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04 August 2023

Mein erstes und letztes Interview mit Lemmy Kilmister

In Wacken wollen sie jetzt einen Teil seiner Asche endlagern, denn Lemmy ist für das Festival so etwas wie ein Säulenheiliger. Und als ich das lese, fällt mir auf, dass der große wilde Mann noch gar nicht in meiner oben genannten In-memoriam-Serie auftaucht – eine Lücke, die zum Glück leicht zu schließen ist. Hier also ein Rückblick auf mein Lemmy-Treffen aus dem letzten Jahrtausend. Damals war er 50. Tempi passati …

Lemmy beäugt die mitgebrachte Ausgabe der Zeitschrift kulturnews mit einer gewissen Skepsis. „Kultur?”, krächzt er, „if I hear kultur, I pull my gun.“ Trotz des imposanten Patronengürtels, der einen Teil seines überlappenden Bauchs stabilisiert, fühle ich den Drang, Lemmys Meinung zu korrigieren.

„Ähm, Lemmy“, sage ich vorsichtig, „du bist doch ein Teil davon … irgendwie.“

Lemmy wirft zwei Eiswürfel in seinen Jack Daniel’s, den er in einem für die Brause ungünstigen Verhältnis mit Cola verdünnt hat, und zieht an der Kippe. „Yeah“, sagt er, „irgendwie.“

Nach über einem Vierteljahrhundert Metalshouting für Hawkwind und Motörhead ist seine Stimme zu etwas geschrumpft, das klingt, als rutschte ein Schlitten über Sandpapier – der Preis des Ruhms. Würde man den Lemmy von heute Nachmittag schockfrosten und in einem Hard Rock Café aufstellen, empörten sich die Gäste gewiss über die geballte Ladung Metalklischees, mit der das Denkmal ausstaffiert ist: aufgeknöpftes schwarzes Hemd mit hochgerollten Ärmeln, Kette mit eisernem Kreuz um den Hals, Tattoos an den Armen („Born to lose / Live to win“), pferdeaugengroße Totenkopfringe an den Pranken, eine zu enge Hose mit Schlag und dazu weiße Spitzstiefeletten, die dringend geputzt werden müssten.

Und immer, wenn die Lemmy-Statue weibliche Cafégäste erblickte, würde sie „silly cow“ röcheln. So nennt er jedenfalls (wenn sie grad nicht da ist) die Blonde von der Plattenfirma, die dafür sorgt, dass ihm Whiskey, Eis und Cola nicht ausgehen – in dieser Reihenfolge.

Ich meine: Lemmy ist wirklich böse. Er hat kirschtomatengroße Warzen im Bartgesicht! Und Zottelhaare mit eisgrauen Strähnen drin. Damals, 1975, war es seine Idee, Motörhead mit „ö” zu schreiben. Das sah irgendwie deutsch aus, und die Deutschen, Mann, sind für einen Engländer echt „mean”.

Wir vereinbaren ein Stichwortinterview, das schont seine Kehle. Let's go, starten wir mit der Anatomie.

Seine arme Stimme … ? „Hat sich zur Ruhe gesetzt.“
Der Zustand seiner Ohren? „Ich hab genau verstanden, dass du mich das gefragt hast.“
Exduopartnerin Samantha Fox (… the breast and the beast, haha): „Geschichte.“
Britisches Rindfleisch? „Geschichte.“
Drogen? „Naturgeschichte.“
Techno? „Bald Geschichte.“

Lemmy trinkt schnell, er raucht schnell, aber er denkt auch schnell.

Tanzen? „Ich tanze nicht. Except for the totentanz, hehehe.“
Drei Dinge, die er am meisten hasst? „Politiker, organisierte Religion und – hmm – Intoleranz.“
Gott? „Welchen? Gibt's einen? Ich glaube daran, dass wir unsere eigenen Entscheidungen treffen müssen. Es gibt keinen Ausweg namens Gott.“
Alt zu sein? „Unvermeidlich.“

Lemmy wirft Eis nach und füllt mit Whiskey auf. Es ist 16 Uhr 11 an einem Dienstag. Wir sind in einem Hotel an der Kieler Straße, das bevölkert ist von ältlichen Frauen. Der Häkelclub Hodenhagen in der Großstadt. Und in einem der Zimmer, davon wissen die Damen nichts, sitzt Lemmy Kilmister. Der Melody Maker hält ihn für „radikal, roh, barbarisch und verrückt”. Was davon stimmt heute nicht mehr? „Nichts“, seufzt Lemmy, „alles stimmt.“

Danke, das war's, sage ich. „Das war leicht“, sagt Lemmy. Sein Händedruck ist sehr fest, ich fühle den Totenkopfring. Im Foyer wuseln aufgeregte Häkeldamen herum. Wahrscheinlich wollen sie heute Abend ins „Phantom der Oper“.



 

27 April 2022

Mein erstes und letztes Interview mit Klaus Schulze

Von der Blogserie mit oben genanntem Titel hoffe ich ja immer, es möge niemals weitere Anlässe geben, sie fortzuführen. Aber heute ist es traurigerweise wieder einmal so weit. Denn Klaus Schulze, der Synthiepionier und unbestrittene CEO der Berliner Elektronikschule, ist gestern 74-jährig gestorben. Ein Anlass, der mich an mein Interview mit ihm im Jahr 2000 zurückdenken lässt. 

Ich hatte all meine Schulze-Alben dabei, über ein Dutzend, und schlug ihm ein kleines Quiz vor: Er solle mir bitte zu jeder Platte das Veröffentlichungsjahr nennen. Angesichts seines Outputs im Laufe von damals schon mehr als einem Vierteljahrhundert – sein Werk belief sich auf eine dreistellige Zahl von Alben – schien mir das eine nicht zu bewältigende Gedächtnisleistung. Doch weit gefehlt: Schulze machte keinen einzigen Fehler. Danach signierte er mir bereitwillig alle mitgebrachten Alben. Um so etwas habe ich im Laufe von 25 Musikjournalistenjahren nur zwei Künstler je gebeten: ihn und Townes Van Zandt

Hier nun mein erstes und letztes Interview mit Klaus Schulze, erschienen im November 2000. Aufs Duzen hatte übrigens er bestanden – nachdem ich ihn selbstverständlich respektvoll mit „Herr Schulze“ angesprochen hatte.

Man sollte meinen, der von der Technogeneration hochverehrte Elektronikguru Klaus Schulze, 52, residierte in wolkigen Höhen, wo er monumentale Werke wie die aktuelle Zehn-CD-Box „KS Contemporary Music“ (Rainhorse) zusammenstöpselt. Weit gefehlt: Der Berliner ist eine urige Type, der röhrende Motoren manchmal lieber mag als zirpende Synthies.
 
mw: Klaus, wie man hört, bist du Formel-1-Fan.
Schulze: Aber hallo! Jeder, der mich kennt, weiß, dass er mich alle 14 Tage von Donnerstagabend bis Sonntagabend nicht anrufen kann. 
mw: Häkkinen und Schumacher haben geweint. Dabei wurde die Formel 1 doch hochstilisiert zur Spielwiese der Alphamännchen …
Schulze: Ja, aber in Wahrheit steckt Romantik in jedem Rennen – wie einst bei den Rittern, wo es darum ging, wer als Erster mit der Lanze trifft. Und zu dem ganzen Romantikkram gehört auch dazu, dass man mal heulen kann.
mw: Verwunderlich, welchen Ausstoß an Alben du trotz deiner Rennleidenschaft produzierst …
Schulze: Ist doch nur alle 14 Tage, so ein Rennen. Und ich verbringe jeden Tag zehn Stunden im Studio; da kommen ein paar Platten bei heraus.
mw: Wie viele sind es denn inzwischen?
Schulze: Na, über 100 auf jeden Fall. Aber in 30 Jahren. Rechne det ma runter: Sind nur drei im Jahr. 
mw: Du hast dir immer viel Zeit gelassen, um Stimmungen, Atmosphären und Spannungen aufzubauen, während das Tempo unserer Kultur immer mehr zunahm.
Schulze: Ja, das ist das Problem mit der Kommerzialität, das die Firmen immer mit mir haben.
mw: Hast du diesen Widerspruch gespürt?
Schulze: Ich habe so angefangen und bin dabei geblieben. Ich kann’s nicht anders. Du könntest auch Fellini nicht zum Werbespot überreden.
mw: Flächen und Beats sind die wichtigsten Elemente deiner Musik. Um 1980 hat die Bedeutung der Beats allerdings zugenommen. Hing das mit der just erfundenen digitalen Technik zusammen?
Schulze: Beim Rhythmus nicht, aber bei der Aufnahmetechnik. Mein Album „Dig it“ war auch, glaube ich, das erste digitale überhaupt.
mw: Nein: Das war Ry Cooders „Bop til you drop“ …
Schulze: Ach, nee? Siehste, dann hat Stereoplay sich geirrt. Meine war von 1980 …
mw: … und Cooders von 1979.
Schulze: Ach ja.
mw: Im Lauf der Zeit hat Elektronik den Pop infiziert, Synthesizer übernahmen von der Gitarre die Führungsrolle – Musterbeispiel: das neue Madonna-Album „Music“. Fühlst du dich als Pionier dieser Entwicklung?
Schulze: Pionier würde ich mich nicht nennen, denn ich habe die 220 Volt nicht erfunden. Trotzdem ist es eine tolle Befriedigung für mich. 
mw: Auf dem „Mirage“-Cover beschreibst du den Synthesizer als „universale Musikmaschine, deren Möglichkeiten weit über das menschliche Hirn hinausgehen“. Da scheint eine fast religiöse Verehrung mitzuschwingen … 
Schulze: Religiös nicht, Verehrung schon. Denn ohne diese Geräte gäbe es mich nicht. Ganz einfache Sache. 
mw: … zumindest nicht als Musiker und Künstler.
Schulze: Du, ohne wäre ich wirklich eingegangen. 
mw: Der amerikanische Wissenschaftler Ray Kurzweil prophezeit ja über kurz oder lang den Cyborg, also die Verschmelzung von Mensch und Maschine. Ist das für dich ein Traum oder Alptraum?
Schulze: Alptraum. Ich möchte schon ein organischer, mit allen Fehlern und Vorteilen behafteter Mensch sein. Nur möchte ich auch die Möglichkeiten des Cyborgs nutzen können. Meine Traumvorstellung war ja immer: vom Midistecker direkt in den Kopp. 
mw: Warum hast eigentlich ausgerechnet du eine solche Credibiliy bei der Technogeneration – und deine alten Kumpels von Tangerine Dream nicht?
Schulze: Die waren seit Ende der 80er nur amerikaorientiert, machten kurze Stücke mit Pausen dazwischen, damit die Leute ihr Popcorn kaufen konnten. Wir haben uns den Markt aufgeteilt: Ihr macht Amerika, ich mache Europa … Kennst du eigentlich den Unterschied zwischen Amerika und Joghurt?
mw: Na? 
Schulze: Joghurt hat Kultur.

 

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27 Oktober 2020

Mein erstes & letztes Interview mit Tony Joe White

Vor zwei Jahren, am 24.10.2018, starb der unvergleichliche Songwriter, Gitarrist und Soulgrummler Tony Joe White, wegen dem ich sogar extra mal nach Amsterdam gefahren bin. Damals, als die Nachricht seines Todes mich erreichte, hatte ich vor lauter Bestürzung die Gelegenheit versäumt, ihm unser kurzes Interview von 2014 nachzurufen. Deshalb folgt es jetzt, zum zweiten Todestag.


mw: Mr. White, Ihr aktuelles Album „Hoodoo“ klingt wieder nach Ihren Anfängen Ende der 60er. Was macht diesen dunklen, erdigen Sound in Ihren Augen so zeitlos, dass Sie ihn im 21. Jahrhundert wieder aufwärmen?
Tony Joe White: Ich denke nie darüber nach, ob ich nach einer bestimmten Ära klinge, sondern versuche einfach so soulig wie mögich zu singen und zu spielen.

mw: Ihnen scheinen Atmosphäre, Langsamkeit, Intensität am wichtigsten zu sein. Hat das vor allem klimatische Gründe? Sie sind ja in den Südstaaten aufgewachsen …
White: Ja, auf einer Baumwollfarm in Louisiana. Die Zeit vergeht dort wirklich langsamer. Ich habe auch nie das Bedürfnis gehabt, etwas zu beschleunigen. Und das schlägt sich wahrscheinlich nieder in meinem Sprechen, Singen und Gitarrespielen. Das ist für mich alles dasselbe.

mw: Elvis hat ihr Lied „Polk Salad Annie“ gecovert. Was ist das für ein Gefühl, wenn ein Stück vor den Augen des King Gnade findet?
White: Na, ein großartiges! Ich hatte in den Clubs oft Elvis gecovert, bevor ich selbst anfing zu schreiben. Es war sehr cool, als er plötzlich einen meiner Songs aufnahm – und dann noch zwei weitere. Er war ein Held für mich, deshalb waren das sehr aufregende Zeiten.

mw: 1989 wahrscheinlich auch: Da packte Tina Turner gleich vier White-Songs auf ihr Studioalbum „Foreign Affairs“, das sie sogar nach einem davon benannte. Haben Sie manchmal damit gehadert, dass Künstler mithilfe Ihrer Songs zu Superstars wurden, während Sie bei Weitem nicht so bekannt sind?
White: Was für Elvis gilt, gilt auch für Tina Turner: Sie war meine Heldin. Dass sie vier Stücke von mir aufnahm, war grandios. Ich war damals auch mit ihr im Studio und habe Gitarre gespielt – da wurde ein Traum Wirklichkeit. Jedenfalls habe ich nie drüber nachgedacht, ob ich bekannt bin oder nicht. Nein, ich fand es immer wunderbar, wenn jemand meine Songs aufgenommen hat.


Foto: mw

12 September 2019

Mein erstes und letztes Interview mit Daniel Johnston

Vorgestern starb der US-amerikanische Singer/Songwriter Daniel Johnston († 58). Vor neun Jahren habe ich mal mit diesem schrägen Vogel telefoniert. Daraus entstand ein kleiner Text, erschienen im April 2010 in der Zeitschrift uMag. Anstelle eines Nachrufs erscheint er hier noch mal.

„DANKE, GUT“  
Kurt Cobain pries ihn als weltgrößten Songschmied, Indienerds vergöttern ihn: den manisch-depressiven Sänger Daniel Johnston. Ein Mann am Abgrund – doch uMag hat ihn lachen hören.
In zehn Minuten soll ich noch mal anrufen, sagt sein Vater Bill. Und zwar in genau zehn Minuten. Okay, okay. Nach zehn Minuten: „Daniel, hi, how are you?“ Eine Anspielung auf seinen berühmten Graffitispruch, mit dem er als Teenager Kalifornien pflasterte. „Danke, gut“, sagt der größte Songschmied der Welt. 
Kurt Cobain trug mal ein T-Shirt mit dieser Grußfloskel auf MTV. „Das war echt was!“, gluckst Johnston, „richtig cool!“ Er kennt nur Fotos davon. Überhaupt hat er’s nicht so mit Technik. Mail, Web? Nix für Johnston. Er hat auch so genug damit zu tun, sein Leben auf die Reihe zu kriegen – und Alben wie „Beam me up!“ zu schreiben, ein windschiefes, rumpeliges Meisterwerk voller Jaulgesänge und besoffener Bläser, das deine Gefühlswelt völlig durcheinanderbringt. 
„Daniel, unter deinen Fans scheinen mehr Künstler zu sein als Plattenkäufer.“ 
„Ja“, lacht er, „ich bin mehr so der Undergroundtyp.“  
Johnston hat gelacht! Der Typ, der während einer Depression mal den Zündschlüssel eines Flugzeugs abzog und es zum Absturz brachte, hat gelacht! „Daniel, wäre es immer noch riskant, dein Beifahrer zu sein?“ 
„Yeah“, sagt er und scheint trocken zu grinsen, „man vertraut mir kein Flugzeug mehr an.“  
Ein paar seiner neuen Stücke sind beinah optimistisch, etwa „True love will find you in the End“, der schönste, schrägste Trostsong des Jahres. Wird am Ende doch noch alles gut? „Ich möchte jeden aufheitern, der das Album hört“, sagt der größte Songschmied der Welt mit dieser dünnen Schlingerstimme, die eiern kann wie keine andere. „Jedenfalls ist mir das lieber als jeden zu deprimieren.“ 
Beim Hören seiner Songs passiert beides, aber das müssen wir ihm ja nicht sagen. Denn es geht ihm gerade danke gut.

PS: Das Foto entstand in der Hamburger Fabrik im April 2010. Dass es ein bisschen verwackelt ist, passt eigentlich ganz gut zu diesem Typen.


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04 Dezember 2018

Zappa und sein Struwwelpeter

Wie – ich habe noch nie erwähnt, dass ich mal Frank Zappa kennengelernt habe? Seit 1992 nerve ich meinen Bekannten- und Freundeskreis mit dieser Geschichte, und ausgerechnet mein erheblich vielköpfigeres Blogpublikum ließ ich bisher in Unwissenheit darben …? 

Jetzt, 25 Jahre nach Zappas Tod, soll dieser skandalöse Zustand sein wohlverdientes Ende finden. Denn, meine Damen und Herren, ich habe mal Frank Zappa kennengelernt! Den Meister aller Klassen! 

Er hatte sich – obzwar bereits schwer krank – entschlossen, mit dem Frankfurter Ensemble Modern seine Komposition „The yellow shark“ aufzuführen. Jetzt weilte er in Hessen und bat in einer Probepause zum Interview. Mit meinem Kollegen Carsten Beckmann, heute wie damals in Marburg bei der Oberhessischen Presse tätig und des flüssigen Englisch erheblich mächtiger als ich, tuckerte ich an den Main, wo wir in einem Hotelzimmer auf den fatalistisch vor sich hinrauchenden Genius trafen.

Zappa trug Jogginghosen und einen grau durchwirkten Zopf, sein Händedruck war schlaff. Und während Carsten ihn interviewte, schnürte ich durch die Szenerie und machte Fotos. Am Ende zückte Carsten ein leeres Notenblatt und bat um eine Spontankomposition. 

Zappa war nicht im mindesten irritiert. Er nahm den Stift, setzte an, überkritzelte den ersten Versuch und fetzte dann eine Preziose von etwa zwei Sekunden Länge hin. Er nannte sie „Struwwelpeter“. 

Woher bloß kennt ein Typ aus Baltimore, Maryland, der damals im Los Angeles lebte, diese wahrscheinlich deutscheste aller Figuren? Egal: Seither hängt die Kopie dieses Kleinods (das Original hat Carsten) an der Wand jeder Wohnung, die wir je bezogen haben, und so wird es bleiben, auf jetzt und immerdar. 

Hier das (an die aktuelle Rechtschreibung angepasste und in manch Zappa-Passage noch immer erstaunlich jung gebliebene) Interview, erschienen 1992 in kulturnews.


„Nimm ne Knarre mit!“


Der berühmte Bart, von dem ein Karikaturist einmal sagte, er sei neben den Ohren von Micky Maus die prägnanteste Popikone des Jahrhunderts, ist noch dran. Trotz grauer Strähnen, trotz wilder Gerüchte über die Schwere seiner Erkrankung wirkt Frank Zappa, 51, zehn Jahre jünger, als er ist. Die wuchernde Mähne zum Zopf gebunden und gemütlich an der Zigarette nuckelnd, empfängt er uns mit freundlichem Lächeln. Und binnen kurzem sind wir mitten in einem (zappaesken) Gespräch, das alles andere ist als bloßes Frage- und Antwortspiel: Es geht um Kultur und Politik, um den Mythos des freien Marktes und die Beschränktheit amerikanischer Politiker. Um seine Heimatstadt Los Angeles, Rockmusik, Vaclav Havel, TV-Shows, McDonalds – und natürlich um sein Werk „The Yellow Shark“, das er mit dem Frankfurter Ensemble Modern einstudiert hat. Gegen Ende möchte er aus dem Fenster springen, komponiert stattdessen aber aus dem Stegreif ein kleines Stück für uns. Titel: „Struwwelpeter“.

kulturnews: Frank, ich fürchte, nach all den Interviews wird’s jetzt ein paar Wiederholungen geben...
Zappa: Die gibt’s im Universum auch. Schau dir das an (zeigt auf eine Glasschale mit Würfelzucker). Alles Wiederholungen, Reproduktionen. Und doch mit Funktion.
kulturnews: Klappt es nach all den „orchestralen Dummheiten“, die du in deiner Autobiografie beschrieben hast, mit dem Ensemble Modern besser?
Zappa: Absolut. Zum einen ist das Ensemble Modern kein Orchester, das ist der erste wichtige Schritt. Der nächste Schritt ist: Wir schlagen uns hier nicht mit staatlichen Fördermitteln herum. Eine Sache, die in der Vergangenheit – insbesondere in Wien – immer wieder für Probleme gesorgt hat.
kulturnews: Generell würdest du also sagen, private Sponsoren sind verlässlicher als staatliche Geldgeber?
Zappa: Das Problem mit dem Staat ist: Regierungen wechseln. Je länger es dauert, bis ein Kulturprojekt realisierbar ist, um so größer ist die Gefahr, dass der Beamte, der dein Projekt gutgeheißen hat, längst nicht mehr im Amt ist, wenn die Sache losgehen soll. So kommt es dann zu Problemen.
kulturnews: Abgesehen von der besseren Finanzierung: Was ist besser oder anders an der Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern?
Zappa: Nun, das Interesse der Musiker ist viel höher, als man das normalerweise bei einem Orchester antreffen würde. Arbeitest du mit einem 100-köpfigen Orchester, dann schauen die meisten ständig nur auf die Uhr – hier macht das keiner.
kulturnews: In der Zusammenarbeit mit Musikern glaubst du nicht gerade an demokratische Beziehungen zwischen Komponist, Dirigent und Gruppe …
Zappa: Ich glaube nicht, dass das ein guter Weg ist, gute Musik zu machen. Wenn du über jede Phrase, über jeden Rhythmus, über jede Intonation eine demokratische Entscheidung fällen müsstest, würdest du nie zu Ergebnissen gelangen. Es gibt einfach die autoritäre Situation zwischen Musikern und Dirigent, der ihnen sagt, wann und wie laut sie zu spielen haben. Das ist sein Job, er ist der Boss. Wenn die Musiker kompetente „Mechaniker“ sind, dann helfen sie, etwas aufzubauen, was du mit der Konstruktion eines Wolkenkratzers vergleichen kannst. Na ja, und wenn die Komposition  schlecht ist, kommt anstelle des Wolkenkratzers eben ein McDonalds-Imbiss dabei raus. Ich finde es immer wieder ironisch, dass mir die Frage nach Autorität und Demokratie so oft gestellt wird in einem Land, wo es Dinge wie den Tusch gibt: Tataa, Tataa, Tataa, lachen Sie jetzt!
kulturnews: Na, das gibt’s bei dir in Amerika doch auch zur Genüge, etwa in Fernsehshows.
Zappa: Sicher, das und viel schlimmere Dinge. Doch zurück zur Musik: Zu einer bestimmten Zeit, an einer bestimmten Stelle muss jemand da sein, der sagt: „OK, jetzt fangen wir an“ oder „OK, jetzt hören wir auf“. Das heißt noch lange nicht, dass der Dirigent das Leben seiner Musiker bestimmt. Ein bisschen Organisation muss schon sein, ansonsten hat es gar keinen Zweck zu versuchen, ein Stück Musik zu „bauen“.
kulturnews: Hier zumindest ist die Zusammenarbeit mit Dirigent und Ensemble wohl ideal?
Zappa: Ja, wir haben hier absolut keine Probleme, uns selbst über die absurdesten Ideen zu verständigen.
kulturnews: Na, du wusstest nach den Proben in Los Angeles im vergangenen Jahr ja ohnehin ziemlich genau, worauf du dich hier einlässt. Das bringt mich zurück zu deinem Stück, zu „The Yellow Shark“. Darüber wissen wir sehr wenig. Gibt es da eine Thematik, eine Geschichte, eine generelle Idee?
Zappa: Es wird ein Abend des Entertainments. Wir hätten die ganze Sache genausogut „Die purpurne Gurke“ nennen können, aber jetzt heißt es nun mal „Der gelbe Hai“, was wir Andreas Mölich-Zebhauser zu verdanken haben, dem Geschäftsführer des Ensemble Modern. Es wird eine Abfolge von Stücken, die zumeist Programmmusik sind. Daraus ergibt sich eine Art visuelle Idee, die von diesen Stücken heraufbeschworen wird. Stilistisch sind sie sehr unterschiedlich, trotzdem ist keine Varieté-Show zu erwarten.
kulturnews: Unterschiedliche Elemente – also Zusammenspiel von Musik, Tanz, visuellen Effekten?
Zappa: Na ja, es wird wohl nicht eine dieser großen Multimediashows werden, aber sicher, es wird getanzt, und es gibt auch eine Textebene.


kulturnews: Über Kultursponsoring haben wir bereits kurz gesprochen. Glaubst du, dass auch die unabhängige, ungeförderte Kunst eine Zukunft hat, oder wird das Kultursponsoring immer wichtiger?
Zappa: Ich sehe da eine Sache, die überall auf der Welt passiert: Mehr und mehr beginnen die Leute zu verstehen, dass es mehr Mythos als Tatsache ist, wenn behauptet wird, der freie Markt könne alle Probleme lösen. Das gilt insbesondere für die Kultur. Wenn die Kräfte des Marktes darüber zu entscheiden hätten, welche Art von Kunst überlebt, würden wir im Moment alle kulturell bei McDonalds essen. Um experimentelle Kunst zu betreiben, führt kein Weg am Sponsoring vorbei.
kulturnews: Würdest du sagen, dass Amerika in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle einnimmt?
Zappa: Ich würde sagen, das Land mit der größten Tradition für Kultursponsoring ist Deutschland. Ich kann da völlig falsch liegen, aber was ich bisher so gesehen habe, ist: mehr Unterstützung als in irgendeinem anderen Land.
kulturnews: … während wir hier den Eindruck nicht loswerden, dass da noch eine ganze Menge zu tun ist. Außerdem betrachten viele deutsche Künstler die Vernunftehe mit privaten Sponsoren nicht ohne Argwohn.
Zappa: Jeder Künstler, der private Geldgeber kritisiert, ist herzlich eingeladen, in die USA zu kommen. Da gibt es nämlich überhaupt keine Geldgeber. Konsequenterweise muss der amerikanische Künstler, wenn er weiter von seiner Kunst leben will, die banalsten Sachen tun, wenn er nur eine Ausstellung finanzieren will. Du kannst bestimmte Dinge nicht malen, weil du sie nicht zeigen kannst, kannst bestimmte Dinge nicht sagen, weil das keiner hören will, kannst bestimmte Musik nicht spielen, weil kein Etat für Probenarbeit da ist.
kulturnews: Wo wir schon bei banalen Dingen sind: Wird es weitere Rockalben von Frank Zappa geben? Womit ich dich keinesfalls beleidigen will, denn ich denke, keines deiner Alben ist wirklich banal.
Zappa: Ach, hör mal, da musst du schon ganz andere Dinge anstellen, um mich zu beleidigen. Aber im Ernst: Ich habe nicht vor, noch Rock’n’Roll zu spielen.
kulturnews: Ist das definitiv?
Zappa: Ich bin zu alt. Wenn ich an mein Alter denke und die Tatsache, dass ich 1988 400.000 Dollar verloren habe, die ich in die Tour steckte mit der vielleicht besten Band, die ich je zusammengestellt habe – das gibt mir nicht gerade viel Ansporn, in diesem Bereich noch aktiv zu werden.
kulturnews: Was hältst du von Musikern, die in der gleichen Zeit kein Geld verloren, sondern zehnmal so viel verdient haben und sich jetzt mit symphonischen Dingen beschäftigen wie Paul Mc Cartney und Sting?
Zappa: Ich habe mal in die McCartney-Musik reingehört, und es ist nicht gerade meine Art von Musik, um ehrlich zu sein. Und dann ist da ein großer Unterschied: Er hat jemand anders dafür bezahlt, die Musik zu schreiben.
kulturnews: Ein Ghostwriter, obwohl Mc Cartney in Anspruch nimmt, es sei seine Musik … ?
Zappa: Wie auch immer: Ich weiß, dass meine Sachen von mir sind, dass ich auch physisch daran gearbeitet habe.
kulturnews: Lass uns über Politik reden, falls dir das am frühen Morgen nichts ausmacht. Ich habe gehört, du bist ein guter Freund von Vaclav Havel.
Zappa: Na ja, guter Freund würde ich nicht gerade sagen, aber ich habe ihn getroffen und respektiere ihn sehr. Ich denke, die Entwicklung in der CSFR ist sehr unglücklich, es war ein Fehler, das Land zu zersplittern. Ich glaube auch, es war ein Fehler, schnelle Wirtschaftsreformen nach polnischem Muster durchzuführen. Ich glaube auch, die Tschechen und Slowaken haben ein ganz anderes Temperament als die Menschen in Polen. Zur Zeit des Umbruchs ging es der Wirtschaft der CSFR wesentlich besser als der in Polen; trotzdem waren die Leute in der Tschechoslowakei natürlich nicht glücklich darüber, den Gürtel enger schnallen zu müssen. Aber in Polen war die Lage so desolat, dass es gar nicht mehr schlimmer ging, während in der CSFR noch das eine oder andere funktionierte. Dann kam plötzlich der Zusammenbruch, und da sagen die Menschen natürlich: Warum haben wir das eigentlich gemacht, warum wählen wir diesen oder jenen wirtschaftspolitischen Kurs?
kulturnews: Siehst du die Entwicklung in der CSFR im Zusammenhang mit nationalistischen Tendenzen in anderen Staaten, etwa Jugoslawien?
Zappa: Klar, das passiert überall. Einer der Gründe für diese fürchterliche Entwicklung ist … na, nehmen wir einfach das Beispiel Amerika. Wenn du dir Amerika anschaust und dir anhörst, was die Menschen dort von ihrer Regierung halten, dann merkst du, dass es da überhaupt kein Vertrauen in die Bundesregierung oder in irgendeine andere Regierung mehr gibt. Die Amerikaner, die selbst eine politische Karriere eingeschlagen haben, sind von einem derart kleinen Kaliber – allesamt gemeine, banale, schreckliche kleine Leute. Politik hat eine große Anziehungskraft auf die schlimmsten Elemente innerhalb der US-Gesellschaft. Sie werden Politiker, und dann kannst du sie dir im Fernsehen ansehen, Tag für Tag live aus dem Kongress auf zwei Fernsehkanälen. Du siehst, wie sie ihrer „Arbeit“ nachgehen, wie sie ihre Reden halten, stellst fest, dass sie nicht einen Satz in vernünftigem Englisch sprechen können – und das sind deine gewählten Volksvertreter …
kulturnews: Siehst du dir diese Sendungen an?
Zappa: Na klar.
kulturnews: Heute hast du die Chance, das deutsche Parlament im Fernsehen zu sehen, da geht’s um den Marineeinsatz in der Adria.
Zappa: Weißt du, in den USA geht das 24 Stunden am Tag so. Wenn der Senat tagt, zeigen sie den Senat live. Tagt der Kongress, strahlt das der andere Sender live aus. Dazwischen wird von Ausschusssitzungen berichtet, und so geht das Stunde für Stunde. Und dann schaltest du auf die „normalen“ Nachrichten um und siehst den Präsidenten auf einem dieser idiotischen Fototermine, wo er nie wirklich etwas zu sagen hat. Nur Flaggen, Fotos und Leute, die „Hurra“ schreien – das ist alles falsch, alles Shit. An diese Art von Politik kann ja keiner glauben. Du sitzt fest, möchtest an das glauben, was du nun mal gewählt hast, aber sie geben dir zwei wirklich schlechte Alternativen.
kulturnews: Du hast das auf der Pressekonferenz die Wahl zwischen Tweedledee und Tweedledum genannt …
Zappa: Ja, und es ist immer so, nicht nur in diesem Wahlkampf. Nimm Bush und Dukakis, da ging es auch um Tweedledum und Tweedledee. Es geht immer darum. Nie ist jemand da, bei dem die Leute das Gefühl haben: Ja, der könnte etwas für uns bewegen.
kulturnews: Du hattest selbst mal Pläne, in die Politik einzusteigen.
Zappa. Ja, ich habe darüber nachgedacht, aber dann kam mir meine Krankheit dazwischen.
kulturnews: Glaubst du, dass Künstler politisch aktiv sein sollten und möglicherweise bessere Politik machen als „professionelle“ Politiker?
Zappa: Als ich Vaclav Havel zum ersten Mal traf, sagte er mir: Unsere Revolution wurde von Künstlern gemacht, und wir müssen bessere Politik machen als die Politiker. Unglücklicherweise hat das nicht geklappt.
kulturnews: Reagan war doch wohl auch so etwas wie ein Künstler.
Zappa: Ein Künstler??
kulturnews: Immerhin zählte er als bezahlter Schauspieler zum Kreis der Künstler.
Zappa: Ein lausiger Schauspieler ist kein Künstler. Wenn ich das höre, könnte ich gerade hier aus dem Fenster springen!
kulturnews: Wir sitzen im Erdgeschoss.
Zappa: Ich will mich ja auch nicht verletzen, nur so als Demonstration.
kulturnews: Du wirst ständig nach deinem Gesundheitszustand gefragt.
Zappa: Vor drei, vier Wochen war ich in der Klinik. Was mich selbst gewundert hat, war: Nach drei Tagen war ich wieder draußen, fühlte mich wesentlich besser und kam hierher. Klar, ich weiß nie, wie es mir am nächsten Tag gehen wird, aber im Moment sitze ich hier, mache Witze und so weiter …
kulturnews: Aber du hast zur Zeit keine konkreten Pläne für die Zukunft?
Zappa: Nein. Da gab es einige Leute, die mich fragten, ob ich für diese oder jene Idee zu haben sei, aber momentan läuft nichts, was ich hier diskutieren könnte.
kulturnews: Du wohnst in Los Angeles …
Zappa: Ja, ja, die Stadt mit den vielen Bränden, dem Rauch und den Unruhen.
kulturnews: Wird das weitergehen?
Zappa: Ja. Klar.
kulturnews: Lohnt es sich denn, länger als einen Tag in Los Angeles zu verbringen?
Zappa: Natürlich. Es ist so bizarr, überhaupt nicht mit dem Rest der USA zu vergleichen. Wenn du clever bist und willst die Kultur eines dir total unbekannten Ortes verstehen, musst du dahinfahren. Videos machen dich nicht schlau, Fotos nicht und auch keine Interviews. Fahr hin und bleib eine Weile da. Aber nimm ne Knarre mit.

Fotos: Matt Wagner

PS: Sollte ich diese Struwwelpetergeschichte hier doch schon einmal veröffentlicht haben, so teeren und federn Sie mich gerne – solange Sie mich auch mit dem Quellenverweis versorgen.




15 August 2017

The walking dead

John Lennon hielt einst die Beatles für größer als Jesus. Allerdings hatte er einen übersehen: den größten Star aller Zeiten. Vor 40 Jahren starb Elvis Presley. Doch er könnte kaum präsenter sein.


Da steht er, im weißen Glitzer der späten Jahre. Der Kragen ist riesig, scheint zu wachsen und bald zu einem großen wehenden Weiß zu werden, das ihn umfließen wird wie Supermans Cape oder wie die Flügel für die Himmelfahrt. Eine Elvis-Fantasie. 

Viele begegnen ihm auch real. Immer wieder Sichtungen – in einem McDonald’s in Oklahoma, einer Bar in Tel Aviv (die er selbst betreibt), auf einem Kneipenklo in Nürnberg, als Tramper am Berliner Ring. 

Jeden Tag sieht ihn irgendwer irgendwo. Er sieht gut aus für einen, der seit 40 Jahren tot ist, und meist hat er einen Sinnspruch parat und ein trauriges Lächeln, ehe er verschwindet wie ein Windhauch.

Elvis Presley, ein Lastwagenfahrer aus East Tupelo in Mississippi, ist der einzige globale Geist, den Amerika je hervorgebracht hat. 

Er ist immer noch derart übergroß, dass man glauben könnte, er habe nie existiert, sondern sei eine Kunstfigur, ein früher Avatar. Es ist, als habe sich die Verehrung der Massen, die Analyselust der Kulturwissenschaftler und die Bedeutung, die Elvis gewann für jeden Aspekt des kulturellen Amerika und der Popkultur schlechthin, als habe sich all das zu einer großen festen Masse verdichtet, die ihn einerseits hinaufhob wie ein Gebirge, das sich auftürmt durch die Gewalt der kollidierenden Erdplatten, und ihn andererseits auf dem Gipfel einschloss in einen Kokon, der am Ende immer mehr einer Gummizelle ähnelte.

Presleys Bedeutung liegt nicht nur an seinem Erfolg, essenziell ist auch sein Untergang. Elvis’ Leben und Sterben – es steht für Größe und Tragik, für die seither zum Klischee geronnene Erkenntnis, dass es verdammt einsam ist dort oben, es steht fürs Umschwirrtsein von geldgeilem Geschmeiß, für vollkommenes Verlorensein inmitten grenzenloser Umsorgtheit.

Die ganze Dimension des Pop steckt in diesem Leben und Sterben, und es war von geradezu lächerlicher Logik, als Michael Jackson, entrückter Herrscher von Neverland, Lisa Marie Presley heiratete, die Tochter des Kings von Graceland. Ein Fest für Freudianer.

Elvis Aaron Presley, dieser Fernfahrer aus East Tupelo, war bei den Sun Studios vorbeigefahren, um schnell eine private Single für seine Mutter zu besingen. Und danach musste er den Himmel durchschreiten und die Hölle hintendrein, und wer kann schon sagen, ob das eine schwerer war als das andere.

Jedenfalls musste er da durch, ganz allein und als Erster überhaupt – für uns alle, für das ganze 20. Jahrhundert. Seine Mission ging tödlich aus und verschaffte ihm und uns doch etwas schrecklich Kostbares: die säkulare Version des ewigen Lebens.

Gestern hat ihn wieder jemand gesehen, in einem Schuhladen in Hull. Es war mittags, Elvis fragte nach blauen Wildlederschuhen. Dann lächelte er ein trauriges Lächeln und verschwand wie ein Windhauch.


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18 Januar 2016

Mein erstes und letztes Interview mit Gunter Gabriel

Damals, 2009, traf ich Gunter Gabriel, weil er eine wirklich respektable Platte am Start hatte. So richtig durch die Decke ging seine Karriere danach trotzdem nicht; deshalb sitzt er jetzt gerade im Dschungelcamp.

Das finde ich Anlass genug, um der Welt mein schonungslos liebevolles kulturnews-Porträt des damals, 2009, noch nicht ganz so schabrackigen Altcountrybarden erneut ins Gedächtnis zu rufen. 

Nach dem Interview versprach er übrigens, mir Platten seines – nach Johnny Cash – zweitliebsten Songwriters Shel Silverstein zuzuschicken. 

Raten Sie mal, worauf ich heute noch warte.





Der Mea-culpa-Mann

Je tiefer man fällt, desto höher kann man auch wieder steigen. Lebender Beweis: Gunter Gabriel.
 

Er steht da mit 67 wie ein Kerl, ein ganzer Mann. Aus zwei Metern Höhe schaut Gunter Gabriel herab, sein imposanter Ranzen wölbt sich auf Altherrenart unterm Oberhemd, und beim Gespräch legt er manchmal den Kopf schief, faltet die Stirn und schaut verwegen. Allerdings nur, weil er schon mal besser gehört hat. Aber haben wir das nicht alle?

Gunter Gabriel ist hier, weil er wieder zurück ist. Und er hat eine Botschaft. Sie lautet: Ich bin schuld, und zwar an allem.  Seine größte Zeit hatte er während der Ölkrise der frühen 70er. Jetzt steckt die Wirtschaft noch tiefer im Sumpf, und prompt ist Gabriel wieder da – als Mea-culpa-Mann.

Er sagt, wie scheiße er war, doch er bittet nicht mal um Verzeihung. Sein derbes, mächtiges Mea culpa hat er in eine Autobiografie gepackt und in eine Platte. Die Platte ist die beste seiner fast 35-jährigen Karriere. Weil sie endlich mal so cool und abgehangen klingt, dass man sie vorzeigen kann. Weil jeder Song, auch ein Cover wie Radioheads „Creep“ (das kongenial zu „Ich bin ein Nichts“ wird), die gebrochene Größe des Gunter G. widerspiegelt.

Wer beim Hören der erdigen Produktion „Plagiat!“ ruft, weil sie schwer ans Konzept des späten Johnny Cash erinnert, der ruft ins Leere, denn auch das gibt der gute Gunter vorauseilend zu: Sein Album hat nämlich den Untertitel „German Recordings“, ein Pendant zu Cashs „American Recordings“. Ist das die Strategie: einfach alles zugeben, damit einem keiner mehr was anhängen kann?

Gabriel legt den Kopf schief, faltet die Stirn und schaut verwegen. „Das ist hundertprozentig richtig“, sagt er. „Ich habe mich geöffnet und gesagt: Jawoll, ich bin pleite, jawoll, ich habe meiner Frau was auf die Fresse gehauen. Ich sag das jedem: Kotz dich aus! Bevor dich die Kotze erstickt.“

Gabriel redet wie einer, dem keiner mehr was kann, weil er längst gerafft hat, dass er selbst sein größter Feind war. Er hat seine Millionen aus Hits wie „Er ist ein Kerl“ in windigen Bauherrenmodellen versenkt, und er hat zu Hause derart rumgenervt, dass ihm die Ehefrauen reihenweise wegliefen, vier insgesamt. Jetzt lebt er auf einem Hausboot im Hamburger Hafen und versucht, die positiven Gefühle nachzuleben, die er einst unterm Schutt aus Eifersucht, Suff und Egomanie begrub.

Gunter Gabriel war mal sehr peinlich, doch er gewinnt gerade die knorrige Größe des Gescheiterten, der zu zäh war, um ganz unterzugehen. „Mir geht’s heute zehnmal besser als damals“, brummt der Exmillionär so tieffrequent, dass der Rekorder vibriert. „Ich bin reich, auf meine Art. Ich lege mich noch immer gerne voller Lust zwischen die Schenkel einer Frau und kann das genießen und sagen: Ist das nicht toll, dass wir uns riechen und spüren? Das ist doch ein Geschenk, das du als alter Sack noch genießen kannst!“

Der alte Sack wird sein Comeback hinkriegen. Mit dieser Platte, diesem Buch, dieser Haltung: Das klappt. „Ich habe“, brummt er gelassen, doch ohne Stolz, „in jeden Scheißhaufen reingetreten, der sich mir bot, ja.“

Zum Glück.



Foto: Matt Wagner







13 März 2015

Mein erstes und letztes Interview mit Daevid Allen

Es häuft sich: dass Künstler, die Interviewpartner waren, sich für immer verabschieden. Im Januar war es der Tangerine-Dream-Chef Edgar Froese, heute der Mitbegründer der legendären Band Gong, Daevid Allen (77). 

Hier als Hommage an einen ganz Großen der Rock- und Fusiongeschichte noch einmal unser Interview, erschienen erst vor wenigen Wochen, im Dezember 2014 in kulturnews.


Die weibliche Null

Der 1967 in Frankreich gestrandete Australier Daevid Allen (76) ist eine Fusionlegende. Nun hat er seine alte Liebe Gong wiederbelebt – und erklärt, warum diese Band niemand je verlassen kann.

Mr. Allen, es gab im Lauf der vergangenen viereinhalb Jahrzehnte verwirrend viele Inkarnationen der Band Gong. Welche war denn die einzig wahre?
Daevid Allen: Na, die heutige! Und auf Tour war die jeweilige Formation immer die einzig wahre. Wenn du dir das aktuelle Album anhörst, merkst du, wie wahr die aktuellen Gong sind und was für eine Wahnsinnskraft diese Band hat.

Sie sind gebürtiger Australier und bekamen 1967 nach einer Frankreichtour mit Soft Machine keine Einreisegenehmigung mehr nach Großbritannien, wo Sie damals lebten. Was hatten Sie denn verbrochen?
Allen: Ich war 1960 nach Großbritannien gezogen und hatte als Australier zunächst die gleichen Rechte wie britische Staatsbürger. Dann wurden die Einwanderungsgesetze geändert, was ich aber erst mitkriegte, als ich 1967 mit Soft Machine wieder einreisen wollte. Die Band hatte sich einen ziemlich schlechten Ruf erarbeitet, weil sie einige sehr prominente Londoner Debütantinnen mit LSD versorgt hatte – was dem einflussreichen englischen Establishment eine gute Ausrede lieferte, um mich draußen zu halten. Das neue Gesetz bot die Chance dafür.

Immerhin: Ohne diesen Umstand hätte es Gong nie gegeben, denn Sie blieben in Frankreich und gründeten die Band. Glauben Sie eigentlich an so etwas wie Schicksal ...?
Allen: Klar - und es hält überraschende Volten bereit. Es scheint, als hätte ich viel Glück gehabt, und ich bin dankbar dafür. Man kann Magie definieren als perfekten Mix aus Fantasie und Willenskraft. Damals war ich enttäuscht vom Schicksal Soft Machines, aber ich wollte einfach unbedingt was erreichen, und das trieb mich weiter an.

Obwohl sehr viele Musiker zur Band stießen und irgendwann wieder gingen, hat ein Exmitglied, der Gitarrist Steve Hillage, mal gesagt: „Niemand verlässt jemals Gong.“ Wie hat er das denn gemeint?
Allen: Gong ist nicht nur eine Band, sondern eine ganze Gemeinschaft von Bands, Künstlern und einem weltweiten Publikum aller Altersgruppen. Von Zeit zu Zeit veranstalten wir die „Gong Unconvention“, ein Festival mit Gong und befreundeten Bands. Jeder, der mal Mitglied war, ist eingeladen. Das Fest ist ein Magnet für Gong-Freaks, die aus der ganzen Welt anreisen. Das letzte fand 2006 im Amsterdamer Club Melkweg statt. Nächstes Jahr soll es ein weiteres geben. Wenn Sie vorbeikommen, werden Sie sehen, dass niemand je Gong verlassen hat …

Neue Tracks wie das hektische „Occupy“ schließen den Kreis zur hochpolitischen Gründungszeit von Gong, dem Jahr 1968. Was empfehlen Sie denn der Jugend von heute: Wogegen soll sie auf die Barrikaden gehen?
Allen: Mit dem Internet ist eine ganz neue Form der Politik entstanden, ganz klar. Die Bewegung unterscheidet sich von allen davor, und es ist unvorhersehbar, wie sie sich als frei organisiertes Netzwerk entwickeln wird. Und natürlich ist auch die Jugend von heute geprägt von diesem dynamischen Prozess, der die noch im 19. Jahrhundert verwurzelten politischen Systeme entweder weiter transformieren oder sogar ganz überwinden wird. Es gibt zurzeit viele interessante Köpfe wie Thomas Pickety oder Slavoj Žižek, und in vielerlei Hinsicht ist Musik ein Indikator für den anstehenden sozialen Wandel. Allerdings ist der eine visionäre Denker noch nicht aufgetaucht, der eine große internationale Bewegung lostreten könnte.
Die nächste Revolution, sagen Sie in einem Song, wird nicht mehr auf den Straßen stattfinden, sondern in uns selbst. Wenn Marx mit seiner materialistischen Philosophie den Idealisten Hegel auf die Füße gestellt hat, dann stellen Sie mit dieser Prognose wohl Marx auf den Kopf ...
Allen: Einige von uns warten in der Tat auf einen umgedrehten oder von innen nach außen gekehrten Karl Marx. Der neue Gestalter des politischen Fortschritts ist aber wohl eher ein Think-Tank. Ein Kreis Gleichgestellter. Eine weibliche Null statt einer männlichen Eins.
Zurück zur Musik: Bei welchem jungen Fusionkünstler sehen Sie – als Pate des ganzen Genres – eine strahlende Zukunft, wer wird mal ganz groß?
Allen: Oha, ich sehe hier eher Konfusion … Ich lebe praktisch in einem Teehaus am Strand. Aus der Fusion, auf die ich als Pate Einfluss hatte, ist die Infusion geworden. Der Körper und der Teebeutel sind eins, und deshalb sind Vergangenheit und Zukunft für mich auch nicht mehr zu unterscheiden.

Das Album "I see you" ist seit Mitte November im Handel.   

Foto: Madfish Music





25 Januar 2015

Mein erstes und letztes Interview mit Edgar Froese

Schon wieder geht es hier nicht um den Kiez, sondern um Musik, leider. Denn am 20. Januar ist, wie gestern bekannt wurde, einer meiner großen musikalischen Helden gestorben: Edgar Froese, Kopf, Gitarrist und Keyboarder der Berliner Elektroniklegende Tangerine Dream. 
Im vergangenen Frühjahr konnte ich ihn anlässlich der bevorstehenden Deutschlandtour interviewen. Zum Berliner Auftritt bin ich natürlich angereist, denn trotz all meiner Verehrung für die frühe Schaffensphase der Band: Live gesehen hatte ich sie bis dahin nie – was vor allem daran lag, dass sie überall anders Superstarstatus und somit viele Touranlässe hatten, nur in ihrem Heimatland nicht. 
Hier also mein Edgar-Froese-Interview, das im April 2014 in kulturnews gedruckt wurde. In seiner letzten Antwort erwähnt er das „Ende seiner Tage“, aber mit Trotz und Stolz.

Unverkäuflich
Edgar Froeses Band Tangerine Dream ist eine Weltmarke – und beehrt endlich mal wieder die alte Heimat. Ein Interview über Grammys fürs Klo, doofe Labels und den Reiz von Tarantino.

Herr Froese, die herausragenden Vertreter der Berliner Elektronikschule – Sie, Klaus Schulze, Manuel Göttsching – haben Weltgeltung, aber ausgerechnet in Deutschland merkt man davon wenig. Wie sehr fuchst sie das?
Edgar Froese: Es berührt mich überhaupt nicht, da es den Ausgleich gibt, in vielen anderen Teilen der Welt für seine Arbeit geschätzt und respektiert zu werden. Deutschland war und ist für uns eine Erinnerung an die Anfangszeiten einer elektronisch orientierten Rockmusik, nicht mehr und nicht weniger, und das ohne jede Bitterkeit.

Bei den frisch Grammy-gekrönten Kraftwerk ist das anders. Hat die Düsseldorfer Konkurrenz sich einfach besser vermarktet?
Froese: Derartige Vergleiche setzen ein sehr kleinkariertes Konkurrenzdenken voraus, und so etwas ist mir völlig fremd. Es ist doch ein sehr positives Zeichen, wenn Kollegen, die auch in Deutschland musikalische Geschichte geschrieben haben, in anderen Teilen der Welt dafür honoriert werden. Letztlich kommt eine progressive Bewertung neuer Entwicklungen allen Musikern zugute.

In den 90ern wurden jedenfalls auch Sie ständig für Grammys nominiert, allerdings ohne Erfolg. Wäre es Ihnen wichtig, diese Trophäe irgendwann mal mal in der Vitrine stehen zu haben?
Froese: Sollten wir den Grammy eines Tages erhalten, habe ich in einer Ecke meiner hausinternen Badezimmertoilette schon einen Platz reserviert. Bis dahin steht dort eine wunderschöne Donald-Duck-Replika.

Ihre aktuelle „Phaedra Farewell“-Tour greift den Titel Ihres 1974er-Albums auf. Diese Aufnahme bräuchte – wie viele aus der Virgin-Ära – dringend ein weiteres Remastering, welches die Räumlichkeit und Transparenz besser herausarbeitet.
Froese: Vieles, was musikalisch und tontechnisch verbessert werden könnte, liegt in den Händen jener Plattenfirmen, mit denen wir damals unter Vertrag standen. Somit ist es deren Aufgabe, diese Verbesserungen vorzunehmen. Dass diese Firmen durch Unwissenheit und Inkompetenz oft an diesen notwendigen Aufgaben scheitern, darf man uns nicht anlasten.

„Phaedra“ mit seinem fast 18-minütigen Titelstück war 1974 hoch in den britischen Charts, was aus heutiger Sicht unglaublich anmutet. Warum waren Käufer damals offener für Experimente als heute?
Froese: 1974 existierte auf dem Tonträgermarkt nichts Vergleichbares. Dadurch hatten wir es leichter, auf diese neuen Klänge und rhythmischen Strukturen aufmerksam zu machen. Heute arbeitet fast jede Band mit Synthesizern, und es ist schwieriger, bahnbrechend neue Musik kommerziell auszuwerten.

Auch Ihre „Tatort“-Single „Das Mädchen auf der Treppe“ war 1982 in den Hitlisten. Sie sollen das damals als „Betriebsunfall“ bezeichnet und sich entschuldigt haben. Hatten Sie Angst, an Glaubwürdigkeit einzubüßen, wenn Sie plötzlich neben Abba und Nicole gelistet werden?
Froese: Ich habe mich für diese Produktion nie entschuldigt, da es musikalisch genau die Musik war, die in diesem „Tatort“ sinnvoll angelegt war. Dass daraus ein Hit wurde, konnten wir nicht planen, und es war auch nicht vorhersehbar, insofern könnte man es als „Betriebsunfall“ bezeichnen, allerdings mit positiven Nebenerscheinungen.

Insgesamt haben Sie zu über 60 Filmen Soundtracks beigesteuert und mit den größten Regisseuren gearbeitet. Welchen weiteren Namen würden Sie sich gern noch als Kerbe in den Colt ritzen?
Froese: Wir haben keinen Western vertont, deshalb besitze ich für Gravuren dieser Art auch keinen entsprechenden Gegenstand … Wahr ist allerdings, dass fast 16 Jahre für Hollywood musikalisch arbeiten zu dürfen eine unschätzbare Erfahrung bedeutet. Spielberg und Tarantino sind zwei Regisseure, für die zu arbeiten noch äußerst reizvoll wäre.

Sie sind die einzige Konstante bei Tangerine Dream und verwalten sozusagen eine Weltmarke. Wie viel Euro müsste man auf den Tisch legen, um sie Ihnen abzukaufen …?
Froese: Ich war und bin nicht käuflich, und daran wird sich auch bis zum Ende meiner Tage nichts ändern.

Foto: MFP




13 Oktober 2012

Bye, Nils

Mitte oder Ende der 90er, als ich noch mit J. befreundet war, erzählte er mir, er würde häufig mit dem Sänger Nils Koppruch verwechselt.

In der Tat sahen die beiden sich ähnlich, doch es gab einen Unterschied: Immer, wenn man Koppruch auf den Straßen oder in den Kneipen von St. Pauli begegnete, sah er – im Gegensatz zu J. – übernächtigt aus.

Er schien wenig zu schlafen und viel zu arbeiten, als Musiker und als Maler. Schon früh hatte er tiefe Falten im Gesicht, er war praktisch immer unrasiert, und wenn man seinem Blick begegnete, fielen einem die dunklen Augen auf.

Am Mittwoch ist Nils Koppruch plötzlich gestorben, mit 46.
Meine Generation.

Seinen tiefen Stirnfalten wird man auf St. Pauli nie mehr begegnen. Und bald werden auch die Kerzen und Blumen vor seinem Atelier in der Wohlwillstraße wieder verschwunden sein.



08 Dezember 2010

Der Tag, an dem John Lennon starb



Es war heute vor 30 Jahren. Wir saßen gerade am Mittagstisch, meine Eltern und ich. Das Radio lief, die Nachrichten begannen, und die erste Meldung war die von John Lennons Ermordung.

Mich traf das wie eine Dampframme. Lennon war immer dagewesen. Zwar hatte ich die Beatles durch die Gnade der späten Geburt erst nach ihrer Auflösung kennengelernt, doch seither gehörten sie unverrückbar zur Belegschaft meines persönlichen Olymps. Und Lennon war ich – im Gegensatz zu McCartney – auch nach dem Ende der Beatles treu geblieben.

Songs wie „Mother“ oder „God“ gehörten (und gehören) fest zum Kanon meiner Lieblingslieder, von Lennon lernte ich, was Entzugserscheinung auf Englisch heißt („Cold turkey“) und wie man mit pseudonaiven Slogans („Give peace a chance“) derart die Welt rocken kann, dass sich sogar der Geheimdienst für einen interessiert.

Sicher, die Welt erschien mir ziemlich trübe Ende der 70er, doch so lange Lennon da war, war sie zumindest ein kleines bisschen besser als völlig schlecht. Und plötzlich sagt irgend so ein dahergelaufener Nachrichtensprecher, John Lennon sei erschossen worden.

Meine Eltern aßen weiter, als sei nichts passiert. Für sie war ja auch nichts passiert. Der mit diesem „Yeah, yeah, yeah!“, das sie immer so verachtet hatten, war jetzt tot. Ihr ungerührtes Weiteressen war ein einziges „so what?“, während ich dasaß und mit einem Gefühlswirrwarr aus Schockstarre und der Empörung über fehlende elterliche Schockstarre zurechtkommen musste.

Die innerfamiliäre Entfremdung begann zwar nicht erst an jenem 8. Dezember 1980, doch im fernen New York City hatte sie ein Psychopath namens Mark Chapman gerade nicht unwesentlich
beschleunigt.

16 Jahre später zog ich dorthin, wo John Lennon sich das Handwerkszeug zum Superstar geholt hatte: nach Hamburg St. Pauli. Heute, an seinem 30. Todestag, würde ich liebend gerne sagen können, dass es da einen Zusammenhang gibt.

Und deswegen sage ich es einfach mal.

Nachtrag vom 8. 12. 2010, 19:27 Uhr: Man hat mich zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass die Szene am Küchentisch nur am 9. Dezember 1980 stattgefunden haben kann, und das stimmt. Die Tat geschah am 8. Dezember abends nach New Yorker Zeit, da war bei uns schon Mitternacht vorbei.