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25 August 2024

Cat ohne Power

Vorab: Sich im großen Saal der Elbphilharmonie aufhalten zu dürfen, ist immer ein Genuss für sich. Die augenschmeichelnde Architektur, das wohlig warme Dämmerlicht: All das tut dem Gemüt gut, ganz unabhängig davon, wer oder was tief dort unten – wir saßen unterm Dach auf Ebene sechzehn – die Rundbühne bevölkert. Selbst wenn es die amerikanische Sängerin Cat Power ist.

Von ihrer grundsätzlich bezirzenden Idee, Bob Dylans berühmtes 1966er-„Royal Albert Hall“-Konzert (das in Wahrheit in der Free Trade Hall in Manchester stattfand) eins zu eins nachzuspielen, hatte ich mir als passionierter Dylanologe natürlich einiges versprochen – es allerdings vorab verabsäumt, Frau Power davon auch in Kenntnis zu setzen.

Das Problem der an diesem Abend geradezu Liza-Minnelli-haft zu- und hergerichteten Amerikanerin: Sie verfügt zwar über ein ansprechendes Timbre, kann aber – so hart muss man es sagen – nicht singen, zumindest nicht live. Und so leid es mir tut: Einen Ton nicht zu treffen, bedeutet noch lange keine gelungene Neuinterpretation.

Der Lagerfeuerklampfer, der sie in der ersten – akustischen – Konzerthälfte aufs banalste begleitete, verstärkte den Eindruck einer künstlerisch höchst dürftigen Darbietung, deren herausragendes Feature die Langeweile war. In der zweiten Hälfte wurde das Ganze, analog zur Vorlage, dann zum Rockkonzert. An Cat Powers größtem Talent, nicht singen zu können, änderte das freilich wenig, wodurch wir uns ermuntert sahen, in aller Ruhe das Weite zu suchen, also St. Pauli. 

Doch was soll’s: Wir hatten uns im großen Saal der Elbphilharmonie aufhalten dürfen, und selbst wenn dort unten auf der Rundbühne eine frisch bemalte Leinwand gestanden hätte, der wir beim Trocknen zugesehen hätten: Es wäre ein Genuss für sich gewesen.

Aber schade um die schönen Songs war’s schon.




13 November 2019

Vorsicht, Weltrevolution!


Vor einigen Wochen hatte ich das unverdiente Privileg, die Vorpremiere von Jan Plewkas neuem Rio-Reiser-Programm „Wann, wenn nicht jetzt“ auf Kampnagel besuchen zu dürfen. An diesem Samstag folgt nun die offizielle Premiere – und das ist für mich Anlass genug, bestimmte Bevölkerungsgruppen ausdrücklich vor dem Besuch dieser Veranstaltung zu warnen.

Wenn Sie es zum Beispiel generell befremdlich fänden, sich am Ende des Rio-Abends jubelnd auf Ihrem Sitz stehend wiederzufinden, derweil Sie zu Ihrer eigenen Verblüffung wild entschlossen sind, am nächsten Morgen sofort nach dem ersten Nespresso die Weltrevolution zu starten: 

Dann gehen Sie bitte nicht hin.

Alle anderen hingegen sollten sich tunlichst ein Ticket kaufen. Allein schon deshalb, um in Zeiten sich verzwergender Sozialdemokratie mal wieder eine Ahnung davon zu bekommen, wie sich linke Inbrunst mal anfühlte.


PS: Moment mal – Plewka … Da war doch was? Ja, er hat das Vorwort zu meinem Buch „3000 Plattenkritiken“ verfasst. Es ist natürlich weiterhin lieferbar, und bald ist Weihnachten!



Aus dem Vorschautext: Nach drei musikalisch beglückenden Sommerfestivalproduktionen von Selig-Frontmann Jan Plewka und Theatermacher Tom Stromberg ist das Team nun zurück mit neuem Programm: Jan Plewka und die Schwarz-Rote Heilsarmee singen und feiern die unvergesslichen Songs von Ton Steine Scherben. Nach über 200 ausverkauften Vorstellungen und unzähligen emotionalen Höhepunkten der Rio Reiser-Show gibt es nun einen zweiten Abend insbesondere mit Songs von Ton Steine Scherben. Mit einer tiefen Verbeugung vor der musikalischen und politischen Haltung der Band geht Plewkas Show mit gewohntem Charme und seiner originalen Bandbesetzung in die nächste Runde. Sehnsüchtig und zärtlich, gleichzeitig revolutionär und kraftvoll wird dieser neue Abend an die Legende des linken Zeitgeistes von Ton Steine Scherben erinnern und das Rockkonzert für die Freiheit nicht enden lassen – WANN, WENN NICHT JETZT.

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22 September 2019

Ich hatte ein Wristband!

Das Reeperbahnfestival sorgt seit 14 Jahren jeden September für Feiertage auf dem Kiez – genauer gesagt taten das die diesmal 50.000 Indiefans, die von Mittwoch bis Samstag durch die auf der Karte zu sehenden Clubs zogen. Darunter ich. 

Dank meiner Akkreditierung war ich dieses Jahr ein „Wristbandholder“ und hoffte, dass mein Wristband vier Tage Höchstbelastung (darunter Duschen) aushalten würde, ohne abzufallen. Dann wäre ich nämlich aufgeschmissen gewesen.

Diesmal hatte ich mir nur ein loses Programm zusammengestellt. Ich wollte mich einfach quer durch St. Pauli treibenlassen – von Gig zu Gig, von einem (mir unbekannten) Act zum andern. Doch so einfach war das nicht. Im Pooca am Hamburger Berg machte ich gleich wieder kehrt, als ich drinnen auf Menschen mit glühenden Zigaretten stieß. Für so was bin ich einfach zu alt (obgleich ich es als Kind noch erleben durfte, wie die Erwachsenen sogar im Auto rauchten, bei geschlossenen Fenstern und mir auf dem Rücksitz).

Vor einigen Clubs stieß ich auf grimmige Türsteher, die „Einlassstopp!“ grummelten, was auch schon längst per Pushnachricht auf meinem Smartphonebildschirm aufgeploppt war, aber dank des gegenüber normalen Kiezabenden noch mal deutlich dezibelreicheren Grundbrummens rundherum war mir das entgangen. Zwar hätte ich mir als offizieller Wristband- und Akkreditierungskärtchenholder trotzdem Zutritt verschaffen können, doch mich in einen brechend vollen Laden zu quetschen, wo ohne Bazooka weder Theke noch Klo in absehbarer Zeit erreichbar gewesen wären, dafür bin ich – Sie ahnen es – zu alt.

Problemlos gelang indes das Entern des Sankt-Pauli-Museums, vor dessen Eingang ich vergangenes Jahr Günter Zint bei seiner Attacke auf ein Verkehrsschild ablichten konnte. Dort sang der isländische Singer/Songwriter Teitur Magnússon, ein rotbärtiger Nordmann mit Pelzmütze, aber verblüffend elfenähnlicher Bübchenstimme. Wenn wirklich Gott die Menschen – und somit auch Herrn Magnússon – erschaffen hat, dann muss man sagen: ER hat Sinn für Humor.

Im Moondoo an der Reeperbahn stieß ich auf die junge, dünne argentinische Elektrokünstlerin Catnapp. Ihre Schläfen waren rasiert, dafür wippte ein einzelner langer Rastazopf im Rhythmus kalter blauer zuckender Strahler und dem reeperbahnerschütternden Beben ihrer Breakbeats und -bässe. Es war faszinierend. Im Berliner Berghain soll sie eine große Nummer sein. Hoffentlich trägt sie regelmäßig Ohrstöpsel, sonst geht es ihr irgendwann wie Sven Väth.

Freitag dann Elbphilharmonie. Zwar passt der Kulturtempel nur suboptimal zu einem Festival, das vor allem auf kleine Clubs und Indiekünstler setzt, doch wie könnte ich das bemäkeln, wenn dort die schwedische Songwriterin Anna Ternheim auftritt, die ich seit ihrem ersten Album verehre (Näheres dazu in diesem Buch)? 

Der schwarze Herrenanzug, den sie trägt, umschlottert sie derart, dass ich die Journalistin, die neben mir sitzt und Ternheim erst neulich interviewt hat, frage, ob diese damit ein eventuelles Untergewicht zu kaschieren trachte. Das sei sicher nicht so, heißt es, Ternheim sei sehr normalgewichtig.

Mit Sicherheit ist sie auch sehr duldsam mit dem unbotmäßigen Verhalten ihres blonden Schopfs. Hätte ich eine Frisur, die mich dazu zwänge, mir alle acht Sekunden die Strähnen aus dem Gesicht zu wischen, ich legte mir augenblicks eine gänzlich andere zu. Andererseits verfügte ich als jemand, der sich seine spärlichen Reststoppel zweimal die Woche auf einen halben Millimeter Länge runterkürzt, gern über ein solches Luxusproblem.

Ternheim jedenfalls wischt sich während ihres Auftritts hochgerechnet circa 600-mal die Haare aus dem Gesicht, derweil das sie begleitende Kaiser Quartett ihre schönsten (und leider auch einige mittelprächtige neue) Songs in apartesten Kammerpop kleidet. Hätte Ternheim statt des herumrumpelnden Drummers einen Perkussionisten dabeigehabt, das Ganze wäre als Zauberabend in die Reeperbahnfestivalgeschichte eingegangen. Das Publikum war trotzdem euphorisiert bis zum Aufspringen und mehrfach Zugabefordern.

Genau so wie das des kanadisch-ukrainischen Pianoschrats Lubomyr Melnyk am Samstag in der St.Pauli-Kirche. Der 71-Jährige, ein leicht berberhaft wirkender Grauzausel in ausgebeulter Cordhose, ist sozusagen das missing link zwischen Rachmaninov und Steve Reich, nur dass er schneller spielt als Lucky Lukes Schatten. 

Damit schafft Melnyk wellenartig dröhnende Klangmuster, von denen er behauptet, die (für ihn eh verdammenswerte) Digitaltechnik sei zu träge, um sie adäquat aufzunehmen. Warum der Mann an seinem Verkaufsstand trotzdem neben Vinyl auch CDs anbietet, gehört zur Dialektik dieses Festivals – des weltweit besten von ganz St. Pauli, wenn nicht des ganzen Planeten.

Mein Wristband hat übrigens vier Tage lang durchgehalten. Gegen die Schere Samstagnacht war es aber hilf- und machtlos.



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20 September 2018

Alles wackelt – auch dank Günter Zint


Reeperbahnfestival! Jedes Jahr der höchste Höhepunkt in einem an Höhepunkten wahrlich nicht armen Viertel. Reeperbahnfestival heißt: sich über den Kiez treiben lassen, der von unzähligen Indieacts- und -bands zum Wackeln gebracht wird, mal in diesem Club vorbeischauen, mal in jenem (gilt natürlich auch für den Astra-Stand), und irgendwann ist es plötzlich nach Mitternacht und man freut sich auf morgen.

Bei dem Londoner Soulfunker Joel Culpepper in Angie’s Nightclub überzeugt vor allem das Outfit und sein Prince-Falsett, doch als er fragt, ob es cool sei, wenn er das Publikum ein wenig einbeziehe, muss ich mich leider absentieren. Ich gehöre zu jenem misanthropischen Publikumsteil, der auf keinen Fall einbezogen werden möchte, weder zum Mitklatschen noch -singen und erst recht nicht zum Auf-die-Bühne-geholt-Werden. Also tschüs, Joel – und hallo Frum

Die blonde färöische Sängerin führt eine Art Nachthemd aus und dazu etwas klobig Sneakerartiges, worauf man sich vor allem deswegen gut konzentrieren kann, weil ihre Stimme zu leise abgemischt ist. Im Publikum: die legendäre, ebenso winzige wie einen grotesk hoch aufragenden Hut tragende Sängerin, Komponistin und Produzentin Linda Perry.

Ach, ich weiß noch, welch ein Wahnsinns-Wow anno 1992 ihr 4-Non-Blondes-Song „What’s up” beim allerersten Ohrkontakt auslöste – und wie unerträglich das Stück beim tausendsten Mal geworden war. Dieses Schicksal – es tausendmal hören zu müssen – blieb in der ganzen westlichen Hemisphäre damals wohl keinem erspart. Ein Supersuperhit. Und jetzt steht Frau Perry hier im Nochtspeicher, starrt auf das Nachthemd einer Färöerin, deren Stimme zu leise abgemischt ist, und denkt wahrscheinlich: kein Supersuperhit, nirgends.

Auf dem Weg die Davidstraße runter stelle ich fest, dass der an einem Band um meinen Hals baumelnde Presseausweis des Reeperbahnfestivals die Huren so zuverlässig fernhält wie eine Knoblauchknolle Dracula. Bis jemand von links ein „Matthias, kommst du mal her?“ flötet. Da hat eine ziemlich gute Augen und meinen Namen auf dem Ausweis identifiziert. Er ist also doch keine Knoblauchknolle.

Vorm Sankt-Pauli-Museum, wo später zu Elektrobeats und Landschaftsfilmen eine verzaubernde Frauenstimme zu hören sein wird, die überraschenderweise einem muskulösen kahlköpfigen Franzosen namens Temperance gehört, treffe ich das Kiezurgestein schlechthin: Günter Zint.  

Wenn einer sowohl ein Chronist St. Paulis als auch der linken Protestbewegung der alten Bundesrepublik ist, dann der 77-Jährige mit seiner halben Brille, über deren Rand er dich mit gesenktem Kopf mustert. Irgendjemand müsste Günter mal über die immense Nützlichkeit von Gleitsichtbrillen informieren, aber dann wäre auch sein Markenzeichen flöten. Also lieber doch nicht. Der Mann war einst an allen Brennpunkten, Startbahn West, Gorleben, er war mit Wallraff undercover, und ich wundere mich ein bisschen, wieso er augenblicks nicht durch den Hambacher Forst kraxelt.

Weil er sich um sein Museum kümmert, vor dem ein Verkehrsschild steht, an dem er gerade wackelt. „Ich geb dir 200 Euro“, raunt er mir zu, „wenn du dieses Schild hier mit der Flex abschneidest.“ Das Schild informiert darüber, dass die Einfahrt in die Friedrichstraße zwischen 20 Uhr abends und 5 Uhr morgens verboten ist. Aber es steht halt auch direkt vorm Eingang von Zints Museum. „Dieses Schild“, sagt er und rüttelt wieder dran, „ist auf jedem Scheißtouristenfoto des Museums zu sehen!“

Eine junge Frau, die sich als eine Groninger Booking-Assistentin namens Myrte entpuppt, hört amüsiert mit, und Zint sagt: „Ich gebe dir 300 Euro …“ (was hier, in der Davidstraße, ein noch missverständlicheres Angebot sein dürfte als in irgendeiner anderen Straße Europas) „… wenn du das Schild hier mit einer Flex umlegst!“ Für mich 200, für sie 300. Schon verstanden.

Das Schild steht heute morgen übrigens immer noch da, das Reeperbahnfestival geht in seinen zweiten Tag, und plötzlich wird es Mitternacht sein, und man freut sich auf morgen.



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10 November 2017

Zoten, Zoff und Ziegenricotta


Nicht nur aus alliterierenden Gründen – ich schlug dort mit dem Franken, den Frauen und Freunden auf – war der gestrige Abend im Palazzo-Spiegelzelt an den Deichtorhallen ein erinnernswerter. Man fühlt sich dort ein wenig wie auf einem Kreuzfahrtschiff: eingetaucht in eine künstliche Schummerwelt ohne Gestern und Morgen, in der die Stunden unversehens verfliegen. Ein Abend getaktet im Rhythmus der Essensgänge und den Nummern des Unterhaltungsprogramms. 

Während die frühere Sterneköchin Cornelia Poletto, die mit dem früheren Bahnchef Rüdiger Grube verheiratet ist, für vier anspruchsvolle Gänge sorgt (natürlich zeitgeistgemäß für Fleischesser und -verächter), versucht sich die Rahmenhandlung aus Nummerrevue und Akrobatik an etwas sehr, sehr Schwierigem: mit allerlei Derbheiten das Zielpublikum kräftig zu erweitern, ohne Kulinariker mit kulturellem Anspruch ganz zu verschrecken. Denn damit das Palazzo-Spiegelzelt bis März – so lange bleibt es stehen an den Deichtorhallen – zuverlässig gefüllt bleiben möge, müssen nun mal auch schlichtere Humorgemüter herbeigelockt werden.

Die Rahmenhandlung feiert unter dem Obertitel „Glücksjäger“ vor allem Süchte wie Rauchen, Trinken, Sex und Glücksspiel, und das in der Nähe der mittigen Rundbühne platzierte Publikum muss durchaus damit rechnen, ordentliche Spritzer aus Wasserpistolen abzubekommen. Die vielen verbalen und realen Tiefschläge  des sich hemmungslos zoffenden Ensembles kommen hingegen auch in unserer Randlage unverfälscht an. Doch selbst wenn uns daran etwas ernstlich gestört hätte: Mit den vorzüglichen Weinen – einem Grauburgunder von Hauck aus Rheinhessen und einer Merlot-/Cabernet-Sauvignon-Cuvée aus dem Languedoc – hätten wir uns mühelos auch noch den gröbsten Gag schöntrinken können.

Das Programm mit seinen auf althergebrachte Weise rollenkonformen Anzüglichkeiten zeigt sich jedenfalls komplett unbeeindruckt von den zurzeit grassierenden Sexismusdiskussionen. Hier werden Lauch und sehr große Karotten noch handfest phallisch allegorisiert, und gegen Ende – ich hatte mich gerade ausgiebig der lackierten Perlhuhnbrust mit Mais und geräuchertem Pflaumenjus gewidmet – traten auch noch zwei nackte Rumturner auf, die mit nichts als Pfannen bewaffnet die selbstaufgeworfene Frage lange kunstvoll offen hielten: Sehen wir nun ihre Schniedel noch baumeln oder doch nicht? 

(Wenn Sie die Antwort erfahren wollen, müssen Sie schon selber hingehen – hier gibt’s Karten

Ein Abend also zwischen Zoten, Zoff und Ziegenricotta – um diesen Rückblick ähnlich abzuschließen, wie er anfing: alliterierend.



28 Oktober 2017

Sympathisch derangiert

Der Hein-Köllisch-Platz im Südwesten von St. Pauli mit seinem buckligen Pflaster und den Kneipen und Restaurants, die ihn malerisch umsäumen: Das wäre durchaus eine Wohnlage, die wir uns auch vorstellen könnten – sofern die Wege dorthin nicht so diskutabel wären. 

Wenn man etwa den Platz von Osten her erreichen möchte, muss man durch die Bernhard-Nocht-Straße – und somit Bock darauf haben, durch eine Phalanx afrikanischer Dealer zu huschen, die einem manchmal ein erwartungsarmes „Hallo“ zuraunen. 

Und wenn man von der Reeperbahn kommt, gilt es zunächst die von trunkenen Kieztouristen heimgesuchte Silbersackstraße heil zu überstehen, ehe ein rechts abzweigender Pfad namens Silbersacktwiete uns an einem von dunklen unheimlichen vollgepissten Hecken flankierten Sportplatz entlangzwingen möchte. 

Beide Varianten sind unschön, doch wenn man eine davon schadlos absolviert hat und erst einmal angekommen ist auf dem Hein-Köllisch-Platz, dann entfaltet sich rotlichtferne St.-Pauli-Gemütlichkeit in ihrer ganzen Pracht. Vor allem an jedem letzten Freitag des Monats, wenn im Stadtteilzentrum Kölibri ein sogenanntes Küchenkonzert stattfindet.

Das geht so: Bemühte Amateure, über die sich ob ihres von jedwedem Können ungetrübten Eifers sofort ein Füllhorn mitleidsgetriebener Publikumsovationen ergießt, geben ihr Bestes (was nicht viel ist), derweil ehrenamtliche Kräfte schmackhafte vegetarische Speisen zubereiten und über den Tresen reichen. Gestern war es zum Beispiel Kürbis mit Bulgur, bestreut mit Koriander, und als Nachtisch Windbeutel mit Himbeeren. Fürs Essen wird so wenig ein Preis erhoben wie für die Musik (was auch noch schöner wäre!), aber Spenden für beide Angebote sind willkommen, fürs Essen werden sogar Richtwerte genannt. 

Im Kölibri hält man sich übrigens trotz des alternativen Anstrichs penibel an die Gesetze. Als ich bei der höchstens 16-jährigen Thekenkraft ein Wasser und einen Wein bestellte, rief sie eine erwachsene Kollegin herbei mit den Worten: „Machst du ein Glas Wein? Ich darf doch keinen Alkohol ausschenken.“ Hier dürfen 16-Jährige also nicht nur ordnungsgemäß keinen Stoff trinken, sie dürfen ihn nicht einmal einem Gast zu trinken geben

Das nicht immer in Würde gealterte, optisch sofort als gewerkschaftsnah zu identifizierende Kölibri-Publikum  wirkt überdurchschnittlich derangiert, doch auf äußerst sympathische Weise. Es sind Menschen, die jederzeit „Refugees welcome“-Schilder hochhielten, die natürlich gegen die Elbvertiefung sind und auch noch der flachsten künstlerischen Darbietung bis an die Gestade der Euphorie wohlgesonnen gegenüberstehen, solange sie nur gutgemeint ist.

Kurz: Nichts, aber auch gar nichts spricht dagegen, an jedem letzten Freitag des Monats gutgelaunt und hungrig im Kölibri aufzuschlagen. Natürlich werden Sie weiterhin auch uns dort regelmäßig antreffen – sofern wir den Hein-Köllisch-Platz unbeschadet erreichen.


04 Juli 2017

G20: Haut Trump die Elphi kurz und klein?


Für zwei hochkarätige Teilnehmer des G20-Gipfels verspricht das Konzert in der Elbphilharmonie am Freitagabend besonders aufregend zu werden. 

Recep Tayyip Erdoğan etwa wird bass erstaunt darüber den Kopf schütteln, dass dieser einst als Trainer in der Türkei erfolglose Teufelskerl Jogi Löw neuerdings sogar in der Lage ist, ein Sinfonieorchester zu dirigieren (Bild). 

Donald Trump hingegen wird sich mächtig aufregen über die dargebotene „Fake music!“, weil das Fraud-Media-Programmheft böswillig verschweigt, wer das von Jogi Löw dirigierte Stück namens „Beethoven“ in Wahrheit schuf – nämlich der große amerikanische Komponist Chuck Berry.

Viel Konfliktpotenzial also am Wochenende. Bleiben Sie lieber zu Hause oder in Travemünde.

Quelle: Hamburger Abendblatt, 28.06.2017


12 Mai 2017

Der Mondpreiseffekt des ESC

Der deutsche Schauplatz des Eurovision Song Contest ist ja, wie Sie auch als Nichthamburger sicherlich wissen, der Spielbudenplatz hier auf St. Pauli, direkt an der Reeperbahn. Uns trennt genau eine Häuserzeile vom Ort des Geschehens, und bei geöffneter Balkontür bekämen wir – wie schon mehrfach mitgeteilt – auch ohne Fernsehton alles mit. 

Diese Veranstaltung erreicht zwar zugegebenermaßen nicht ganz die Vergrätzungskraft der Harley Days oder gar des Schlagermove, doch sie löst hier im Viertel reflexhaft einen ähnlichen Impuls aus – nämlich den fraglichen Abend (also diesen Samstag) lieber ganz woanders zu verbringen, zum Beispiel auf einer Almhütte oder der internationalen Raumstation.

Angesichts solcher instinktiv richtigen Fluchtreflexe umso unfasslicher ist allerdings die Tatsache, dass es anscheinend Menschen gibt, die den Kiez nicht nur nicht weiträumig meiden, sondern an diesem Wochenende wegen des ESC sogar gezielt anreisen. Die extra hierher kommen, nach St. Pauli, nur wegen des Eurovison Song Contest. 

Und das scheinen sogar erfahrungsgemäß nicht wenige zu sein – wie sonst wäre die auf dem Foto dokumentierte Mondbepreisung des Ibis-Hotels bei uns um die Ecke zu erklären? Dort rechnet die Geschäftsführung mit einem deutlich erhöhtem Gästeaufkommen – und lässt deshalb den Doppelzimmerpreis an diesem Wochenende auf sagenhafte 209 Euro explodieren. 

Zweihundertneun Euro! Dabei hat diese Absteige Etagenbetten! Sie ist mehr Jugendherberge als Vier Jahreszeiten! Und wenn schon nicht die Veranstaltung als solche, so sollte doch derlei leicht durchschaubare Melk- und Ausquetschabsicht auch den gutmütigsten Eurodancetolerierer sofort von einer Anreise Abstand nehmen lassen.

Andererseits … Möchten Sie stattdessen vielleicht lieber bei uns übernachten? Ab 666 Euro würden wir mit uns reden lassen. 

(Wobei ich Ms. Columbo über diese Offerte noch gar nicht informiert habe; da bleibt also ein Restrisiko.)



25 September 2016

Reeperbahnfestival 2016: Eine Fotonachlese


Als ich heute Abend beim Konzert der britischen Newcomerin Alexandra Saviour im Imperial-Theater war, dachte ich: In einer skurrileren und deshalb lebenswerteren Version unserer Welt würde Herr Naidoo sie heiraten und ihren Namen annehmen.

Die gute Alexandra habe ich nicht fotografiert – wie überhaupt wenige Künstler –, dafür aber das Drumherum, vor allem die Stilleben im Trubel. Hier eine kleine Nachlese dreier toller Tage auf dem Kiez, die so ganz anders waren als sonst wochenendüblich.



Große Freiheit, Bühnenhintergrund der Band Get Well Soon. Die Nutzungsgebühren gehen wohl an John Lennon bzw. Yoko Ono. Es sei denn, die Liebe ist immer noch gemeinfrei. Heutzutage kann man sich dessen ja nicht mehr sicher sein.


Spielbudenplatz, Grillstand.





Die Decke des Resonanzraums im Bunker. Als Soundtrack dazu müssen Sie sich bitte eine von Olga Scheps gespielte Chopin-Etüde vorstellen, dann sind Sie ganz nah an der Wahrheit.



Große Freiheit, Eingang zum Sanitärbereich. Die Leuchtschrift müsste aus der Zeit stammen, als das Wasserklosett gerade erfunden worden war.




Imperial-Theater, Wandbeleuchtung.




Hand mit Band. Mit diesem kleinen Accessoire kam ich überall rein – und hätte sogar die ganze Zeit auch öffentliche Verkehrsmittel benutzen können. Bei den kurzen Distanzen zwischen den Clubs waren Füße und Fahrrad aber die weitaus bessere Wahl.



Kaiserkeller, Wandbeleuchtung. Ob die auch schon dort war, als die Beatles hier spielten? Bestimmt.



Große Freiheit, Anna Ternheim (l.). Warum die Schwedin im Bademantel die Bühne betrat, erschloss sich dem Publikum nicht. Zumal das unförmige Teil auch leider wenig kleidsam war. 
Die Lautstärke rechts habe ich hingegen beim Konzert von Okta Logue im Grünspan gemessen. Laut DIN 15 905, welche als Höchstgrenze 99 db vorsieht, hätte die Veranstaltung also abgebrochen werden müssen. Was sehr schade gewesen wäre – und ja auch nicht passiert ist.

Deshalb kann es im kommenden Jahr weitergehen mit dem besten deutschen Clubfestival. Sollten Sie dann nicht anreisen, haben Sie vielleicht nicht die Kontrolle über Ihr Leben verloren – aber ganz sicher über Ihre Freizeitgestaltung.



24 September 2016

Streichereinheiten



Heute war für mich ein Streichertag auf dem Reeperbahnfestival. Und von James Johnston, früher bei den Quartalsrockern Gallon Drunk, hätte ich das keinesfalls erwartet.

Doch der Mann kam mit Kammerorchesterchen und mitteldüsterem Pop noir in den Bahnhof Pauli am Spielbudenplatz, und wäre plötzlich Nick Cave in Duettabsicht aus der Kulisse geschlurft gekommen, so hätte sich niemand gewundert.

Vorher bereits hatten mich die drei außergewöhnlich harmoniegesangbegabten Baselerinnen von Serafyn (zwei Celli, eine Akustikgitarre) bezirzt. Kammerfolk so zerbrechlich wie eine angedetschte Mingvase. Dafür hatten Choir Of Young Believers gar keine Streicher dabei, obwohl das angekündigt war, sondern spielten einen Portishead-artigen Elektropop.

Möglicherweise waren das aber auch gar nicht Choir Of Young Believers; so genau weiß man das manchmal gar nicht mehr, wenn man von Club zu Club schwebt wie eine von der Vielfalt herumschlierender Nektararomen halbberauschte Biene.

Was gab’s noch? The Slow Show etwa, ein Solokünstler mit einer Stimme, die an Bill Morrissey erinnert, und Songs, die eigentlich gar keine sind, weil dem Mann das Schema Strophe/Refrain fremd ist und dafür der Begriff Mantra umso vertrauter. Er sollte sich mit Thomas Dybdahl zusammentun, die beiden wären als schwer umwölkte Indiefolkies unschlagbar.

Anna Ternheim, meine ganz persönliche Lieblingsschwedin, geruhte abends in der Großen Freiheit im Bademantel aufzutreten und hallenkompatibel zu indierocken. Künstlerische Weiterentwicklung ist natürlich herzlich willkommen, ohne Frage, doch mir ist ihre „Shoreline“-Phase noch immer die allerallerliebste. Aber auf mich hört ja keiner, am wenigsten Anna Ternheim.

Dafür hören Okta Logue seit Jahren auf mich, obwohl ich gar nichts zu ihnen gesagt habe (na gut, in Form von Rezensionen schon). Diese blassen Griesheimer Jungs mit ihrer Affinität zu Grooves und Psychedelia bilden die weltweit beste deutsche Gitarrenband, und ich würde mich auf jeden beliebigen Kaffeetisch stellen und diese Behauptung aufrechterhalten. Punkt. 

Das gilt in keiner Weise für Connor Youngblood; kann ja auch gar nicht, weil er ein filzköpfiger Afroamerikaner aus Dallas, Texas, ist. Im Imperial-Theater startete der gerätegestärkte Mann mutig mit einer Akustikballade und einem stratosphärenhohen Stimmchen. Danach fing er an, allerlei Sachen wie Ukulelen, Drums etc. live zu samplen und den Status Quo des Lo-Fi zu definieren.

Da war es schon nach Mitternacht und für mich Zeit zu gehen. Schließlich wird der Samstag noch mal an den Kräften zehren, zumal ich mich jetzt schon nicht mehr an alle Bands erinnere, die ich außer den oben aufgelisteten heute alle gesehen habe.

Dieser dunkel pulsende Elektroact im Kaiserkeller zum Beispiel, mit dem (und einem Bier) ich spontan die Pause zwischen Okta Logue und Anna Ternheim überbrückte, war wirklich toll, aber ich bin jetzt zu müde, um ihn im Programmheft nachzuschlagen.

Bis morgen.




23 September 2016

Kann man machen



Reeperbahnfestival: Das bedeutet alljährlich, dass ein Wochenende lang Leute mit gutem Musikgeschmack den Kiez dominieren und nicht die üblichen Heerscharen von Ballermännern und Eckenpinklern.

Denn das muss man zur Ehrenrettung der Hipsterbartträger auch mal sagen: Sie sind zivilisiert(er). Nach einem Schlagermove sieht das Viertel aus, als wäre eine Konfettibombe über einer Urin- und Kotzlache explodiert; nach dem Reeperbahnfestival liegen höchstens Programmprospekte rum.

Ich startete den Abend im Sommersalon mit Me + Marie – und die strahlenden Augen des Trios beim fröhlichen Herumlärmen (u. a. coverten sie Motörheads „Ace of Spades“) machten sofort klar und deutlich, dass auch in hundert Jahren noch junge Menschen zur Gitarre greifen und rumrocken werden.

Diese Art und Weise, seine Jugend zu verbringen, ist einfach unübertrefflich. Meistens zwar nur für die Musiker selbst, aber das galt heute Abend keineswegs für Me + Marie, nicht nur wegen „Ace of Spades“.

Weiter ging’s im Imperial Theaer, wohin mich der vokalreiche Wohlklang des Künstlerinnennamens „Olivia Sebastianelli“ gelockt hatte. Die junge Frau kam allerdings nicht aus Livorno, sondern aus London, und sah auch noch aus wie der jüngste Sprössling der Addams Family.

Gleichwohl sang sie derart laut und fest, dass Dieter Bohlen glatt ein Ei aus der Hose gesprungen wäre, doch er war überhaupt nicht da, sondern wahrscheinlich in Tötensen. Die Sebastianelli wird mal ein Star, da leg ich mich fest, und wenn sie nicht spätestens nächstes Jahr im Vorprogramm von Adele auftritt, dann nur deshalb nicht, weil Adele Schiss vor der Konkurrenz hat.

Nächste Station: Bunker. Kurioserweise virtuosierte dort die Starpianistin Olga Scheps, und zwar außergewöhnlicherweise in Lederhosen und Pumps. So was erlebt man weltweit wohl nur beim Reeperbahnfestival: die Parallelität von Indierockern, Folkpflänzchen UND Weltklassetastenfrauen, die Chopin spielen.

Dass die Scheps auch noch akzentfrei Deutsch spricht, hätte man in der Laeiszhalle, wo sie in der Regel stumm vor einem höchstsituierten Schurwollzwirnpublikum ihre Superskills vorführt, nie erfahren. Auf dem Reeperbahnfestival schon – weil die Booker sich nicht entblödeten, frohgemut gegen den Strich zu denken und eine Frau wie sie einzuladen.

Kurz vor Scheps’ Satie-Part hetzte ich rüber ins Knust, wo das gemütliche Dickerchen Noah Guthrie in Triobesetzung den Country mit Crooning verschmolz. Handwerklich super, aber als Songschreiber ist Guthrie (trotz seines legendären Namens) nicht vom Himmel, sondern höchstens vom Dreimeterbrett gefallen.

Dann halt Black Oak in der St.-Pauli-Kirche am Pinnasberg. Dabei handelt es sich um holländische Indiefolkies mit einem Hang zu Westcoastharmonien und kaum verhohlenen Stolz auf einen amerikanischen Akzent beim Englischsprechen.

Kann man machen, aber faszinierender als ihre Musik war das oben abgebildete Schild auf dem Klo der St.-Pauli-Kirche, was an einem milden Hamburger Septemberabend noch eine Spur grotesker wirkt als sowieso schon.

Morgen Abend geht es weiter mit dem weltweit besten Festival von ganz St. Pauli – und wahrscheinlich sogar dem Rest des Planeten. 







26 August 2016

Wie erschlagen, und zwar zweifach


Ein Satz wie „Mozart würde sich im Grabe umdrehen“ war schon immer Stuss.

Gerade weil er im Grab liegt, kann er das, was ihn zu einer empörten Drehung bewegen würde, ja keinesfalls hören – nicht nur wegen der dämpfenden Wirkung der Erde über ihm, sondern auch wegen der längst irreparabel eingetretenen Dysfunktionalität seiner Ohren.

Stattdessen gilt hier der Umkehrschluss: Könnte Mozart den Empörungsgrund hören, läge er demnach nicht im Grab. Aber mal angenommen, er könnte das, was ihn empören würde, trotz seiner misslichen Lage six feet under doch sonisch wahrnehmen:

Warum sollte er sich dann ausgerechnet umdrehen wollen? Was wäre denn das für eine lahme Reaktion?

Wenn er, Mozart, also dort unten immer noch hören könnte, dann wäre es ihm doch gewiss auch ein Leichtes, sich wie ein Zombie der Rache hervorzuwühlen an die Oberfläche, um die Ursache seines Missvergnügens mit gnadenlosen Knochenhänden abzuwürgen. Statt sich einfach nur umzudrehen.

Der Satz, meine Damen und Herren, stimmt also hinten und vorne nicht, er war schon immer Stuss. Und er ist deshalb selbstverständlich auch völlig ungeeignet, um irgendetws Zutreffendes über das erste Soloalbum „Herzschlag“ des Ex-Adoro-Sängers Laszlo auszusagen, der zu Klassikpopbombast eingedeutschte Songs von u. a. Miley Cyrus derart schmettert, als versuchte er Mozart von den Toten aufzuwecken.

Mein Rat: Dieses Risiko sollte er lieber nicht eingehen.

Als wäre Laszlos Albumpräsentation heute Abend nicht schon erschlagend genug gewesen, fiel später in der U-Bahn auch noch ein junger, durchs ruckartige Anfahren von einer Zehntelsekunde auf die andere seines Gleichgewichtssinns beraubter junger Mann um und sodann auf mich drauf.

Sein frei flottierender Körper fegte mir den Hut vom Kopf, mein iPhone absentierte sich ins Nirgendwo, ebenso meine Orientierung.

Ja, Sie haben richtig gelesen: Ich trug einen Hut. Und zwar einen billigen Strohhut vom Flohmarkt.

Joseph Beuys würde sich im Grabe umdrehen. 


 

 
 
 

17 Oktober 2015

Bedingungslos lydonsfähig



Gestern Abend traf ich erstmals den Mann, der mir mit 17 das Leben gerettet hat. Na gut, er hat es mir damals zumindest enorm erleichtert. Und ich traf ihn auch nicht persönlich, sondern befand mich nur mit ihm in einem Raum, gemeinsam mit ein paar Hundert anderen. Aber immerhin.

Verdammt, ich war am selben Ort auf diesem Planeten mit JOHNNY ROTTEN!

Seit dem Ende der Sex Pistols heißt er wieder bürgerlich John Lydon, aber was macht das schon? Für mich wird Johnny immer Rotten bleiben – also der Mann, der mir einst das Leben rettete. Na gut, fast.

Damals war ich ein Teenager vom Dorf, der nach der Mittleren Reife unter Fremdeinfluss (Eltern!) den Fehler seines Lebens begangen und eine Lehre bei der Sparkasse angefangen hatte. Morgens um 8 musste ich antanzen, in Anzug und Krawatte, das war schon schlimm genug für einen 17-Jährigen, dessen Freunde sich gerade die Haare wachsen ließen. Und dann noch die Verarsche durch ein sadistisches Kollegenensemble – wie man’s halt so macht mit Azubis vom Dorf.

Nachmittags kam ich fertig nach Hause und schob den Rest des Abends Horror vorm nächsten Tag. Bis diese Platte erschien: „Never mind the Bollocks, Here’s the Sex Pistols“. Ich hatte in der damals coolsten Musikpostille Sounds die Kritik gelesen und rannte bei nächster Gelegenheit in den Plattenladen. Shit, die LP war jeden Pfennig des Azubigehaltes wert!

Der Sänger, ein (wie ich aus der Sounds wusste) dürrer Typ mit irre aufgerissenen Augen und einem Grinsen von triefender Verachtung, kreischte hysterisch, dazu verprügelte irgendjemand Saiteninstrumente und Drums, alles explodierte …

Diese hyperventilierenden Schreihälse aus England taten also genau das Gegenteil von dem, was ich tagtäglich tat. Was ich tagtäglich tun musste. Ihre Hemmungslosigkeit lag exakt am unerreichbaren anderen Ende der Skala meiner sparkassenbedingt immens eingeschränkten Handlungsoptionen. „Never mind the Bollocks“ war eine radikale Utopie. Aber eine greifbare: Sie kreiste mit 33,33 Umdrehungen auf dem Plattenteller und veränderte die Welt.

Ich liebte diese Platte. Abends hieß es: Schlips in die Ecke und „Holidays in the Sun“ auf Lautstärkelevel 10. „No feelings“ bis zum Kollaps. Stress relief vom Allerlautesten. Die Wände meines Jungszimmers wackelten unter der Urgewalt der Sex Pistols, das ganze Haus vibrierte.

„God save the Queen“, geiferte Johnny höhnisch, „she ain’t no human being“, und diese Einschätzung schien mir auch eine außergewöhnlich treffsichere Beschreibung meines Filialleiters zu sein.

Bis plötzlich alles erstarb.
Meine Mutter hatte oben die Sicherung rausgedreht.
Fuck!

Später halfen mir auch Nick Drake und Joy Division durch die alles überwölbende Tristesse der Sparkassenjahre, doch die kathartische Kraft von „Never mind the Bollocks“ blieb unerreicht. Johnny Rotten, diese an beiden Enden brennende menschliche Fackel der entfesselten Aggression, war die monumentgewordene Antithese. Das habe ich ihm nie vergessen. 

Und gestern, Jahrzehnte später, war ich erstmals in meinem Leben mit ihm in einem Raum. Er spielte mit seiner Band PiL im Berliner Columbia Theater. John Lydon trug ein schwarzes Kurzarmhemd und wirkte darin ziemlich stämmig. Statt hysterisch zu kreischen, verfeinert er inzwischen eine selbst entwickelte Technik des Jaulens und Heulens.

Manchmal hob John wie segnend die Arme (die Karikatur eines Papstes des Punk!), und manchmal musste er die Brille (!) abnehmen, um die auf einem Stehpult parat liegenden Songtexte lesen zu können. Auch an ihm, dem Helden meines Jungszimmers, sind die Jahre eben nicht spurlos vorübergegangen. Noch etwas, was uns beide verbindet – und was mich, wenn Sie mir diesen Kalauer verzeihen, weiterhin bedingungslos lydonsfähig macht.

Neben mir stand eine junge Asiatin mit streichholzdünnen Beinen, vielleicht 18 oder 19, und als John „This is not a love song“ jaulte und heulte, sang sie jede Silbe mit. Das trieb mir endgültig die Tränen in die Augen. Na ja, fast.

Wenn Sie das lesen und gerade die Mittlere Reife in der Tasche haben: Bitte hängen Sie das Abi hinten dran. Studieren Sie. Aber machen Sie unter keinen Umständen eine Sparkassenlehre! 

Denn keiner kann Ihnen garantieren, dass wieder zufällig ein Johnny Rotten zur Hand ist, um Sie mit einer einzigen Platte aus den Händen jener zu befreien, die keine menschlichen Wesen sind.




24 Juni 2015

Billys Bauch und Stevens’ Beitrag


Komme gerade vom Billy-Idol-Konzert im Stadtpark, und es war lustig. Allerdings aus den falschen Gründen. 

Der gute Billy singt nämlich inzwischen mit dem Stimmvolumen eines lungenkranken Wiedehopfs, lenkt davon aber optisch nicht ungeschickt ab mit einem Six Five Four Three Twopack, der für einen Mann meines Alters durchaus vorzeigbar ausfällt. Was Billy übrigens schon ab dem dritten Song ebenfalls findet, aber so was von.

Höhepunkt des Abends nichtsdestotrotz: sein optisch ausgesprochen grotesker Gitarrist Steve Stevens. Der Mann ist ein toller Instrumentalist, unbenommen – aber leider zum Glück hat er sich zurechtgemacht wie die vertikal herausgeforderte Parodie eines Hair-Metal-Heinis, der in Schlaghosen aus Schwarzleder in einen Topf voller Ron Woods gefallen ist. 

Aus all diesen Gründen war das Billy-Idol-Konzert im Stadtpark jedenfalls ziemlich lustig. 
Und vielleicht sogar ja doch aus den richtigen Gründen.


02 August 2014

Was ist diese Saison anders beim FC St. Pauli?



Bierbehälter: In den vergangenen Jahren verwöhnte uns der FC St. Pauli mit individuell bedruckten Hartplastikbechern – echte Sammlerstücke also, wie etwa der Bollbecher. In diesem Jahr speist man uns mit windelweichem knitterfreudigem Minderplastik ab, auf dem lediglich ein Brauereiname prangt. Dafür ist es zum Ausgleich teurer geworden. Nur fair!



Fanausmaße: Nun gut, vielleicht bildet der Trumm zwei Reihen vor mir nicht den statistischen Durchschnitt ab, doch Menschen, die im Grunde zwei Sitzschalen in Anspruch nehmen, obwohl sie nur für eine bezahlt haben, sind mir in der letzten Saison nicht aufgefallen.




Bandenwerbung: Der Claim „Fairness nach dem Spiel“, mit dem die Stader Feuerbestattungen uns zu charmieren versuchen, scheint mir ebenfalls neu zu sein. Vielleicht habe ich ihn aus naheliegenden Gründen auch nur verdrängt.


Stilleben: Für die liebevolle Gestaltung dieser feinsinnigen Komposition aus Senf, Kippen, Asche und Papierserviette zeichnete übrigens der Double-Size-Fan von oben verantwortlich. In manchem unförmigen Äußeren steckt eben eine zarte Künstlerseele.

Und was blieb diese Saison gleich?


Natürlich die hochprofessionelle Reihenbeschriftung: Dabei handelt es sich um tintenstrahlausgedruckte Papierstreifen, die wahrscheinlich mit einem Pritt-Klebestift auf den Betonsockel der Sitzreihen gepappt wurden. Komisch, dass das blöde Ding aus irgendwelchen naturgesetzwidrigen Gründen verdammt noch mal unverständlicherweise immer wieder abgeht.

Habe ich schon mal gesagt, dass ich diesen Verein schon ein bisschen mag? 
Wenn nicht, dann halt jetzt.

PS: All diese Erkenntnisse habe ich übrigens heute vor Ort auf der Nordtribüne beim 1:1 gegen Ingolstadt gewonnen.


10 Mai 2014

Danke


Pünktlich zu Hafengeburtstag und ESC: Sturmböen, Regen und gefühlte 8 Grad.

Manchmal liebe ich den Wettergott.