssten sie nur vierhundertmal ablaufen, und schon hätten wir einen ausgefallenen Spaziergang durch Planten un Blomen kompensiert. Und das sogar bei besserer Musik!



18 März 2020

Fundstücke (243)


Gut, St. Paulianer wählen zwar keine Rechten, aber ansonsten sind wir wohl auch nur ganz normale Durchschnittsdeutsche. Entdeckt bei Edeka, Paul-Roosen-Straße.

16 März 2020

Unter Corona (1): Von okay auf null


Am Samstag waren wir morgens noch mal im Fitnessclub und abends mit Freunden im Portugiesenviertel essen, am Sonntagvormittag huschten wir noch mal ins Kino („Bombshell“) und lustwandelten danach durch Planten un Blomen, wo unbeeindruckt Krokusse blühen und der Bärlauch die ersten zarten Spitzen reckt – und ab sofort ist das alles, das öffentliche Machen und Tun, auf unabsehbare Zeit vorbei. 

Hier auf dem Kiez sind die Nächte gespenstisch still geworden, es ist schlimmer als an Karfreitag, an der Davidstraße steht nicht eine Hure mehr. Und über den Dächern der Reeperbahn schimmern Dutzende Sterne mehr als sonst, weil der heruntergedimmte Hafen weniger Lichtsmog gen Himmel schickt. Unser aller CO2-Bilanz wird gezwungenermaßen fantastisch ausfallen dieses Jahr.

Weniger fantastisch hingegen sind die Aussichten vieler Selbstständiger, und davon haben wir einige im Freundes- und Bekanntenkreis. Katha zum Beispiel ist freie Fitnesstrainerin. Die Verfügung des Hamburger Senats, ab sofort stadtweit alle Fitnessclubs dichtzumachen, ist so logisch wie notwendig, nur bricht für Katha damit von einem Tag auf den anderen das komplette Einkommen weg. Von okay auf null. Wie lange sie nun von ihren Reserven leben muss und wie lange die reichen werden, weiß niemand. 

Und die selbstständige Profifotografin Anne, bisher gut ausgelastet nicht nur mit Porträt- und Hochzeitsfotografie, sah in den vergangenen Tagen von jetzt auf gleich sämtliche Aufträge der nächsten Wochen wegbrechen. Was tun zur Überbrückung? Auf ihrer Webseite ihren Bilderkatalog zum Kauf anbieten, um in der nächsten Zeit halbwegs über die Runden zu kommen. 

Annes Selfie, das diesen Blogeintrag illustriert, gehört natürlich auch zum dort angebotenen Portfolio – und soll zum einen zeigen, mit welcher Künstlerin es potenzielle Bildkäufer überhaupt zu tun haben, und zum anderen, was die Frau fotografisch und gestalterisch und als Model so drauf hat. Wer sich auf ihrer Seite umschauen und sich über die Modalitäten ihres Katalogverkaufs informieren möchte, klicke gern auf diesen Link.

Und ansonsten gilt auch unter Corona das, was der Slampoet Rainer Maria Rilke schon 1902 so ähnlich in Verse goss: „Wer jetzt kein Netflix hat, braucht es umso mehr.“ 

Foto: Anne Hufnagl