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10 September 2024

Wenn die Telekom an deine Tür hämmert

Heute Nachmittag verschaffte sich ein gewisser Leon C. Zugang zu unserem Haus. Er hatte sich unten vorgestellt als „Vertreter Ihres Netzbetreibers“ und mich damit reingelegt. Ich hatte trotz jahrzehntelanger Erfahrung mit derlei Tricks den Summer gedrückt. Grober Fehler. 

Sein Name stand auf einem Mitarbeiterausweis der Telekom, den ich mir später gerade noch so eben zeigen lassen konnte, ehe eine weitere Eskalationsstufe dies unmöglich gemacht hätte. Leon C. – etwa Mitte zwanzig, akkurat frisiert, energisches Kinn; vgl. die Fotos aus dem Netz, die ihm ähnlich sehen – wollte unbedingt mit mir über Glasfaserverträge sprechen. Meinen Hinweis, die entsprechende Mail, die ich neulich von seinem Auftraggeber erhalten habe, genüge mir als Entscheidungshilfe vollauf, ließ er nicht gelten. Stattdessen versuchte er aufdringlich, mich mit rhetorischen Fragen in ein Gespräch zu verwickeln. Das lehnte ich entschieden ab.

Inzwischen standen mehrere Nachbarn in ihren Wohnungstüren, denn Leon C. hatte natürlich überall geklingelt. Ich warnte sie in seiner Gegenwart lautstark vor einem just anwesenden Telekom-Drücker und bat ihn, das Haus zu verlassen, und zwar unverzüglich.

Ob ich Eigentümer sei, schnappte er zurück.
Nein, Mieter, sagte ich.
Dann müsse er auch das Haus nicht verlassen, argumentierte er. Als Mieter habe ich nicht das Recht, ihm derlei zu befehlen.

Unter der akkuraten Frisur glühte es inzwischen puterrot. Außerdem wechselte er unversehens zum Du. Wenn Sie dieses Blog seit seinen Anfängen verfolgen, ahnen Sie, wie sehr mir höfliche Umgangsformen am Herzen liegen. Deshalb fragte ich ihn, warum er mich plötzlich duze, und verbat mir das.

Das brachte Leon C. endgültig auf Zinne. Seine hervorgestoßenen Worte „Wollen wir das klären? WOLLEN WIR DAS KLÄREN?“ kann ich nur dahingehend deuten, dass ihm als angemessene Lösung unseres Disputs eine zünftige Straßenprügelei vorschwebte.

Auch das, Sie ahnen es, ist nicht vollends kompatibel mit meiner Idealvorstellung zivilisierter Umgangsformen. Deshalb beschloss ich mich sicherheitshalber in unsere Wohnung eine Etage höher zurückzuziehen. Allerdings eilte Leon C. mir hinterher. Gerade noch rechtzeitig gelang es mir, die Wohnungstür zu schließen und die Kette vorzulegen. Er schlug mehrfach gegen die Tür.

Zu meiner nicht geringen Schande muss ich leider gestehen, dass ich ihm daraufhin ein herzhaftes „Verpissen Sie sich!“ entgegenschmetterte. Immerhin ohne ihn zu duzen. Auf dieses Niveau wollte ich mich nun wirklich nicht herablassen.

Nach diesem Vorfall scheint mir die Wahrscheinlichkeit, dass jemand hier im Haus demnächst einen Glasfaservertrag mit der Telekom abschließt, ein wenig gesunken zu sein. Und wer weiß: Vielleicht gelingt Leon C. dieser Erfolg ja dank seiner sehr speziellen Drückerkolonnenmethode in ganz St. Pauli.



 

06 August 2024

Der Streetworker von St. Pauli


Das auf dem Foto ist Herr H. Dass er so heißt, habe ich von einem Nachbarn erfahren. Anscheinend hat Herr H. zu Hause keinen Raum, den er als Arbeitsplatz nutzen kann. Deshalb macht er Streetoffice. Herr H. ergreift dazu Stuhl und Laptop, betritt den Kiez, setzt sich auf den Gehweg und arbeitet. Ganz gerne wüsste ich schon, an was. Aber bisher habe ich eine gewisse Scheu, Herrn H. danach zu fragen.

Manchmal errichtet Herr H. sein Streetoffice auch nicht auf dem Gehweg, sondern direkt auf der Straße. Dass dieser Anblick auf herannahende Autofahrer irritierend wirken könnte, kümmert Herrn H. keineswegs. Schließlich sind sämtliche Fahrzeuge mit Lenkrädern ausgestattet und somit in der Lage, mit wenig Aufwand einen Bogen um ihn herum zu fahren. Wenn sie das nicht in der Fahrschule gelernt haben, was dann.

Übrigens habe ich noch nie einen Autofahrer gesehen, der sich über Herrn H.s auf der Fahrbahn errichtetes Streetoffice echauffiert hätte. Man hört ja sonst so allerhand, wie es zugehen soll vor Ampeln und auf Autobahnen. Geschrei, Gepöbel, justiziable Eigenschaftszuschreibungen: All das scheint in Deutschland gar nicht selten vorzukommen. Doch nicht in Gegenwart von Herrn H. Man umkurvt ihn offenkundig verständnisvoll und deshalb kommentarlos. Was er als selbstverständlich hinnimmt.

Nein, Herr H. lässt sich bei dem, was immer er dort tut, nicht stören. Man kann sogar sagen, dass die resiliente Konzentration, mit der Herr H. sein Streetoffice-Pensum abarbeitet, bewundernswert ist. Nichts bringt ihn aus der Ruhe.

Herr H. richtet seinen Stuhl immer nach Westen aus. Zwar scheint ihm dann die Sonne mitten ins Gesicht, doch wenigstens nicht aufs Laptopdisplay. Das könnte schließlich bei der Arbeit stören, eventuell sogar die Qualität der Ergebnisse beeinträchtigen. Deshalb vermutlich nach Westen. Manchmal denke ich, dass Herrn H. eine Schirmmütze guttäte, aber wer bin ich, seine selbst geschaffenen Rahmenbedingungen infrage zu stellen.

Herr H. ist mir bisher ein Mysterium. Steht er vielleicht in der Tradition von Melvilles Schreiber Bartleby? Welche biografischen Wendungen und Winkelzüge führten zu seinem stoischen Dasein als Streetworker im wortwörtlichen Sinn?

Vielleicht überwinde ich demnächst meine Scheu und frage ihn einmal. Dann mehr an dieser Stelle.



26 April 2023

Nur Luden sterben arm

Neulich fragte mich ein Blogbesucher nach meiner Meinung zur Amazon-Prime-Serie „Luden – Könige der Reeperbahn“, und ich musste gestehen, sie bisher nicht gesehen zu haben. Mein Interesse hält sich – nach allem, was ich darüber gelesen habe – auch in Grenzen. Noch eine Serie, die Zuhälter als irgendwie cool und ihren Lifestyle als erstrebenswert darstellt? Das macht so müde.

Zudem bin ich auch als Betreiber eines Blogs namens „Rückseite der Reeperbahn“ nur unzureichend kompetent, um eine Fiktionalisierung glaubhaft mit der Kiezrealität abgleichen zu können. Es gibt ja (mindestens) zwei St. Paulis: das Rotlichtmilieu und das Wohnviertel. Und ich tummle mich seit einem Vierteljahrhundert ganz überwiegend in Letzterem.

Meine Berührungspunkte mit dem Rotlicht sind an einer Hand abzuzählen. Einen echten Luden habe ich zum Beispiel nie kennengelernt. Ich sehe ab und zu Corvettes und Lamborghinis in der Straße parken (hier ein Bild von letzter Woche), aber gehören sie auch wirklich einer Rotlichtgröße? Gerichtsfeste Beweise fehlen. Bei einem Bier im La Paloma lernte ich mal eine Prostituierte kennen, die gerade Pause machte und mich und meinen Begleiter um eine Cola anschnorrte. Sie erzählte uns von ihrer Jugend in Ostdeutschland, was sie nach Hamburg verschlagen und wie sie ein Auskommen im Rotlichtviertel gefunden hatte. Eine freundliche junge Frau, die sich für die Cola bedankte und wieder zurückging an die Arbeit in der Davidstraße.

Persönlich kenne ich nur die nicht nur leicht schillernde Kiezgröße Kalle Schwensen. Der Kontakt kam beruflich zustande. Ich war Musikjournalist, und Kalle hatte die wiedervereinigten Tic Tac Toe am Start. Zeitweise informierte er mich via Facebook über seine Veranstaltungen wie Freistilboxen und Ähnliches.

Zweimal bin ich Kalle Schwensen in natura begegnet, und seither meide ich den Kontakt – vor allem deswegen, weil sein größter Ehrgeiz darin zu bestehen scheint, einem bei der Begrüßung den Mittelhandknochen zu brechen. Muss nicht sein. Auch dass er als selbst ernannter Welterklärer zuletzt mit Corona-Verschwörungsfantasien verhaltensauffällig wurde und Wolodymyr Selenskyj und Annalena Baerbock für europäische Großverbrecher hält (nicht aber Putin), spricht kaum dafür, den Kontakt zu reaktivieren.

Im Fitnessstudio begegnete mir ab und zu mal Inkasso-Henry, der in seiner großen Zeit für Luden Geld eintrieb. Henry ächzte und keuchte beim Bankdrücken wie ein Pottwal mit Katarrh. Irgendwann tauchte er nicht mehr auf, und dann las man Nachrufe auf ihn – wie jetzt auf den einstigen Nutella-Gang-Luden Klaus Barkowsky, der gestern früh vom Balkon seiner Wohnung in Altona gesprungen sein soll. Unter anderem seine Geschichte erzählt die erwähnte Amazon-Prime-Serie.

Was auffällt bei solchen Geschichten über Kiezgrößen, die sich einst die Zigarren mit Hundertmarkscheinen anzündeten: Die meisten (oder alle?) wurden arm, und sie sterben arm. Wo sind all die Millionen hin, die junge Frauen auf St. Pauli für sie erwirtschaftet haben? Jede Ludengeschichte, die ich je gehört habe, endet traurig, tragisch, deprimierend. Die Serie „Luden – Könige der Reeperbahn“ dürfte diesen Aspekt ihres Lifestyles aussparen. Aber wie gesagt: Ich habe sie nicht gesehen.

Wer sich hingegen bis heute mit cleveren Aktivitäten immer über Wasser halten konnte, ist Kalle Schwensen. Aktuell betreibt er einen anscheinend gut frequentierten Sadomasoklub in der Erichstraße. Aber Kalle ist ja auch kein Lude. Vielleicht bietet das die beste Chance, auf St. Pauli nicht arm zu sterben.



28 Februar 2023

Meine Chakren sind nur noch Granulat

Ich hatte über Groupon einen günstigen Massagegutschein geschossen, mich aber vorher nicht umfassend über den Anbieter informiert. Als ich nun zum vereinbarten Termin vor der Tür der Praxis stand und die Angebotsliste studierte, wurde mir klar, wo ich hier unfreiwillig hingeraten war.

„Spiritual Body Healing“, Sakralenergien, Chakradingens: Ich stand eindeutig vorm Hades der Esoterik. Wer schon länger in diesem Blog herumstöbert, kennt meine Haltung zu Humbug jeder Couleur. Insofern möchte ich Sie ermuntern, mir höchste Anerkennung zu zollen für den nächsten Schritt, den ich tat: Ich drückte trotz alledem die Türklinke und betrat diese Massagepraxis.

Nach dem Empfang durch einen muskulösen Herrn fernöstlicher Provenienz betrat ich die Toilette und gewahrte eine merkwürdige Rohrkonstruktion, die vom Wasserhahn des Waschbeckens zu einer Apparatur führte. Ein daran gehefteter Zettel informierte mich darüber, dass diese für eine „Informationslöschung auf null“ beim Wasser sorge.

Schwer stützte ich mich einen Moment auf die Keramik. Ja, ich war wirklich im Hades der Esoterik. Würde es mir gelingen, wieder unbeschadet zu den Gestaden der Wirklichkeit zurückzukehren?

Jedenfalls reduzierte ich angesichts der Wasserinformationslöschung auf null meine Erwartung an die bevorstehende Massage ebenfalls auf genau dieses Maß. Wahrscheinlich würde mir der Mann, ungeachtet seiner definierten Muskulatur, einfach nur eine Stunde lang die Chakren streicheln, Energieströme beflüstern und somit Dinge zu heilen versuchen, die a) nicht existierten und b) wenn doch, gar nicht kaputt waren.

Enorm erwartungsarm legte ich mich auf den Massagetisch und schaute, innerlich resigniert seufzend, einer von Klingklangmuzak umdudelten Wohlfühlstunde entgegen. Doch dann legte der Mann los. Und wie. Mehrfach musste ich in den folgenden sechzig Minuten Schmerzensschreie unterdrücken und vermochte sein sporadisches „Okay so?“ nur mit einem mühsam geächzten, Tapferkeit simulierenden „Ja, geht, kein Problem“ zu beantworten. 

Am Ende waren meine Chakren Granulat. Er hatte meine Muskulatur aufgebrochen wie der Jäger das Wild. Und als er mich fragte, wie ich es gefunden habe, gestand ich ihm, eher auf Wellness eingestellt gewesen zu sein als auf eine amtliche Sportmassage.

„Nein, nein“, lachte er und schüttelte den Kopf. „Das war ganz klassisch. Bei einer Sportmassage wäre ich viel tiefer reingegangen.“


PS: In Ermangelung eines Beweisfotos gibt es hier eine Alsterimpression zu sehen – immerhin liegt die Praxis in der Nähe dieses Gewässers.



27 Juli 2022

Der Müllesser

Gestern hielt ein Radfahrer bei den hier abgebildeten Papiertonnen in unserer Straße. Er sah ganz normal™ aus. Etwa Mitte 30, gepflegt, gut rasiert, blaues T-Shirt, helle Chinohose. Auch sein 28er-Herrenrad erweckte nicht den Eindruck, als sei es unter Vernachlässigung depressiv geworden.

Der Mann hielt also an, ohne abzusteigen, klappte die blaue Abdeckung hoch und begann die Abfälle zu sichten. Eine Papierschicht nach der anderen räumte er beiseite, hob hier eine Tüte an und dort einen Pappkarton. Plötzlich stutzte er – und zog eine aufklappbare Styroporbox hervor, eine, wie man sie von Restaurants bekommt, wenn man etwas zum Mitnehmen bestellt hat. Er öffnete sie. Sie war gefüllt mit Essensresten.

Von unserem Balkon aus war nicht zu erkennen, um was genau es sich handelte. Vielleicht Pommes frites oder etwas Ähnliches. Jedenfalls gelblich braun. Dann griff er hinein – und begann zu essen. Allerdings nur einige Bissen. Anscheinend hatte er mehr erwartet, Hochwertigeres, Schmackhafteres. Schließlich kam es aus einer Mülltonne auf St. Pauli, da darf man schon gewisse Ansprüche haben, nicht wahr.

Jedenfalls legte er die Styroporbox zurück in die Altpapiertonne und setzte seine Investigation deren Inhalts fort. Irgendwann stieß er auf eine Getränkedose. Ohne sie probeweise zu schütteln oder eine anderweitige Prüfung ihres Inhaltes vorzunehmen, setzte er sie umstandslos an die Lippen, legte, ohne zu schnacken, den Kopp in’ Nacken und trank. Dann legte er die Büchse zurück und fuhr davon, in ein fremdes und seltsames Leben.

Die ganze Zeit hatte ich hinuntergestarrt wie paralysiert. Denn mal im Ernst: Welcher Vollhorst entsorgt Lebensmittel in eine Altpapiertonne? Das verstößt gegen sämtliche Prinzipien der deutschen Mülltrennung!

Alle weiteren Fragen, die mir seit diesem Vorfall unablässig durch den Kopf schwirren, möchte ich an dieser Stelle nicht ausbreiten, denn eines weiß ich sicher: 

Sie stellen sie sich ebenfalls.



16 Januar 2022

Der reihernde Hund im Bus 112

Ein früherer Freund von mir war ein ausgewiesener Feind des öffentlichen Nahverkehrs. Aufgrund rarer, aber nachdrücklicher Erfahrungen beklagte er in Bussen und Bahnen olfaktorische Belästigungen, zu wenig körperliche Distanz zum Pöbel und eine generell unzulängliche Bekleidungsästhetik. Immer wenn ich ihn überreden konnte, einmal mit mir ein ÖPNV-Fahrzeug zu betreten, geschah prompt irgendetwas, was ihn in seinem Vorurteil bestätigte, und ich stand belämmert da.

Heute wäre mal wieder so ein „Siehst du, ich hab’s dir ja gesagt“-Tag für ihn gewesen. Tatort war ein Bus der Linie 112, den wir bestiegen, um nach Blankenese zu gelangen. Es begann schon damit, dass der Fahrer einen Gast am Einsteigen zu hindern suchte, weil dieser nur eine OP- und keine FFP2-Maske trug, wie es seit gestern in Hamburg vorgeschrieben ist. Der Fahrgast ignorierte diese Forderung geflissentlich und betrat den Bus, was der Fahrer widerspruchslos hinnahm.

Schlimmer aber war das bei unserer Ankunft bereits anwesende mittelalte Herrentrio im hinteren Teil des Busses. Alle drei waren wohl ebenfalls trotz des Fahrerprotestes ins Innere gelangt, denn auch sie trugen nur OP-Masken, und das nicht einmal mit jener Akkuratesse, die wenigstens die Basisfunktionen dieses Modells abgerufen hätte. Zudem krakeelten sie zugunsten einer optimalen Aerosolverteilung lautstark herum.

Wir hofften, all diese Kantonisten würden alsbald das Fahrzeug wieder verlassen, doch Pustekuchen. Stattdessen stieg eine Frau mit einem dreibeinigen Hund zu, der alsbald in den Gang reiherte, fest und flüssig. Die Versuche von Frauchen, die sich rasch über drei Längenmeter ausbreitende Bescherung zu beseitigen, gelang nur unzulänglich. Obwohl der Hund nach Kräften half, indem er einen Teil aufleckte.

Wir öttelten weiter Richtung Blankenese. Am Nienstedtener Marktplatz begehrte ein Rentner Einlass, der ebenfalls nur eine OP-Maske trug, und zwar konsequenterweise gleich unterhalb der Nase; war ja eh wurscht. Erneuter Versuch des Busfahrers: „Seit gestern Zustieg nur noch mit FFP2-Maske.“ Was aber hatte der Rentner leider nicht dabei? Eine ebensolche. Eine Frau unter den Fahrgästen half ihm glücklicherweise aus, sodass er eingelassen wurde. Die Maske setzte er dann verkehrt herum auf, mit der Nasenklammer unterm Kinn. Und wenn er seiner Bekannten, zu der er sich gesellte, etwas Wichtiges mitteilen wollte, zog er die Maske der besseren Verständlichkeit wegen runter.

In Blankenese verließen wir diesen Bus des multiplen Unbills eilends. Die Argumente des ehemaligen Freundes sehe ich plötzlich in einem ganz anderen Licht.

Und dabei hatte er wahrscheinlich noch nicht mal einen Hund in den Gang kotzen sehen.





27 Oktober 2021

Unter Corona (15): Beim IQ-Test durchgefallen

O Blog, welch eine Brache! Aber es ist ja auch nix los auf St. Pauli. Abgesehen vom inzwischen längst wieder verhallten Lärm der schwarz gekleideten Rostocker Fußballfans vom vergangenen Wochenende.

Deren Intelligenzquotient war nicht nur ablesbar an der rhetorisch feinziselierten und choral vorgetragenen Kritik, die sie an ihrem Zweitligagegner übten („Scheiß-St.-Pauli!“), sondern auch an der Tatsache, dass sie ohne Eintrittskarten angereist waren. Ihr Verein nämlich, der FC Hansa Rostock, hatte das komplette Gästekartenkontingent zurückgegeben, und zwar aus Protest gegen die Unzumutbarkeit der 2-G-Regel, die der FC St. Pauli als Einlassvoraussetzung erlassen hatte.

Ich meine: Da fährst du los in Rostock in dem vollen Bewusstsein, dass du 150 Kilometer weiter in Hamburg mit Ansage gewaltigen Frust schieben wirst, weil du nicht ins Stadion darfst. Das weißt du vorher, und du weißt auch, dass dir dann nichts anderes übrig bleiben wird, als polizeieskortiert durch die Kiezstraßen zu ziehen und hilflos „Scheiß-St.-Pauli!“ zu brüllen.

Was treibt solche Leute an? Wie muss man sich ihre Prioritätensetzung im Leben vorstellen? Wen konnten sie mit ihrem überschaubaren Liebreiz zu einer romantischen Beziehung überreden? Wer nennt sie Schatz oder Papa?

Nein, das Universum hat es wirklich nicht leicht mit uns Menschen. Das gilt auch im Hinblick auf Corona. Diese Pandemie kommt mir immer mehr vor wie ein groß angelegter Intelligenztest. Und leider bestehen ihn manche nicht. Sie fallen sogar krachend durch, manchmal sogar mit letalen Folgen.

Ob diesbezüglich die Rostocker Fußballfans vom Wochenende beim Pandemie-IQ-Test im oberen Drittel abschneiden, wage ich zu bezweifeln. Masken habe ich jedenfalls keine gesehen in diesem dicht gepackten Block von ungefähr 200 Chorsängern. Aber wenn ihr eigener Verein gleichsam offiziell gegen eine Maßnahme zur Pandemieeindämmung protestiert, kann man es ihnen vielleicht nicht mal übelnehmen.

Jetzt sind sie jedenfalls wieder weg, zurück in Rostock. Dank der Fahrtkosten etwas ärmer, aber um keinerlei Erlebnis reicher. Mit Ansage.

O IQ, welch eine Brache!



13 Juni 2021

Unter Corona (14): Die Rückkehr des Bösen

Seit Monaten pinkelte, kotzte und kackte uns niemand mehr in den Hauseingang, und samstagsmorgens, wenn ich zum Brötchenholen aufbrach, musste ich von dort auch keine Junkies mehr verscheuchen. Ehrlich gesagt: Nicht alles war schlecht am Lockdown. So sorgte er zum Beispiel auch für einen spürbaren Krakeelerschwund.

Natürlich, diese jeglicher Außenwirkungskontrolle abholden Herumbrüller waren auch vor Corona auf St. Pauli nicht endemisch, doch sie empfanden unser Viertel als natürliches Habitat und prägten durchaus das hiesige Biotop. Vor allem durch die kiezspezifisch beständige Zufuhr von Alkoholika vermochten die Krakeeler St. Pauli akustisch mit großem Erfolg in Beschlag zu nehmen. Demzufolge war ihr Besatz im Viertel vor Corona enorm.

Doch nachdem hier alles schließen musste, sank der Krakeeleranteil signifikant. Dem verbliebenen Restbestand erwuchs allerdings ein Killerfeature, welches den zahlenmäßigen Schwund mehr als auszugleichen in der Lage war. War die von ihnen ausgehende Belästigung bisher ausschließlich sonischer Natur, so wurden diese Leute im Zuge der Krise nun auch zu hoch effizienten Aerosolemittenten. Zwar war das auch vorher schon der Fall, aber auch ziemlich egal, da ihre eruptiven Speichelwölkchen coronafrei waren. Nun hatte dieses Phänomen seine Unschuld verloren. Wir hielten in den Monaten der Einschränkungen also noch mehr Abstand zu den Restvorkommen dieser Spezies als eh schon.

Jetzt, seit den Lockerungen, ist im Grunde alles wie vorher: Enthemmte Teilnehmerinnen von Junggesellinnenabschieden torkeln wieder Lieder kreischend durch die Straßen, ohne sich im Geringsten um Ton- und Textsicherheit zu scheren, Horden junger Betrunkener versuchen sich selbst auf Kurzdistanz so zu verständigen, als wären ihren Saufkumpanen die Hörgeräte abgestürzt, und die Rückkehr der Harleyhirnis führt uns vor Ohren, welch erstaunlich unterstützende Wirkung 120 Dezibel auf unsere Mordlust haben.

Doch nicht nur der Lärmpegel nähert sich hier wieder seiner Vor-Corona-Infernalität. Vor unserer Haustür liegt auch sonntagsmorgens wieder das übliche Junkiebesteck (Foto), und beim Kiezbäcker hörte man wieder Dialoge wie folgenden (absolut authentisch, ich schwör): „Digger, machst du mir ’n Brötchen mit Pute klar? Und ’ne Capri-Sonne? Und 'n Eistee, Digger!"

Lockdown, wo bist du, wenn man dich mal braucht?




23 Februar 2021

Wie ich mal Albert Einstein bestätigte

Gestern bei Penny an der Reeperbahn versuchte ich wie üblich kontaktlos zu zahlen und hielt meine Karte vors Lesegerät. Es piepte empört. Die Kassiererin schaute irgendwo ins Nirgendwo und sagte: „Falsche Karte.“

Jetzt sah ich es auch: Auf dem Display stand in Großbuchstaben „FALSCHE KARTE“. Aber an meiner Karte, sehr verehrtes Penny-Kartenlesegerät, ist ganz und gar nichts falsch! Es ist meine sturmerprobte Haspa-Girocard. Sie tut immer klag- und seit längerer Zeit gar kontaktlos ihren Dienst.

Die Kassiererin schaute weiter desinteressiert und überließ mir das weitere Vorgehen. Mir fiel Albert Einsteins Definition von Wahnsinn ein: „immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten“. Also hielt ich die Karte noch einmal vor die magisch-magnetische RFID-Fläche, und siehe da, diesmal klappte es. Aus der falschen Karte war unversehens die richtige geworden. Einstein war bestätigt. Mein Wahnsinn ebenfalls. 

„Treuepunkte?“, murmelte die ins Nirgendwo blickende Kassiererin hinter ihrer Maske. „Nein“, sagte ich und ergänzte im Bestreben, sie und die ganze Situation ein wenig aufzuheitern, „ich bin nur meiner Frau treu.“ Sie schaute nicht mal hoch. „Kassenzettel?“ „Ja, bitte.“ 

Wie wir aus einem unlängst hier veröffentlichten und reich bebilderten Blogtext wissen, hat sich der besagte Penny-Laden auf der Reeperbahn vor Kurzem äußerst rotlichtkompatibel aufgehübscht. Aber was nützt es, uns per Neonleuchte mit einem kobernden „Komm knabbern“ zu umsäuseln, wenn es dem Personal an jedweder Milieukompatibilität gebricht? 

Denn mal ehrlich: Mit Schmallippigkeit, Desinteresse und einem Blick ins Nirgendwo hat in der Davidstraße noch keine Bordsteinschwalbe je einen Wurm aufgepickt. Es sei denn einen, der genau auf so was steht. 

Ich gehöre nicht dazu.


03 Januar 2021

Drei Begegnungen

1. Wir werden Zeugen eines bereits laufenden Streits in der Balduinstraße. Beteiligt sind zwei Männer, der eine am Gehwegzaun, der andere auf einem Balkon im zweiten Stock. Wenn ich mir das richtig zusammenreime, hat der Mann auf dem Balkon den anderen mit kritischem Unterton bezichtigt, eine Stange Wasser in die Ecke gestellt zu haben. Das regt den Pinkler mächtig auf.

Es gebe keinerlei Grund, ihn zu kritisieren, „nur weil ich pisse“, und überhaupt, fährt er argumentativ diskutabel fort, „ficke ich deine Mutter, du Hundesohn“. Ein kühnes Versprechen, denn wahrscheinlich hat er nicht mal die Kontaktdaten der guten Frau.

Seine Willensbekundung gibt allerdings auf gleich mehreren Ebenen Anlass zum Nachdenken. Mir hat sich zum Beispiel noch nie so recht erschlossen, warum manche Männer – vor allem auf dem Kiez – sich derart oft der Fantasie hingeben, mit der Erzeugerin eines zufälligen Kontrahenten sexuell zu interagieren, obwohl doch die Gefahr besteht, dass die Auserwählte in einem inkompatiblen Alter sein könnte.

Na gut, manche stehen auf Milfs. Aber in der Regel wissen sie in Fällen wie dem vorliegenden doch null Komma nichts über deren vielleicht sogar gänzlich fehlende äußere Anziehungskraft. Dabei entzünden sich erotische Fantasien doch gewöhnlich an der Optik. Hier aber, in der Balduinstraße, gibt es nicht den kleinsten Anhaltspunkt, wie diese denn beschaffen sein könnte. Der Mann am Zaun gibt also quasi einem Blind Date eine Beischlafgarantie!

Doch nicht nur das lässt unsereins vorwurfsvoll die Stirn runzeln. Auch die Rhetorik dieses Wildpinklers erscheint mir durchaus grenzwertig. Es wird jedenfalls ein schwieriges Jahr, wenn dein Karmakonto schon am 1. Januar hüfthoch im Dispo steht.

2. Am Tag vor Silvester fährt in der Neuen Großen Bergstraße ein mit bunten Tüchern und Blinklichtern verziertes Fahrrad an uns vorbei. Im Gepäckkorb befindet sich ein Ghettoblaster (sagt man das noch?). Das Gerät spielt aber keine Musik ab, sondern Feuerwerksgeräusche. Ein, wie ich finde, lobenswert kreativer Umgang mit den Einschränkungen, die in diesem Jahr den Jahreswechsel prägen.

3. In der Detlev-Bremer-Straße (Foto) schiebt sich ein Mann die Maske unters Kinn. Dann holt er eine zweite Maske aus der Jackentasche und schnäuzt ergiebig hinein.

2021 kann wirklich nur besser werden.





03 Dezember 2020

Neues aus St. Pauli (vor allem Skurriles)

Gestern gingen wir an der Simon-von-Utrecht-Straße lang und sahen einen jungen Mann mit langen Haaren, der wie schwebend über dem Gehweggeländer hing und mit Armen und Beinen zappelte. Zunächst dachte ich, er hätte beim Vornüberbeugen die Balance verloren, um deren Rückgewinnung er nun mit grotesken Schlenkereien kämpfte, dann aber schien mir ein epileptischer Anfall doch wahrscheinlicher. 


Ich beschloss auf Nummer sicher zu gehen und fragte: „Brauchen Sie Hilfe?“ Sofort rappelte der Mann sich auf, nahm Haltung an und sagte lächelnd: „Alles okay.“ Wir gingen weiter, nachhaltig irritiert. Einen Reim darauf können wir uns noch immer nicht machen – und verbuchen es einfach unter der in allen Farben einer Ölspur auf der Elbe schillernden Rubrik Kiezskurrilitäten.

Am Tag zuvor war mir etwas passiert, was allerdings eher weniger zu St. Pauli zu passen scheint. Um die Engstelle einer großen Baustelle in der Detlev-Bremer-Straße zu umfahren, wechselte ich mit dem Rad kurz auf den Gehweg. Der war allerdings versperrt, worauf mich ein mir in den Weg tretender Bauarbeiter auch freundlich hinwies. Neben ihm stand eine kleine Greisin, die mich anfunkelte und wie aus dem Nichts giftete: „Schade, dass nichts von oben runterfällt!“

Auf St. Pauli gehört ja – wer hier seit 2005 mitliest, weiß das besser als jene, die das nicht tun – die kleine Regelverletzung quasi zur Kernkompetenz, weshalb mich diese unverhohlen vorgetragene Gewaltfantasie doch ziemlich verdatterte. Wegen eines Schlenkers auf den Gehweg wünscht diese Rentnerin mir den Tod an den Hals oder zumindest einen Schädelbruch …? Na ja, wahrscheinlich ist sie zugezogen und habituell noch in Eppendorf.

Ganz und gar zum Kiez hingegen gehört das Filmemacherkollektiv FILM FATAL, dessen schön düster gestaltete Website zwar keinerlei Links enthält, dafür sein YouTube-Kanal umso mehr.

Das Team um die Produzentin Claire Bouillet hat vor zwei Jahren die tragikomische, fast durchweg auf St. Pauli spielende Webserie „Freelancers“ gedreht, auf die ich zu meiner Schande erst dank einer Mail der erwähnten Produzentin aufmerksam wurde. Bei „Freelancers“ handelt es sich um acht knackige Fünfminüter über das prekäre Gezappel dreier Zwangsselbstständiger – eine Thematik, die erst im Coronajahr so richtig an Durchschlagskraft gewonnen hat, weshalb FILM FATAL jetzt dankenswerterweise eine zweite Staffel hinterherschickt.

Das Ganze erinnert mich mit seinem traurigen Witz an die grandiose ORF-Serie „Schlawiner“, wobei „Freelancers“ deutlich ambitionierter gefilmt ist. Selten sah die sich im Schicksal der Protagonisten spiegelnde herbstliche Kieztristesse ästhetischer aus als durch den Blick der Kamera von Jerry Suen und Julian Harenberg – beide wie auch der Rest von FILM FATAL übrigens (natürlich) Freelancer.

Weil’s so schön ist, hier die Direktlinks zu allen acht Folgen der ersten Staffel (das Foto oben stammt aus Folge zwei):





23 August 2020

Warum ruft er bloß die Bullen nicht?


Nach dem Ausbruch der Coronakrise hatte die Rabatzfrequenz unterm Balkon deutlich abgenommen. Aber ganz allmählich zieht sie wieder an. Heute Nachmittag zum Beispiel: Rabatz unterm Balkon! Also Blick über die Brüstung.

Unten flitzt ein junger Mann die Seilerstraße (Archivbild) lang, überholt ein gemütlich dahin karriolendes Fahrrad, klammert sich am Lenker fest und zwingt es so zum Halten. Auf dem Rad sitzt ein kompakter, ansatzweise ergrauter Typ in seinen Vierzigern, mit Shorts und Übergrößen-T-Shirt. Aus der Brüllorgie, die der Jüngere ihm unter Missachtung aller Abstandsregeln ins Gesicht fetzt, schließe ich rück, dass Letzterem gerade das Fahrrad geklaut wurde. Und zwar von dem kompakten Typ, der darauf sitzt.

Ein Dieb wird in flagranti erwischt, in aller Öffentlichkeit der Tat bezichtigt und geht am Ende der Beute verlustig: Das erlebt man auch auf St. Pauli eher selten. Bisher eigentlich noch nie.

Zunächst aber bleibt der Mann auf dem Sattel einfach stumm sitzen und hört sich an, was der Jüngere noch so alles zu brüllen hat, zum Beispiel: „Steig endlich ab!“ Schließlich löst sich der Mann aus seiner Lähmung und kommt diesem Ansinnen nach. In aller Ruhe steigt er vom Rad, nimmt noch etwas Kettenartiges vom Lenker (das scheint definitiv ihm zu gehören, denn der Jüngere interveniert nicht) und schlurft gelassen davon.

„Kannst froh sein“, schreit der Fahrradeigentümer ihm hinterher, „dass ich nicht die Bullen rufe!“, und ich frage mich augenblicklich: ja, warum denn eigentlich nicht? Warum rufst du nicht die Bullen? Was um der Davidwache willen wäre falsch daran? Endlich könnten die – statt immer nur hoffnungslose Anzeigen aufzunehmen – mal einen der sonst so verlässlich Davonkommenden hopsnehmen. Stattdessen schlurft der Dieb gelassen davon und widmet im Vorübergehen den unterm Haus am Geländer angebundenen Rädern einen interessierten Blick. Auch meinem.

Der beinah Bestohlene ruft ihm derweil weiter Beschimpfungen hinterher, darunter das immer wieder gern genommene „Wichser!“. Ob diese Bezichtigung hier berechtigt ist, dafür kann ich von meiner Balkonwarte aus jedoch keine konkreten Indizien benennen. Und dafür bin ich sehr dankbar.


 

06 März 2020

Vielleicht Salzsäure?

Heute kam ein Mann mit zwei Bierhumpen aus der erst neulich erwähnten Kiezkneipe Tippel II, als ich dort gerade die Straße überquerte. Beide Gläser waren halb gefüllt mit einer farblosen Flüssigkeit, augenscheinlich Wasser. Was will er damit, und wo will er hin?, fragte ich mich im Vorübergehen. 

Die Antwort gab er prompt. Der Mann ging nämlich stracks zum roten Hängemülleimer und kippte das, was immer auch die Humpen halb füllte, dort hinein. 

Unter den bizarren Verhaltensweisen, die uns im Lauf der Jahrzehnte auf dem Kiez begegnet sind, gehört diese aus dem Stand und fortan zu den bizarrsten. Was hätte dagegen gesprochen, beide Gläser in die Botanik am Wegesrand zu entleeren, zumal es eh von oben tröpfelte? Warum stattdessen in den Mülleimer? Handelte es sich bei der glasklaren Flüssigkeit vielleicht gar nicht um Wasser, sondern um etwas, mit dem keinesfalls ein Busch oder Bäumchen gegossen werden darf – vielleicht um so was wie … Salzsäure?

Aus dieser Überlegung ergäben sich allerdings dermaßen viele und durchaus verstörende Folgefragen, dass ich Sie damit gerne an dieser Stelle alleine lassen möchte.


26 Oktober 2019

Ein lehrreicher Saunabesuch

„Normale“ Smartphonezombies haben ihr Suchtmittel selbstverständlich immer und überall dabei. Sie karriolen damit blind über Radwege, torkeln gegen Poller oder bekommen einen Herzkasper, wenn man im Vorübergehen leise „Buh“ macht. Die ganz harten User haben es vermutlich auch auf dem Klo in Gebrauch und allerhöchstens beim Sex und unter der Dusche nicht. (Bei einem der beiden Szenarien bin ich mir allerdings nicht so sicher.)

Bislang dachte ich, dass auch eine 90-Grad-Sauna zu den wenigen Tabuzonen gehören müsste. Das aber ist, wie sich heute herausstellte, falsch. Mir gegenüber in der Sauna nämlich saß im Halbdunkel ein wohlbeleibter Mann, und ich erkannte erst, was da Schwarzes neben ihm auf der glühenden Holzbank lag, als er es hochnahm, aufklappte und ein aufflammender Bildschirm uns Saunabesucher in fahles Licht tauchte.

Der Mann schaute kurz drauf, klappte sein Smartphone wieder zu und legte es zurück auf die vor Hitze leise knackende Holzbank. Ein iPhone zum Beispiel soll nur bei Temperaturen bis zu 35 Grad zuverlässig funktionieren. In der Sauna herrschten heute – wie erwähnt – ungefähr 90 Grad. Läge sie, die Sauna, in einer Höhe von 2981 Metern, finge dabei Wasser an zu kochen. Die Ionen seines Handys müssen sich gefühlt haben, als tanzten sie auf einer eingeschalteten Herdplatte um ihr Leben. 

Vor vielen Jahren habe ich übrigens einmal vorm Betreten eben dieser Sauna vergessen, meine Brille abzunehmen, und als ich den Raum nach zehn Minuten verließ, waren die Kunststoffgläser angeschmolzen. Die Brille war Schrott. Fielmann verhielt sich damals sehr kulant, was unbedingt für diesen Brillenverkäufer spricht, doch Ähnliches sollte der Kollege aus der Sauna von seinem Smartphonehersteller nicht erwarten. Das ist zumindest der erhellenden Webseite Saunazeit zu entnehmen. 

Übrigens verdanke ich dem heutigen Saunabesuch noch eine weitere Erkenntnis: Nicht bei allen Frauen ist der 70er-Jahre-Busch verpönt. Aber das nur nebenbei.

PS: In verständlicher Ermangelung eines Fotos der oben geschilderten Situationen gibt es eins vom Solarium um die Ecke.


24 Oktober 2019

Die Badenixe

Gestern, an einem kühlen, aber sonnigen Herbsttag, saß ich mittags an der Alster und möfelte mein Pausenbrot, als plötzlich eine Dame von etwa 60 Jahren sich ihrer Kleider entledigte. Darunter trug sie einen dunklen Badeanzug. Sie betrat den Steg, und dann ging sie ein paar Runden schwimmen.

Im Anschluss lief sie – weiterhin im Badeanzug und tropfnass – zehn Minuten lang auf dem Holzsteg hin und her, ehe sie zur Bank neben meiner ging, wo ihre Sachen lagen, und sich abtrocknete.

Ein älteres Rentnerpaar trat herbei und sagte: „Das machen Sie nicht zum ersten Mal, nöch?“ Die Dame bestätigte das lächelnd. „Wie viel Grad hat denn das Wasser?“, lautete die nächste Frage. „Woher soll ich das denn wissen?“, blaffte die Dame stolzvergnügt zurück, ließ sich dann aber doch zu einer Schätzung herab: „Auf jeden Fall unter 15 Grad.“

Das Rentnerpaar trollte sich bewundernd. Und ich alter Kiezianer, der ich wollmützengeschützt an diesem kühlen, aber sonnigen Herbsttag mein Pausenbrot möfelte, fühlte mich plötzlich eins ganz und gar nicht mehr: hartgesotten.


24 Juli 2019

Die Million ist wieder da!

Meine Damen und Herren, Sie werden hier und jetzt Zeugen eines Weltereignisses. Denn noch niemals im 21. Jahrhundert, da bin ich sicher, ist eine 90 Jahre alte Briefmarke im Nennwert von einer Million Mark (hier der erste Teil der Story) abgestempelt und zugestellt worden. Meine schon! Und Sie erfahren es als Erste – bis auf Frau Treff natürlich, aber dazu später mehr.

Ich hatte den jetzt schon legendären Brief bestückt mit einem Ausdruck des entsprechenden Blogartikels, aber vorsorglich auf eine Absenderadresse verzichtet. Schließlich wollte ich eine Zustellung erzwingen. Allerdings erwartete ich statt des Briefes eine Benachrichtigung – zumal wir über ein Postfach verfügen, wo der Hinweis „Bitte am Schalter melden“ leicht zu deponieren gewesen wäre. 

Am Schalter wiederum hätte man mir, so das in meinen Augen wahrscheinlichste Szenario, ordentlich Nachporto abgeknöpft und sodann den Brief mit der Eine-Million-Mark-Marke ausgehändigt. Die spannende Frage wäre dann gewesen, ob die Marke einen ordnungsgemäßen Poststempel getragen hätte oder nicht. Alles hing daran!

Doch es war alles viel simpler. Der Brief wurde per Nullachtfuffzehnstempel entwertet und mir einfach so zugestellt – ganz so, als hätte ich die eigentlich erforderlichen 80 Cent draufgeklebt und nicht eine satte Million. Irgendjemand hat allerdings in riesiger blauer Schrift die Zahl 150 auf den Umschlag gepinselt und um die Marke herum ein halbes Quadrat liniert. Kennt sich jemand aus mit internen Postcodes?

Gekritzel und Gekrakel ändern aber nichts an der Tatsache, dass die Zustellung des Briefes klaglos erfolgte, obgleich die Marke noch Gustav Stresemann als Reichsaußenminister erlebt hat. Daraus ergeben sich mehrere Überlegungen. Am naheliegendsten ist die: Die Post hält als Entlohnung ihrer Dienste auch deutlich höhere Beträge für völlig angemessen und möchte das mit dem nonchalanten Durchwinken meines Briefes unverblümt signaliseren. 

Doch auch eine praktische Anwendung für uns alle lässt sich aus diesem lockeren Umgang ableiten. Warum nicht einfach ungestempelte Marken aus alten Alben klauben und damit Briefe frankieren? Warum nicht mal einen Chemnitzer Facebook-Freund mit einer jungfräulichen Walter-Ulbricht-Ostmark-Marke erfreuen? Merkt ja eh keiner.

Bleibt Frau Treff. Die distinguierte Hamburger Briefmarkenhändlerin hatte mich ja abblitzen lassen mit meiner Massenware und so erst auf die Idee der hier geschilderten Anschlussverwendung gebracht. Ihr jedenfalls schickte ich nach dem Eintreffen des Eine-Million-Mark-Marken-Briefes eine begeisterte Mail samt Fotobeweis, in der ich den Verlauf der Ereignisse schilderte. Ich schloss mein Schreiben mit den Worten: 

„Nun hat eine 90 Jahre alte Briefmarke einen ordentlichen Poststempel vom 18. Juli 2019, was wahrscheinlich weltweit einmalig ist, wie ich annehme. Ändert das irgendetwas am Wert dieser Preziose …? Vielen Dank für Ihre erneute Expertise!“

Seither Funkstille. Wahrscheinlich sitzt Frau Treff nach tagelangen Beratungen mit hochrangigen Philatelisten noch am Entwurf ihres Kaufangebotes, und ich kann schon mal meine Frühpensionierung vorbereiten. 

Aber bloggen werde ich natürlich weiter. Ehrensache!







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