Ich bin ja jetzt in dem Alter, wo man häufiger Sätze mit „Ich bin ja jetzt in dem Alter …“ anfängt.
Also: Ich bin ja jetzt in dem Alter, wo man sich fragt, was aus den Menschen geworden ist, mit denen man dereinst Abi gemacht, die Fußballdorfmeisterschaft errungen oder studiert hat. Zum Beispiel aus dieser Kommilitonin mit den alliterationsfreundlichen Eltern: Andrea Ambros.
Sie war die erste Feministin, mit der ich je befreundet war, und sie war – wie praktisch jeder, der damals in Marburg Politikwissenschaft studierte – natürlich links.
Vielleicht sind Sie ja in einem Alter, wo sie das Kürzel MSB noch aufzulösen wissen, ohne googeln zu müssen. Wie auch immer: Wenn Elton John zu aufwallender orchestraler Düsternis sein „Tonight“ sang (siehe Clip), dann hatte die ansonsten streng und buttermesserscharf losargumentierende Andrea plötzlich Wasser in den Augen.
Die Gründe blieben Zeit unserer Freundschaft klandestin für mich, schienen aber mit bestimmten Gefühlen zu tun zu haben, die mit Andreas stramm linkem Feministinnendasein zusammenzubringen mir immer etwas schwerfiel.
Aber egal, als Linker nahm man so was damals in Marburg nicht nur hin, sondern schätzte es sogar als Ausdruck persönlicher Dialektik. In dieser Schublade verstaute ich innerlich auch ihre On-off-Affäre mit einem verheirateten französischen Lehrer, den sie immer wieder unter konspirativen Umständen in Paris aufsuchte und der, wie mir schien, irgendetwas mit Andreas Tränen bei Elton Johns „Tonight“ zu tun haben musste.
Irgendwann um 1991 herum verlor ich Andrea aus den Augen. Eine ganze Weltordnung zerbrach und musste sich neu sortieren. Galt das auch für Andrea? Was geschah danach wohl mit ihrer persönlichen Dialektik zwischen „Tonight“ und Feminismus, zwischen Marx, Engels und dem heimlichen Liebesnest an der Seine?
Die Suche begann. Google, Facebook oder LinkedIn lieferten zwar diverse alliterierende Andreas ihres Namens, doch nicht die richtige. Immerhin stieß ich auf einen Text in einer politischen Zeitschrift, erschienen allerdings schon vor sehr langer Zeit:
»Arbeit der Arbeiterklasse an sich selbst« – Die Arbeitskraft als Ware und die Doppelarbeit der Frauen, in: Perspektiven. Zeitschrift für sozialistische Theorie 6/1989, S. 17-30
Eine ihrer beiden Mitautorinnen ist inzwischen Professorin in Gießen. Ich schrieb sie an. Doch auch sie – obgleich lange Jahre mit Andrea befreundet und zeitweise gar ihre WG-Genossin – hat längst den Kontakt verloren. Auch sie hatte interessanterweise bereits erfolglos nach ihr gegoogelt – und sich gewundert über Andreas Spurenlosigkeit.
Das ist wirklich erstaunlich: Wie kann jemand, der die Welt verändern wollte, dieser Welt, in der wir inzwischen alle ein riesiges Spinnennetz digitaler Daten hinterlassen, so abhanden kommen?
Die Gefühle und Gedanken, die rund um diese bange Frage aufkeimen, sind dunkel und ungut, und ich würde sie gern verscheuchen. Ich würde alles gerne ausleuchten mit der Strahlkraft eines Wiedersehens.
Wer also etwas weiß über Andrea Ambros’ Verbleib, der möge tun, was er für richtig hält.
Geschäftlich in Marburg, ausgerechnet und zufällig während des Stadtfestes, dem in der aparten Unistadt unumstrittenen Höhepunkt des Jahres. Überall Stände, Buden, aufgeregte Menschen.
In der Oberstadt haben Initiativen und Parteien Infostände aufgebaut, auch Die Linke. Per Transparent fordert sie die Rettung des „Uniklinkums“, und man muss sich fragen, ob eine Partei, die nicht mal das Wort Klinikum richtig buchstabieren kann, in der Lage sein wird, es zu retten. Natürlich ist es kleinlich, das hier zu erwähnen, aber vielleicht auch nicht.
Beim Essen erzählte mir mein Gastgeber von einem befreundeten Sänger, der sich mal samt Gattin mit einem potenziellen Arbeitgeber im Restaurant traf und während einer kurzen Abwesenheit der Dame vom Chef in spe folgendes Angebot erhielt: „Wenn ich Ihre Frau mal pudern darf, dürfen Sie bei mir alles singen.“
Der Schlag, den der Freund meines Freundes im unmittelbaren Anschluss und ungeachtet der Auswirkungen auf seine Jobchancen über den Tisch schickte, knackte dem Lustmolch gepflegt den Unterkiefer. So verständlich diese Reaktion auch war, für die hübsche Metaphorisierung des Verbs „pudern“ hätte man den Mann auch durchaus vorher kurz belobigen können, was hiermit nun als nachgeholt gelten soll.
Als ich mich abends ins Getümmel des Stadtfestes stürzen will, bleibe ich im Steinweg an den Filmplakaten kleben und beschließe spontan, mir statt feiernder Marburger den von Madonna gedrehten Film „W.E.“ anzuschauen, der in dieser Minute anfängt.
Beim Kauf der Karte grinst die Kassiererin komisch, das Gleiche tut auch die Kartenabreißerin. Der Grund: Keiner außer mir will diesen Film sehen, alle bevorzugen das Stadtfest, den unumstrittenen Höhepunkt des Jahres.
Mir aber führt man privat und exklusiv „W.E.“ vor, und ich fühle mich zwei Stunden lang wie einst Michael Jackson, der hatte ja auch ein Privatkino. Allerdings lief bei Jacko daheim vor der Vorstellung wahrscheinlich kein Werbespot der Glastanzdiele Hermershausen.
Vor „W.E. übrigens auch nicht. Aber früher, als ich noch in Marburg wohnte, lief der immer. Ach, selige Studentenzeiten!
Der panische Blick, mit der dich dieser Wandhaken in einer Marburger Wohnung anstarrt, verhindert es zuverlässig, dass er je mit Arbeit belästigt wird.
Sollte ich in der Redaktion vielleicht auch mal ausprobieren.
1. Ein Ramschladen in Treysa schafft es, das eh als Synoym für billig und schlecht etablierte Wort „Mäc“ mit einer allgemein diskreditierten Charaktereigenschaft noch einmal kräftig aufzumotzen. Was der Laden damit über das Wesen seines Zielpublikums aussagt, müsste eigentlich dazu führen, dass kein Einwohner mehr dort einkauft. Dennoch waren einige Flaneure zwischen den Regalen zu entdecken, als wir … hüstel … den Laden betraten.
2. Dem Restaurant Zur Sonne im Herzen der Marburger Altstadt sind die Tageszeiten verrutscht – oder die Gerichte. Jedenfalls gibt es ausschließlich morgens unter keinen Umständen ein Bauernfrühstück.
3. So ist ein misslungener Werbespruch doch noch zu etwas gut. Entdeckt in der Clemens-Schultz-Straße auf St. Pauli.
4. Beinah wäre dieses Geschäft in den Zeisehallen wegen Geschlechterdiskriminierung vor Gericht gelandet. Ein Edding verhinderte in letzter Sekunde das Unglück. Ob man dort allerdings wirklich gewillt ist, auch einen Mann an die Nähmaschine zu lassen, ist eine andere Frage.
5. Immer, wenn ich dem Spiegel ein Sprachunglück maile, das ich im Spiegel selbst entdeckt habe, verzichtet er darauf, es in seiner Hohlspiegelrubrik zu dokumentieren. Mit dem postmortal noch immer durch die Welt wankenden Kippenberger war ich mir meines Erfolges im Grunde sehr sicher. Und was geschah? Wieder nichts. Echt hohl, der Spiegel.
Einmal jährlich besuchen wir aus hochnostalgischen Gründen die Universitätsstadt Marburg und schreiten versonnen alle mythen- und autobiografisch umrankten Stätten ab.
„Die Erinnerung“, gab mir einst der weise Jan Plewka am Rande eines Interviews mit auf den Weg, „malt mit goldenem Pinsel“, und daran vermag auch der kälteste Juli seit der letzten Eiszeit nichts zu ändern.
Zur Feier unserer Wiederkehr begrüßte uns unsere alte Alma Mater, die Philfak, gar mit einem pareidolischen Kussmund an der Eingangstür, worüber ich sogar bloggen kann, denn in Marburg hat es ein stabiles Internet.
Die vergangenen Tage hingegen hatten wir in der Schwalm zugebracht, ein Landstrich, welchen wir hinfort klammheimlich als Tal der WLAN-losen zu diskreditieren bereit sind.
Davon dürfen die Menschen dort aber nie etwas erfahren, denn es sind prachtvolle, liebenswerte Menschen.
Linke Nostalgie lässt sich in Marburg immer noch aufspüren, zumal am Fachbereich Politologie. Man findet recht leicht Parolen, mit denen man sich im existenzialistischen Stehkragenpulli fotografieren lassen kann. Doch auf den Mensatischen liegen keine revolutionären Kampfpamphlete mehr, sondern nur noch Flyer, die zur nächsten Party einladen. Wenn etwas die totale Kapitulation der Linken und den Sieg des Kapitalismus verkörpert, dann das. Daran ändert auch die Wirtschaftskrise nichts.
Immerhin rührt sich noch ein wackerer Rationalismus. Das Graffito „Kein Gott!“ ausgerechnet an die gotische Elisabethkirche zu sprühen, verrät einerseits eine treffsichere Zielidentifikation, andererseits aber auch kulturelles Banausentum – ein großer Schritt für den Sprüher und ein kleiner Richtung Taliban.
Das in der Barfüßer Straße entdeckte Warnschild hängt näher am BH als am maroden Gully, deshalb bin ich unsicher, welchen von beidem es gilt – und was das je nach dem für die Situation der Moral in Marburg bedeuten könnte.
Vor der Unibibliothek stießen wir auf einen St.-Pauli-Stromkasten. Der Kiez ist überall, heimelige Gefühle brandeten auf – und wir fuhren nach Hause. Ab sofort wird also wieder über die Reeperbahn gebloggt.
In praktisch jedem zweiten Marburger Fachwerkhaus – und es gibt SEHR vele davon in der Oberstadt – befindet sich eine psychotherapeutische Praxis.
Es muss heutzutage eine verheerende Wirkung aufs Gemüt haben, in Marburg zu studieren. Einst, als Ms. Columbo und ich hier unser Unwesen trieben, war das noch nicht so. Vielleicht gab es damals einfach die besseren Partys – oder Themengebiete, die eher geeignet waren, die mentale Gesundheit zu erhalten.
Ein Bekannter aus alten Marburger Tagen etwa forschte über die Kulturgeschichte des Verkehrsunfalls, was ihn allabendlich froh und glücklich nach Hause zurückkehren ließ. Seine Frau hingegen tüftelte lange an einer bahnbrechenden Arbeit über Intimbehaarung im asiatischen Raum, doch irgendwann brach sie das Unterfangen ab – wahrscheinlich nachdem die Totalrasur auch in Japan und Indonesien eine … ähem … Schneise der Verwüstung hinterlassen hatte.
Bei unserer nostalgischen Tour durch die Stadt, die wir gemeinsam vor 14 Jahren gen Hamburg verließen, stoßen wir übrigens auf eine frappierende, ja geradezu erschreckende Häufung just stattgefundener Abschiedsvorlesungen von Professoren, bei denen ich einst studiert hatte.
Ob Heller, Deppe oder Berg-Schlosser: Es scheint fast so, als hätten all diese großen Köpfe die Alma Mater fluchtartig verlassen im Vorfeld meiner Rückkehr, statt einfach eine der vielen psychotherapeutischen Praxen in der Oberstadt aufzusuchen und ihre Mattophobie professionell behandeln zu lassen. Aber vielleicht überschätzte ich auch einfach meine Bedeutung.
Die Parolen (Foto) in der Philosophischen Fakultät sind übrigens noch pointierter als zu meiner Zeit, dafür leiden sie an einem wirkungsdämpfenden Pleonasmus.