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29 August 2008

Sie hatte zehn Taschen

Eigentlich wollte ich diesen Eintrag mit einer ausufernden Selbstbeschimpfung beginnen. Ich plante mich Noppensohle zu nennen, alternativ auch Rumpelhirn und Leergutverwalter, Intelligenzlemming, IQ-Funzel, Hirnrisspfleger und Glatzenbatzen.

Dann entschied ich mich doch, damit erst einmal zu warten und lieber mit dem Essen bei Senait anzufangen. Während sie uns meisterlich bekocht (Viktoriabarsch), lasse ich ihren Sohn immer wieder Richtung Decke fliegen. Der Kleine quiekt vor Glück – genau wie ich nur wenige Stunden später, aber aus ganz anderen Gründen.

Bei Esprit in der Mönckebergstraße plane ich eine Jacke zu kaufen. Mein wichtigstes Jackenkaufkriterium, welches sich übrigens exakt deckt mit meinem wichtigsten Hosenkaufkriterium, ist folgendes: viele Taschen. Und Esprit hatte mich per Mail mit der Aussicht auf zehntaschige Jacken in die Mö gelockt. Zehn Taschen!

Trunken vor Vorfreude radle ich hin und probiere eine um die andere Jacke an, doch jede hat irgendeinen Makel. Entweder ist mir der Kragen am Hals nicht kommod, oder die schrägen Seitentaschen sind unangenehm weit hinten angetackert. Auch eine Frontknopfleiste überm Reißverschluss (wer denkt sich so was AUS?) führt zur Abwertung in der B-Note. Jede innen applizierte Westensimulation erregt zuverlässig mein Missfallen. Gewisse Farben sind so gar nicht meine, o nein, und mancher Jacke gebricht es einfach – man ahnt es schon – an der nötigen Anzahl Taschen.

Und wenn sie da sind, die Taschen, dann müssen sie natürlich auch das Volumen haben, um etwa meiner Geldbörse eine sichere Heimstatt zu bieten. Ein Test ergibt: Die Börse passt. Dennoch hänge ich in letzter Sekunde die bis dahin favorisierte Jacke zurück und verlasse nur mäßig frustriert den Laden.


Zwar trage ich nun weiterhin eine lediglich viertaschige Jacke, doch immerhin umging ich trotz aller Versuchungen jeglichen Konsumakt, was stets mit innerem Behagen einhergeht – und ja, ich weiß, diese Haltung macht die deutsche Wirtschaft kaputt, mündet direkt in die Rezession, führt zur Machtübernahme der Linken und löst unweigerlich einen Tsunami aus, der Hamburg weg- und sämtliche Jacken in die Nordsee spült, unabhängig von der Anzahl ihrer Taschen. Mir ist das aber egal.

Eine Stunde später klingelt zu Hause das Telefon. Es ist Esprit, ich höre Bestürzendes: Man verfüge, heißt es, über meine Geldbörse. Sie war in einer Jacke, genauer gesagt: in einer ihrer zehn Taschen.

Ein Kunde hatte das Exemplar anprobiert und stieß baff auf meine Börse inklusive Bargeld, Kredit-, Bank-, Krankenkassen- und Fitnessclubmitgliedskarten, Nummernlisten, Personal- und Presseausweisen, Führerschein, Quittungen, HVV-Abokarte, Lunchbonuskarten vom Nachschlaginder und Pastaitaliener, nutzlosem FC-St.-Pauli-Mitgliedsausweis (ich kriege trotzdem keine Dauerkarte), der Bahncard 25 (zweite Klasse) und nicht zuletzt der Espritclubkarte, dank der ich bei Nichtverweigerung des Konsumaktes Ermäßigung auf die zehntaschige Jacke bekommen hätte.

Der knutschenswerte und anonym gebliebene Finder muss nach seiner Entdeckung ohne jeden Kampf mit seinen inneren Dämonen zur Kasse gegangen sein, wo er meine Börse abgab. „Ein junger Mann“, erzählt mir die Verkäuferin ganz aufgekratzt vom Vergnügen, gute Nachrichten überbringen zu können, „in meinem Alter.“

Noch während meines Telefonats mit Esprits entsteht ein leichter Schweißfilm auf Stirn und Unterarmen. Ich ahne, wie sich Senaits Sohn beim Fliegen gefühlt haben muss. Das Quieken vor Glück habe ich mir aber für danach aufgespart; am Telefon wäre das zu intim gewesen.

GP vertritt übrigens die These, der Ort des Geschehens sei entscheidend für den weiteren Verlauf gewesen; ein H&M-Kunde hätte die Börse nicht abgegeben. Mir hingegen scheint das alles eher eine generelle Charakterfrage zu sein.

Allerdings bin ich Noppensohle, Rumpelhirn, Leergutverwalter, Intelligenzlemming, IQ-Funzel, Hirnrisspfleger und Glatzenbatzen nicht bereit, das in einem weiteren Feldversuch zu verifizieren. Das dann doch nicht.

03 Juni 2007

„There’s a critic in every crowd“

Am Montagabend sehen wir uns alle im Knust. Nicht wahr?!

Die texanische Songwriterlegende Tish Hinojosa spielt dort nämlich ab 21 Uhr ein Konzert, und die Tatsache, dass sie ebenso frisch wie überraschend mit meinem Freund Andreas verheiratet ist, wird sie zu besonderen Höchstleistungen beflügeln, das wage ich mal zu behaupten.

Obwohl Tish schon mehrfach in Hamburg spielte und sie sogar von Ms. Columbo und mir schon mal zum Blumengießen verdonnert wurde, wird das kurioserweise das erste Konzert von ihr sein, das ich leibhaftig besuchen werde.

Das muss gefeiert werden. Wer mit mir ein Bier trinken möchte: An meinem Hemd sollt ihr mich erkennen.

Heute probten Tish und ihr Gitarrist Marvin Dykhuis schon mal in unserem Wohnzimmer einige Songs, darunter das hier zu hörende „Rio Grande“.

Im Hintergrund – ihr hört richtig – quiekt ab und zu ein Baby. Der Kleine ist gute vier Wochen alt und will wohl selbst mal Sänger werden. Was wahrlich kein Wunder wäre: Er gehört Senait Mehari.



Link: sevenload.com

15 Februar 2007

Attacke auf Senait

Heute Abend kam das NDR-Magazin Zapp mit einer Sensation um die Ecke: Senait Mehari, die mit ihrer grausigen Lebensgeschichte als Kind im Krieg zwei Buchbestseller gelandet hat („Feuerherz“, „Wüstenlied“), habe nie geschossen oder an der Front gestanden.

Ja, unfassbar – nur steht das genauso auch in Senaits Büchern. Offenbar ist das Zapp aber nicht genug. Ein bisschen Töten hätt’s wohl schon sein dürfen, damit sie den gruseligen Adelstitel „Kindersoldatin“ auch führen darf. Zapp hat sogar generelle Zweifel – und Zeugen.

Ominöse Leute, die einst mit ihr zusammen waren, behaupten nun, das sei damals gar kein militärisches Lager gewesen, wo Kinder zu Soldaten gemacht wurden, sondern eine Art Schule. Und Senait, die heute kochend vor Wut in der Redaktion auftauchte, wo ich ihr die NDR-Pressemeldung zu lesen gab, Senait also würde diese Zeugen sehr gerne sprechen, sie herausfordern, in aller Öffentlichkeit. Aber die wollen nicht oder sind unabkömmlich, sagt Zapp.

Dabei wären ihre Interessenlagen vielleicht hochbrisant. Einer etwa soll laut Senait der islamistisch geprägten Rebellenorganisation EFL (Eritrean Liberation Front) angehören. Dass dieser Mann die Glaubwürdigkeit eines Ex-Models, das frei herumläuft und gegen die einstige EFL-Praxis wettert, Kinder zu Soldaten auszubilden, liebend gerne pulverisieren möchte, dürfte klar sein.

Leider war so etwas Zapp egal. Lieber hat die Redaktion in hübscher Kleinarbeit Interviewfetzen von Senait so perfide zusammengeschnipselt, als hätte sie gleichsam ein Geständnis abgelegt.

Zur Klarstellung: Ich kenne Senait seit zwei Jahren, ich mag diese temperamentvolle „Buschtante“ (sie über sich), ich bin auf ihrer Seite. Nicht jede ihrer Erinnerungen mag exakt stimmen – wie könnten sie das auch? Die Ereignisse liegen mehr als ein Vierteljahrhundert zurück, sie war damals ein kleines Kind, und ja, sie verwechselt in ihrem Buch Koyoten mit Hyänen.

Doch das, ein paar dubiose Zeugen, die sich vor ihrer Wut verstecken, und ein tendenziös geschnittener Zehnminutenfilm können nichts daran ändern: Dass ich ihr glaube – und froh bin, dass sie niemals einen Menschen erschossen hat.

12 Januar 2007

Senait live


Link: sevenload.com


Jetzt funktioniert der
Senait-Clip. Die technische Qualität ist sehr mau, aber der Groove kommt durch. Hoffentlich.

11 Januar 2007

Verzeih mir

Wenn man Musikjournalist ist, eine Künstlerin privat kennt, ihr Album aber nicht so prall findet und diese Auffassung auch unverdrossen druckt, hat man ein Problem. Im schlimmsten Fall kennt man sich hinterher privat nicht mehr so gut …

Zum Glück ist Senait Mehari die Hartgesottenste von allen – und kündigte mir die Freundschaft nicht.

Ihr sehr groovelastiges Souljazzkonzert gestern Abend im Hamburger Stage Club gefiel mir viel besser als das Album. Die letzte Zugabe filmte ich mit, und als ich nach dem Konzert mit der im sechsten Monat Schwangeren zusammensaß und zur Frage ansetzte, ob ich den Clip verbloggen dürfe, stand just ihr Manager auf und ging irgendwohin, so dass er die Frage nicht hörte.

Senait jedenfalls sagte: „Klar“, und das zählt. Leider misslang später das Hochladen; die majestätische Grooveviertelstunde der Zugabe „Verzeih mir“ will keins dieser blöden Videoportale akzeptieren, deshalb nur ein Foto.

Heute muss ich noch mal in den Stage Club. Gestern bin ich Wirrkopf nach dem Aftershowplausch nämlich einfach gegangen ohne zu zahlen. Ich hoffe, die verzeihen mir.

14 Oktober 2005

Die weißen Bademäntel

Ein Date mit Senait Mehari. Nach einem langen Interview letztes Jahr haben wir uns nicht mehr aus den Augen verloren, jetzt ist sie mal wieder in Hamburg, und wir treffen uns auf ein Bier (4,50 Euro für 0,3 Liter!) im Park Hyatt Hotel.

Merkwürdig: im Foyer, an der Rezeption und sogar im Fahrstuhl sind Menschen in schneeweißen Bademänteln anzutreffen. Sie schlurfen stumm und zufrieden über die Auslage, und ein leicht hospitalistisches Flair macht sich breit. Doch alles ist in Ordnung; diese Häufung weißer Bademäntel liegt einfach nur an der Anziehungskraft des gut ausgebauten Wellness-Bereichs, den das Hyatt seinen Gästen offeriert.

Senait ist wie aufgedreht, obwohl (oder weil) sie einen achtstündigen Interviewmarathon hinter sich hat. Sie erzählt, ihr Vater, zu dem sie keinen Kontakt mehr hat (warum, kann man im Buch „Feuerherz“ nachlesen), habe über sie gesagt: „Ich möchte Senait nicht zum Feind haben.“

Stimmt, es ist mit Sicherheit viel angenehmer, sie zum Freund zu haben. Ich frage, ob sie überhaupt je für eine Weile still sitzen kann. „Ja“, sagt sie, nippt an ihrem Holsten und grinst, „wenn ich schlafe.“


Große Musik, die heute durch den iPod floß: „Far away“ von Martha Wainwright, „Hard to love a man“ von Magnolia Electric Co. und „Cry“ von James Blunt.