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09 Juli 2025

Mein erstes und letztes Interview mit Ernst Kahl

Der Tod des universalgelehrten Hoch- und Tiefkomik-, Maler- und Musikerfürsten Ernst Kahl, der heute bekannt wurde, hat mich sehr getroffen. Ihm gebühren Ruhm, Ehre und ewiges Gedenken, und um mein Scherflein dazu beizutragen, kommt hier (nicht zum ersten Mal) meine Homestory, die mir der zu- und umgängliche Meister aller Klassen dereinst in Hamburg-Ottensen ermöglichte. 

Der unten zu lesende Text ist das Ergebnis eines vielstündigen feuchtfröhlichen Abends, der sich sekundenlang hinzog bis in die Nacht – und leider viel zu kurz war. Doch er mündete in eine jahrzehntelange Bekanntschaft. Seine handgeschriebenen Briefe und Karten hüte ich wie Schätze. 

Farewell, Buddy!



Komik ist Notwehr

Was kann Ernst Kahl eigentlich nicht? Gerade ist ein Kunstband erschienen, der ihn als Klon aus Busch, Magritte, Caspar David Friedrich und Hitchcock ausweist. Aber Kahl ist auch Musiker, Drehbuchautor, Humorist und Kolumnist. Was bleibt, wenn man all das wegrechnet? Ein Hausbesuch soll Klarheit bringen.

Wer zu Ernst Kahl will, muss in einen Hamburger Hinterhof. Der Gang dorthin ist dunkel – dass bloß der australische Chardonnay, den man vorsorglich dabei hat, nirgends aneckt! Denn Kahls Stimme am Telefon hob sich merklich, als man das geistige Mitbringsel erwähnte. „Flasche Wein? Eigentlich hatte ich heute Abend zwar einen Termin mit einer balinesischen Tempel- und Nackttänzerin, aber für einen australischen Chardonnay lasse ich alles stehn.“

Bei Kahl sieht es nach Bombenterror oder brünstigem Hauskater aus. Der legere Hausherr im gerippten Pulli ist damit sehr zufrieden. „Ich habe gerade ein wenig aufgeräumt“, sagt er nicht unstolz. Jeans liegen auf der Heizung, in den Ecken Gitarren. Herum hockt protzig ein Schlagzeug. Wir sind in Kahls Wohnzimmer, das auf eine kunstlose Art nicht eingerichtet ist. Kahl ist völlig unspießig, aber nicht aus Ideologie. Er findet einfach nichts dabei, wenn Stühle dastehen wie vom Spediteur vergessen. Wenn Boden und Tisch mit Blättern unterschiedlicher Wichtigkeit bestreut sind. Wenn die Wände alle kahl sind und nicht voller Kahls.

Sollte seine junge frische Freundin hier mal einziehen, was sie sich durchaus vorstellen kann und Kahl auch schon ein bisschen, dann will sie zuerst Struktur ins Chaos bringen. Das wäre dann die erste Struktur, mit der er leben könnte. Vielleicht. Hier haust offenbar ein Bohémien, vielleicht auch ein Chaot oder ein Bettler oder einer, der alles zusammen ist – aber doch keiner, dem der Filmproduzent Bernd Eichinger für eine Woche Drehbuchschreiben mal eben 10 000 Mark überweist, obwohl das Ding dann doch nicht verfilmt wird.

Ja, der Herr Kahl: ein verwuselter Wohner, aber ein genauer, manischer und verlässlich kreativer Kunstarbeiter. Drei Wochen lang hat er gerade gepinselt wie ein Galeerensklave, weil in Bochum eine Strindberg-Premiere seines Freundes Detlev Buck droht und im Schauspielhaus pünktlich echte Kahls hängen sollen. Alte Bilder malte er dafür groß nach. „Winzige Boshaftigkeiten auf große Formate – und plötzlich kriegen die was Klassisches“, wundert er sich. Winzige Boshaftigkeiten? Kahl meint Bilder wie „Mondscheinidyll“. Drauf ein Gör mit blutverschmiertem Mund, daneben ein Kampfhund mit durchbissener Kehle. „Das ist ganz merkwürdig“, sagt er ernst. „Niemand würde sich trauen, so ein Motiv ganz groß zu malen.“ Niemand außer Kahl.

Wissen die Bochumer eigentlich, welche Kulissenschocker da auf sie zukommen? Kahl grinst genüßlich und tut, was er unablässig mit seiner weitläufigen Bude tut: Er qualmt sie voll. „Ich glaube nicht. Fürs Theater ist es wahrscheinlich schon ein Hammer. Es hat eine … banale Hintergründigkeit. Dadurch, dass ich lakonisch und banal die absoluten Grausamkeiten beschreibe, haben sie etwas Alltägliches. Nicht wie Helnwein, der schockieren will mit richtigen Schmerzbildern. Meine sind ohne Blut, ohne Grauen, aber witzig. Viele werden sagen: Das ist doch keine Kunst. Aber diesen Kampf nehme ich gerne auf. Es wird Zeit, dass das Absurde und Komische Eingang in die Kunst finden. Beim Lachen hört die Kunst auf, und das ist ein Witz.“

Nach der wochenlangen Malorgie, zu der er sich gar die Matratze ins Atelier holte, kann Kahl kaum noch stehen. Er stakst einher wie ein Storch. Alle zwei Tage ein Bild, davor die Produktion des voluminösen Bandes „Kahls Künste“, zwischendurch Songs schreiben, sie mit Kumpel Hardy Kayser aufnehmen im kleinen Heimstudio, Konzerte geben, das Drehbuch für Wigald Bonings ersten Kinofilm „Die drei Mädels von der Tankstelle“ schreiben (Start: 12. Juni): Jetzt ist er schlapp, der Kahl.

Ein Wunder, dass er noch zum Aufräumen gekommen ist. Ein Wunder auch, dass das Telefon den ganzen Abend nicht klingelt. Aber Kahl ist ein Voodoopriester auf intuitivem Feldzug gegen funktionierende Technik. Wenn er kommt, versagen CD-Player, Platten gehen kaputt. Nacheinander werden sich heute abend vier Batterien weigern, das Aufnahmegerät zu betreiben. „Die Technik“, sagt der computerlose Kahl befriedigt, „mag mich nicht. Und ich mag die Technik nicht.“

Er ist jetzt 47 und berühmt. Seine Bio im Zeitraffer: in Kiel geboren, Kinderlähmung mit vier, zwei Lehren geschmissen, mit 17 von zu Hause abgehauen, Kunststudium in Hamburg an- und abgebrochen, Bildersammlung in der S-Bahn vergessen, Hilfslehrer auf der Hallig Hooge, nach vielen, auch amourösen, Wirren zurück nach Hamburg.

„Bin vom Leben“, grinst Kahl, „mit rauer Zunge beleckt worden.“ Zu den karrieregefährdenden Defekten der frühen Jahre gehörte nicht nur eine solide Grundrenitenz gegen „Strukturen“, sondern auch eine handfeste Paranoia. Die wurde er irgendwann wieder los, seinen Schiss vor Prüfungen dagegen nie. Bis heute examinierte noch keine Kommission dieser Welt den Kahl. Damals, auf der Kunsthochschule, haben sie ihn dank der mitgeführten Mappe genommen. Rechtzeitig vorm Abschluss schlich er sich.

So einer hat auch keinen Führerschein. Wenn man ihn fragt, warum, erzählt er immer, er sei mal mit dem Auto in eine Fußgängergruppe gerast. Drei Tote, aber nicht seine Schuld – Getriebeschaden halt. Dann genießt er die Betretenheit und grinst sich heimlich eins – Kahlscher Humor. Aufgeklärt wird die Schauermär natürlich nie.

Nicht nur wegen seiner Prüfungsangst wird Kahl kaum noch zum Führerschein kommen; er ist einfach ausgelastet bis zum Nichtmehraufräumenkönnen. Bei dem, was er so alles macht, wird einem ganz schwindlig, und dabei ist der Wein gerade erst entkorkt.

Kahl malt und zeichnet, mal wie ein alter Meister, mal kunstvoll ungelenk wie ein Pennäler; Kahl schreibt, singt, macht dies und das und irgendwie alles richtig. Ist die Zeit der Universalgenies nicht vorbei? War nicht circa Goethe der letzte, der dichtete, dokterte und kritzelte? Kahl macht das auch, nur komischer, respektloser. Der Clash der Hoch- und Tiefkulturen – wenn Kahl kommt, rasselt es richtig. Er, der ein Traktat mal ironisch „Die kleine Kunst des geraden Blicks“ taufte, ist nämlich ein Kreuz-und-quer- und Drunter-und-drüber-Gucker.

So verblüffend leicht er auch zwischen Vermeer und Disney, zwischen Karl Kraus und Heinz Erhard changiert, so wenig achtet er den Ernst der Lage. Nach allem, was so rauszulesen und -lachen ist aus seinem Werk, ist Kahl ein Nihilist.

Man stößt auf Mönche, die Tote begatten, und auf Kinder, die Lehrer enthaupten. Keine Werte, nur Werke? Ein Gott nach Kahlschem Gusto muss ein Freak sein. „Gott?“ japst Kahl. „Unvorstellbar für mich. Ich arbeite gerne mit Klischees, die es über Religion gibt, um zu irritieren. Aber so überstark, dass sie schon wieder komisch sind.“ Als Knabe sang er im Chor, doch kurz nach der Konfirmation sagte er Tschüs zur Kirche. Der Pastor versuchte noch, ihm ins Gewissen zu reden. Nützte nichts: Kahl hatte gar keins.

Ihm scheint nichts heilig zu sein. „Ein völlig falscher Eindruck“, wehrt er ab. „So vieles ist mir heilig – ich versinke in Ehrfurcht davor. Nehmen wir die Punks mit ihrer Hoffnungslosigkeit und zugleich ihrer ganzen Liebe. Die sind mir heilig: die Parias unserer Gesellschaft.“

Ernst Kahl ist das, was Kris Kristofferson mal über Johnny Cash sagte: „a walking contradiction“. Nichts an ihm ist stimmig. Kahl hat keine Glatze, und Ernst ist witzig. Und sein Spaß fängt da an, wo er gemeinhin aufhört. Dabei will er gar kein Wadenbeißer mit Ansage sein wie Wiglaf Droste. Nur sich lustig machen über „Strukturen“, wie er alles nennt, was einengt, niederdrückt oder uns Blödsinn nachplappern lässt.

Das kostete ihn 1989 den Job beim Politmagazin Konkret. Wegen Rassismus. Was hatte er getan? Den linken Kuscheltierblick auf Ausländer veralbert, indem er eine Galerie malte mit Ausländern, die wählen dürfen sollen und solchen, die nicht; und letztere waren dann alles Verbrecher und phsyiognomisch Missratene. Da durchfuhr ein „Huch!“ die Redaktion, und ihren Rat kann Kahl bis heute auswendig hersagen: „Auf die Deutschen kannst du einhauen, wie du willst“, beschied man barsch, „aber nicht auf die Ausländer!“

Die Satirezeitschrift Titanic füllte die publizistische Lücke, Kahl dagegen keine Konkret-Seiten mehr. Inzwischen hat er auch mit den Titanic-Leuten Probleme: „Das sind alles Oberschüler. Kein Platz für einen einfachen Scheißwitz, der nicht intellektuell sein will.“

Einen wie den, den Kahl mal malte: Hängt ein Spiegelei am Himmel, und drunter steht – „Ei in the sky“. Ein echter Kahlauer. Oder den: Liegt eine verreckende Vettel im Sterbebett, Gevatter Hein steht schon am Bettpfosten, und sie begrüßt ihn in letzter Lüsternheit mit: „Tod, wo ist dein Stachel?“

Zeit, mit Kahl über Kunst zu reden. Er zeigt auf einen Pflasterstein in der Ecke, auf dem eine Steinkugel liegt. Nicht irgendeine, ein Mahlstein aus der Steinzeit. „Ist das Kunst?“ fragt er rhetorisch. „Ich könnte es auch auf einer Ausstellung für sich selber sprechen lassen.“

Heute Nacht noch, nach dem Chardonnay, will er irgendwo im Viertel ein komisch geformtes Holzstück auflesen, das ihm mittags beim Spaziergang auffiel. „Ein Stamm mit ner Gabel“, erinnert er sich. „Sieht aus wie eine früheisenzeitliche Götterstatue, die sie in Schleswig manchmal aus dem Moor holen. Das wird hier irgendwann stehen.“ Aber Kunst? Jedenfalls Kahl-genehm. Genau wie das Morbide, Böse und Banale, wie Perfides und Peinliches, Plattes und Naives, die Zote, das Hochkünstlerische und der Kalauer. Bei ihm koexistiert all das durcheinander. Deshalb eckt er oft an, nicht nur bei Snobs.

Kahl ist ein Toleranzgrenzentrüffelschwein. Wie erleichternd, dass selbst so einer seine Vorurteile hat. „War heute beim Griechen essen. Da lief so eine Blubberhiphopscheiße, so ‘n Kommerzquatsch. Ich bin richtig explodiert.“ Dem Kahl kann man nur mit Stones kommen und Animals. Der Grenzverletzer und Genrevermischer, der noch jedes Idyll per Pinselstrich gekillt hat: Hier ist er dogmatisch. Hier gilt das Wahre, Schöne, Gute, nicht der Hip von heute. Seine eigenen Songs sind niedliche Pseudo-Kinderlieder („Die rüstige Frau Reimann/sieht aus wie Billy Wyman/Marie, die alte Fotz/geht weg als Charlie Watts“). Sie haben Plinkergitarren und hopsigen Takt. Und zwischen zwei Endreimen flieht bisweilen ein Einsamer zur tiefgefrorenen Lieblingsleiche.

„Es kommt immer darauf an, wie man sich einem Thema nähert“, findet der Geist, der sich solches ausdenkt. „Unbeholfen etwas Gemeines erzählen, kommt konspirativer daher.“ Das versteht nicht jeder. Kahl ist vielen ein Rätsel. Wie und was er malt und schreibt: Das beflügelt die Fantasie über den Urheber. Dabei ist er keiner, der Drogen braucht, um ein schlangenjagendes Karnickel zu visionieren. Nein, mit koksgetrübtem Blick wäre die sich dahinter perspektivisch perfekt verlierende Landschaft nicht zu schauen und nicht zu malen. Für so etwas musst du wach sein. Und eine Hand haben, die nicht zittert.

Max Goldt, das hat Droste ihm geflüstert, hält Kahl für einen bitterbösen Menschen. Das versteht er kein bisschen. Vielleicht hat Goldt zu lange vorm Gemälde „Abendfrieden“ gestanden, wo eine Familie unter einem Galgen rastet, an dem noch ein Gehenkter baumelt. Und helle, wie Kahlsche Bilderkinder sind, haben Brüder- und Schwesterlein der Leiche ein Brett zwischen die Füße gebunden, damit sie als Schaukel taugt.

Kahl travestiert das Erhabene durch das Gemeine, meint eine Exegetin. Macht ihn das bitterböse? „Nein, wirklich nicht“, sagt Kahl, „für mich ist das Lebenshilfe, Dinge absurd zu betrachten. Komik ist Notwehr.“ Gegen Strukturen natürlich.

Alle Kunst und Komik schöpft er aus sich selber, denn er konsumiert die Kinkerlitzchen der Konkurrenz nicht. Wie bei so wenig Input soviel herausfließen kann, ist das größte Rätsel. Durchs Dauerknutschen mit Kahl will die Muse wohl ins „Guinness Buch der Rekorde“. Und sie steckt ihm wirklich komische Sachen. Einem Kasseler documenta-Funktionär schlug Kahl vor, den Bahnhofsvorplatz umzugestalten, dies jedoch von Pygmäen tun zu lassen. „Fragt der Typ nach der Aussage“, feixt Kahl. „Und ich sage: Scheiß auf die Aussage! Ich find‘s einfach klasse!“

Nein, Kahl ist kein Intellektueller. Wer mit ihm über die Bedeutung des Kreises im Spätwerk Kandinskys reden will, kriegt einen Korb und Chardonnay nachgeschenkt. Kahl weiß ja nicht, was Kunst ist. Er weiß nur, was dabei herauskommt, wenn er etwas klasse findet.

Und das reicht wahrscheinlich für die Unsterblichkeit.


(Foto: Tom Hintner, 2014)

(Erstmals erschienen 1997 in kulturnews)




24 März 2025

In memoriam: Käpt’n Angelo


Dieses kleine Porträt eines Kiezoriginals erschien hier im Blog am 7. Dezember 2013 unter dem Titel „Ein Jahr an Krückenstöcken“. Vor wenigen Tagen ist Käpt’n Angelo nun gestorben, wohl mit 82, und das macht es unbedingt notwendig, diesen Text hervor- und hochzuholen – und einzusortieren in die traurigste aller Rubriken auf der Rückseite der Reeperbahn: in memoriam. Hier also noch einmal der Text und das Video von damals. 

Käpt’n Angelo Basilikos sitzt bei null Grad Außentemperatur Beim Grünen Jäger und versucht seine Finger an den eisigen Stahlsaiten seiner Bouzouki warmzuspielen. Das klappt natürlich nicht, und deshalb will er auch gleich den Betrieb einstellen. 

Vorher aber gestattet der altehrwürdige Grieche mir noch mitzufilmen (s. unten), wie er den Pavarottis gibt. „Meine Stimme hat neun Oktaven!“, behauptet er kühn und nicht ohne Stolz. Nun, das wären ungefähr dreimal so viele wie Mariah Carey, aber Käpt’n Angelo hat ja auch ein paar Jährchen länger geübt. 

Seit 40 Jahren lebt er auf dem Kiez, „habe Kinder gemacht auch“; ein alter Seebär, den es in seiner Jugend nach San Francisco verschlagen hatte, weshalb er nach seiner Rückkehr nach Athen, wo er mit einer Sängerin und Orchester in Musikclubs auftrat, als „der Amerikaner“ galt. 

Zuletzt aber lief es echt schlecht. „Ich habe ein Jahr an Krückenstöcke gelebt“, erzählt Käpt’n Angelo zwischen zwei Songs in seinem wunderbar griechisch gefärbten Baritondeutsch, das ihm jederzeit einen Radiojob verschaffen dürfte, wenn es ihm doch mal zu kalt wird für Straßenmusik. 

Schuld an des Käpt’ns Krückenstöckenjahr war ein Unfall, der ihn alles kostete: seine Frau und die beiden Kneipen, die er auf dem Kiez mal führte, wie er erzählt. Eigentlich ein super Grund, um sich willenlos der Altersdepression hinzugeben, doch an so was hat ein Käpt’n Angelo keinerlei Interesse. 

Stattdessen blitzen seine 71-jährigen Kapitänsäuglein vor Freude, wenn er über sein bewegtes Leben erzählt, bei null Grad Außentemperatur die Finger an den eisigen Stahlsaiten seiner Bouzouki warmzuspielen versucht und vergnügt den Pavarottis gibt.

Wegen solcher Typen liebe ich St. Pauli. Sie wiegen tausend Eckenpinkler auf. 

Na gut: 500.



Update 10.04.2025 (Fotos von Jörgi):







 


04 August 2023

Mein erstes und letztes Interview mit Lemmy Kilmister

In Wacken wollen sie jetzt einen Teil seiner Asche endlagern, denn Lemmy ist für das Festival so etwas wie ein Säulenheiliger. Und als ich das lese, fällt mir auf, dass der große wilde Mann noch gar nicht in meiner oben genannten In-memoriam-Serie auftaucht – eine Lücke, die zum Glück leicht zu schließen ist. Hier also ein Rückblick auf mein Lemmy-Treffen aus dem letzten Jahrtausend. Damals war er 50. Tempi passati …

Lemmy beäugt die mitgebrachte Ausgabe der Zeitschrift kulturnews mit einer gewissen Skepsis. „Kultur?”, krächzt er, „if I hear kultur, I pull my gun.“ Trotz des imposanten Patronengürtels, der einen Teil seines überlappenden Bauchs stabilisiert, fühle ich den Drang, Lemmys Meinung zu korrigieren.

„Ähm, Lemmy“, sage ich vorsichtig, „du bist doch ein Teil davon … irgendwie.“

Lemmy wirft zwei Eiswürfel in seinen Jack Daniel’s, den er in einem für die Brause ungünstigen Verhältnis mit Cola verdünnt hat, und zieht an der Kippe. „Yeah“, sagt er, „irgendwie.“

Nach über einem Vierteljahrhundert Metalshouting für Hawkwind und Motörhead ist seine Stimme zu etwas geschrumpft, das klingt, als rutschte ein Schlitten über Sandpapier – der Preis des Ruhms. Würde man den Lemmy von heute Nachmittag schockfrosten und in einem Hard Rock Café aufstellen, empörten sich die Gäste gewiss über die geballte Ladung Metalklischees, mit der das Denkmal ausstaffiert ist: aufgeknöpftes schwarzes Hemd mit hochgerollten Ärmeln, Kette mit eisernem Kreuz um den Hals, Tattoos an den Armen („Born to lose / Live to win“), pferdeaugengroße Totenkopfringe an den Pranken, eine zu enge Hose mit Schlag und dazu weiße Spitzstiefeletten, die dringend geputzt werden müssten.

Und immer, wenn die Lemmy-Statue weibliche Cafégäste erblickte, würde sie „silly cow“ röcheln. So nennt er jedenfalls (wenn sie grad nicht da ist) die Blonde von der Plattenfirma, die dafür sorgt, dass ihm Whiskey, Eis und Cola nicht ausgehen – in dieser Reihenfolge.

Ich meine: Lemmy ist wirklich böse. Er hat kirschtomatengroße Warzen im Bartgesicht! Und Zottelhaare mit eisgrauen Strähnen drin. Damals, 1975, war es seine Idee, Motörhead mit „ö” zu schreiben. Das sah irgendwie deutsch aus, und die Deutschen, Mann, sind für einen Engländer echt „mean”.

Wir vereinbaren ein Stichwortinterview, das schont seine Kehle. Let's go, starten wir mit der Anatomie.

Seine arme Stimme … ? „Hat sich zur Ruhe gesetzt.“
Der Zustand seiner Ohren? „Ich hab genau verstanden, dass du mich das gefragt hast.“
Exduopartnerin Samantha Fox (… the breast and the beast, haha): „Geschichte.“
Britisches Rindfleisch? „Geschichte.“
Drogen? „Naturgeschichte.“
Techno? „Bald Geschichte.“

Lemmy trinkt schnell, er raucht schnell, aber er denkt auch schnell.

Tanzen? „Ich tanze nicht. Except for the totentanz, hehehe.“
Drei Dinge, die er am meisten hasst? „Politiker, organisierte Religion und – hmm – Intoleranz.“
Gott? „Welchen? Gibt's einen? Ich glaube daran, dass wir unsere eigenen Entscheidungen treffen müssen. Es gibt keinen Ausweg namens Gott.“
Alt zu sein? „Unvermeidlich.“

Lemmy wirft Eis nach und füllt mit Whiskey auf. Es ist 16 Uhr 11 an einem Dienstag. Wir sind in einem Hotel an der Kieler Straße, das bevölkert ist von ältlichen Frauen. Der Häkelclub Hodenhagen in der Großstadt. Und in einem der Zimmer, davon wissen die Damen nichts, sitzt Lemmy Kilmister. Der Melody Maker hält ihn für „radikal, roh, barbarisch und verrückt”. Was davon stimmt heute nicht mehr? „Nichts“, seufzt Lemmy, „alles stimmt.“

Danke, das war's, sage ich. „Das war leicht“, sagt Lemmy. Sein Händedruck ist sehr fest, ich fühle den Totenkopfring. Im Foyer wuseln aufgeregte Häkeldamen herum. Wahrscheinlich wollen sie heute Abend ins „Phantom der Oper“.



 

27 April 2022

Mein erstes und letztes Interview mit Klaus Schulze

Von der Blogserie mit oben genanntem Titel hoffe ich ja immer, es möge niemals weitere Anlässe geben, sie fortzuführen. Aber heute ist es traurigerweise wieder einmal so weit. Denn Klaus Schulze, der Synthiepionier und unbestrittene CEO der Berliner Elektronikschule, ist gestern 74-jährig gestorben. Ein Anlass, der mich an mein Interview mit ihm im Jahr 2000 zurückdenken lässt. 

Ich hatte all meine Schulze-Alben dabei, über ein Dutzend, und schlug ihm ein kleines Quiz vor: Er solle mir bitte zu jeder Platte das Veröffentlichungsjahr nennen. Angesichts seines Outputs im Laufe von damals schon mehr als einem Vierteljahrhundert – sein Werk belief sich auf eine dreistellige Zahl von Alben – schien mir das eine nicht zu bewältigende Gedächtnisleistung. Doch weit gefehlt: Schulze machte keinen einzigen Fehler. Danach signierte er mir bereitwillig alle mitgebrachten Alben. Um so etwas habe ich im Laufe von 25 Musikjournalistenjahren nur zwei Künstler je gebeten: ihn und Townes Van Zandt

Hier nun mein erstes und letztes Interview mit Klaus Schulze, erschienen im November 2000. Aufs Duzen hatte übrigens er bestanden – nachdem ich ihn selbstverständlich respektvoll mit „Herr Schulze“ angesprochen hatte.

Man sollte meinen, der von der Technogeneration hochverehrte Elektronikguru Klaus Schulze, 52, residierte in wolkigen Höhen, wo er monumentale Werke wie die aktuelle Zehn-CD-Box „KS Contemporary Music“ (Rainhorse) zusammenstöpselt. Weit gefehlt: Der Berliner ist eine urige Type, der röhrende Motoren manchmal lieber mag als zirpende Synthies.
 
mw: Klaus, wie man hört, bist du Formel-1-Fan.
Schulze: Aber hallo! Jeder, der mich kennt, weiß, dass er mich alle 14 Tage von Donnerstagabend bis Sonntagabend nicht anrufen kann. 
mw: Häkkinen und Schumacher haben geweint. Dabei wurde die Formel 1 doch hochstilisiert zur Spielwiese der Alphamännchen …
Schulze: Ja, aber in Wahrheit steckt Romantik in jedem Rennen – wie einst bei den Rittern, wo es darum ging, wer als Erster mit der Lanze trifft. Und zu dem ganzen Romantikkram gehört auch dazu, dass man mal heulen kann.
mw: Verwunderlich, welchen Ausstoß an Alben du trotz deiner Rennleidenschaft produzierst …
Schulze: Ist doch nur alle 14 Tage, so ein Rennen. Und ich verbringe jeden Tag zehn Stunden im Studio; da kommen ein paar Platten bei heraus.
mw: Wie viele sind es denn inzwischen?
Schulze: Na, über 100 auf jeden Fall. Aber in 30 Jahren. Rechne det ma runter: Sind nur drei im Jahr. 
mw: Du hast dir immer viel Zeit gelassen, um Stimmungen, Atmosphären und Spannungen aufzubauen, während das Tempo unserer Kultur immer mehr zunahm.
Schulze: Ja, das ist das Problem mit der Kommerzialität, das die Firmen immer mit mir haben.
mw: Hast du diesen Widerspruch gespürt?
Schulze: Ich habe so angefangen und bin dabei geblieben. Ich kann’s nicht anders. Du könntest auch Fellini nicht zum Werbespot überreden.
mw: Flächen und Beats sind die wichtigsten Elemente deiner Musik. Um 1980 hat die Bedeutung der Beats allerdings zugenommen. Hing das mit der just erfundenen digitalen Technik zusammen?
Schulze: Beim Rhythmus nicht, aber bei der Aufnahmetechnik. Mein Album „Dig it“ war auch, glaube ich, das erste digitale überhaupt.
mw: Nein: Das war Ry Cooders „Bop til you drop“ …
Schulze: Ach, nee? Siehste, dann hat Stereoplay sich geirrt. Meine war von 1980 …
mw: … und Cooders von 1979.
Schulze: Ach ja.
mw: Im Lauf der Zeit hat Elektronik den Pop infiziert, Synthesizer übernahmen von der Gitarre die Führungsrolle – Musterbeispiel: das neue Madonna-Album „Music“. Fühlst du dich als Pionier dieser Entwicklung?
Schulze: Pionier würde ich mich nicht nennen, denn ich habe die 220 Volt nicht erfunden. Trotzdem ist es eine tolle Befriedigung für mich. 
mw: Auf dem „Mirage“-Cover beschreibst du den Synthesizer als „universale Musikmaschine, deren Möglichkeiten weit über das menschliche Hirn hinausgehen“. Da scheint eine fast religiöse Verehrung mitzuschwingen … 
Schulze: Religiös nicht, Verehrung schon. Denn ohne diese Geräte gäbe es mich nicht. Ganz einfache Sache. 
mw: … zumindest nicht als Musiker und Künstler.
Schulze: Du, ohne wäre ich wirklich eingegangen. 
mw: Der amerikanische Wissenschaftler Ray Kurzweil prophezeit ja über kurz oder lang den Cyborg, also die Verschmelzung von Mensch und Maschine. Ist das für dich ein Traum oder Alptraum?
Schulze: Alptraum. Ich möchte schon ein organischer, mit allen Fehlern und Vorteilen behafteter Mensch sein. Nur möchte ich auch die Möglichkeiten des Cyborgs nutzen können. Meine Traumvorstellung war ja immer: vom Midistecker direkt in den Kopp. 
mw: Warum hast eigentlich ausgerechnet du eine solche Credibiliy bei der Technogeneration – und deine alten Kumpels von Tangerine Dream nicht?
Schulze: Die waren seit Ende der 80er nur amerikaorientiert, machten kurze Stücke mit Pausen dazwischen, damit die Leute ihr Popcorn kaufen konnten. Wir haben uns den Markt aufgeteilt: Ihr macht Amerika, ich mache Europa … Kennst du eigentlich den Unterschied zwischen Amerika und Joghurt?
mw: Na? 
Schulze: Joghurt hat Kultur.

 

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27 Oktober 2020

Mein erstes und letztes Interview mit Tony Joe White

Vor zwei Jahren, am 24.10.2018, starb der unvergleichliche Songwriter, Gitarrist und Soulgrummler Tony Joe White, wegen dem ich sogar extra mal nach Amsterdam gefahren bin. Damals, als die Nachricht seines Todes mich erreichte, hatte ich vor lauter Bestürzung die Gelegenheit versäumt, ihm unser kurzes Interview von 2014 nachzurufen. Deshalb folgt es jetzt, zum zweiten Todestag.


mw: Mr. White, Ihr aktuelles Album „Hoodoo“ klingt wieder nach Ihren Anfängen Ende der 60er. Was macht diesen dunklen, erdigen Sound in Ihren Augen so zeitlos, dass Sie ihn im 21. Jahrhundert wieder aufwärmen?
Tony Joe White: Ich denke nie darüber nach, ob ich nach einer bestimmten Ära klinge, sondern versuche einfach so soulig wie mögich zu singen und zu spielen.

mw: Ihnen scheinen Atmosphäre, Langsamkeit, Intensität am wichtigsten zu sein. Hat das vor allem klimatische Gründe? Sie sind ja in den Südstaaten aufgewachsen …
White: Ja, auf einer Baumwollfarm in Louisiana. Die Zeit vergeht dort wirklich langsamer. Ich habe auch nie das Bedürfnis gehabt, etwas zu beschleunigen. Und das schlägt sich wahrscheinlich nieder in meinem Sprechen, Singen und Gitarrespielen. Das ist für mich alles dasselbe.

mw: Elvis hat ihr Lied „Polk Salad Annie“ gecovert. Was ist das für ein Gefühl, wenn ein Stück vor den Augen des King Gnade findet?
White: Na, ein großartiges! Ich hatte in den Clubs oft Elvis gecovert, bevor ich selbst anfing zu schreiben. Es war sehr cool, als er plötzlich einen meiner Songs aufnahm – und dann noch zwei weitere. Er war ein Held für mich, deshalb waren das sehr aufregende Zeiten.

mw: 1989 wahrscheinlich auch: Da packte Tina Turner gleich vier White-Songs auf ihr Studioalbum „Foreign Affairs“, das sie sogar nach einem davon benannte. Haben Sie manchmal damit gehadert, dass Künstler mithilfe Ihrer Songs zu Superstars wurden, während Sie bei Weitem nicht so bekannt sind?
White: Was für Elvis gilt, gilt auch für Tina Turner: Sie war meine Heldin. Dass sie vier Stücke von mir aufnahm, war grandios. Ich war damals auch mit ihr im Studio und habe Gitarre gespielt – da wurde ein Traum Wirklichkeit. Jedenfalls habe ich nie drüber nachgedacht, ob ich bekannt bin oder nicht. Nein, ich fand es immer wunderbar, wenn jemand meine Songs aufgenommen hat.


Foto: mw

12 September 2019

Mein erstes und letztes Interview mit Daniel Johnston

Vorgestern starb der US-amerikanische Singer/Songwriter Daniel Johnston († 58). Vor neun Jahren habe ich mal mit diesem schrägen Vogel telefoniert. Daraus entstand ein kleiner Text, erschienen im April 2010 in der Zeitschrift uMag. Anstelle eines Nachrufs erscheint er hier noch mal.

„DANKE, GUT“  
Kurt Cobain pries ihn als weltgrößten Songschmied, Indienerds vergöttern ihn: den manisch-depressiven Sänger Daniel Johnston. Ein Mann am Abgrund – doch uMag hat ihn lachen hören.
In zehn Minuten soll ich noch mal anrufen, sagt sein Vater Bill. Und zwar in genau zehn Minuten. Okay, okay. Nach zehn Minuten: „Daniel, hi, how are you?“ Eine Anspielung auf seinen berühmten Graffitispruch, mit dem er als Teenager Kalifornien pflasterte. „Danke, gut“, sagt der größte Songschmied der Welt. 
Kurt Cobain trug mal ein T-Shirt mit dieser Grußfloskel auf MTV. „Das war echt was!“, gluckst Johnston, „richtig cool!“ Er kennt nur Fotos davon. Überhaupt hat er’s nicht so mit Technik. Mail, Web? Nix für Johnston. Er hat auch so genug damit zu tun, sein Leben auf die Reihe zu kriegen – und Alben wie „Beam me up!“ zu schreiben, ein windschiefes, rumpeliges Meisterwerk voller Jaulgesänge und besoffener Bläser, das deine Gefühlswelt völlig durcheinanderbringt. 
„Daniel, unter deinen Fans scheinen mehr Künstler zu sein als Plattenkäufer.“ 
„Ja“, lacht er, „ich bin mehr so der Undergroundtyp.“  
Johnston hat gelacht! Der Typ, der während einer Depression mal den Zündschlüssel eines Flugzeugs abzog und es zum Absturz brachte, hat gelacht! „Daniel, wäre es immer noch riskant, dein Beifahrer zu sein?“ 
„Yeah“, sagt er und scheint trocken zu grinsen, „man vertraut mir kein Flugzeug mehr an.“  
Ein paar seiner neuen Stücke sind beinah optimistisch, etwa „True love will find you in the End“, der schönste, schrägste Trostsong des Jahres. Wird am Ende doch noch alles gut? „Ich möchte jeden aufheitern, der das Album hört“, sagt der größte Songschmied der Welt mit dieser dünnen Schlingerstimme, die eiern kann wie keine andere. „Jedenfalls ist mir das lieber als jeden zu deprimieren.“ 
Beim Hören seiner Songs passiert beides, aber das müssen wir ihm ja nicht sagen. Denn es geht ihm gerade danke gut.

PS: Das Foto entstand in der Hamburger Fabrik im April 2010. Dass es ein bisschen verwackelt ist, passt eigentlich ganz gut zu diesem Typen.


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04 Dezember 2018

Zappa und sein Struwwelpeter

Wie – ich habe noch nie erwähnt, dass ich mal Frank Zappa kennengelernt habe? Seit 1992 nerve ich meinen Bekannten- und Freundeskreis mit dieser Geschichte, und ausgerechnet mein erheblich vielköpfigeres Blogpublikum ließ ich bisher in Unwissenheit darben …? 

Jetzt, 25 Jahre nach Zappas Tod, soll dieser skandalöse Zustand sein wohlverdientes Ende finden. Denn, meine Damen und Herren, ich habe mal Frank Zappa kennengelernt! Den Meister aller Klassen! 

Er hatte sich – obzwar bereits schwer krank – entschlossen, mit dem Frankfurter Ensemble Modern seine Komposition „The yellow shark“ aufzuführen. Jetzt weilte er in Hessen und bat in einer Probepause zum Interview. Mit meinem Kollegen Carsten Beckmann, heute wie damals in Marburg bei der Oberhessischen Presse tätig und des flüssigen Englisch erheblich mächtiger als ich, tuckerte ich an den Main, wo wir in einem Hotelzimmer auf den fatalistisch vor sich hinrauchenden Genius trafen.

Zappa trug Jogginghosen und einen grau durchwirkten Zopf, sein Händedruck war schlaff. Und während Carsten ihn interviewte, schnürte ich durch die Szenerie und machte Fotos. Am Ende zückte Carsten ein leeres Notenblatt und bat um eine Spontankomposition. 

Zappa war nicht im mindesten irritiert. Er nahm den Stift, setzte an, überkritzelte den ersten Versuch und fetzte dann eine Preziose von etwa zwei Sekunden Länge hin. Er nannte sie „Struwwelpeter“. 

Woher bloß kennt ein Typ aus Baltimore, Maryland, der damals im Los Angeles lebte, diese wahrscheinlich deutscheste aller Figuren? Egal: Seither hängt die Kopie dieses Kleinods (das Original hat Carsten) an der Wand jeder Wohnung, die wir je bezogen haben, und so wird es bleiben, auf jetzt und immerdar. 

Hier das (an die aktuelle Rechtschreibung angepasste und in manch Zappa-Passage noch immer erstaunlich jung gebliebene) Interview, erschienen 1992 in kulturnews.


„Nimm ne Knarre mit!“


Der berühmte Bart, von dem ein Karikaturist einmal sagte, er sei neben den Ohren von Micky Maus die prägnanteste Popikone des Jahrhunderts, ist noch dran. Trotz grauer Strähnen, trotz wilder Gerüchte über die Schwere seiner Erkrankung wirkt Frank Zappa, 51, zehn Jahre jünger, als er ist. Die wuchernde Mähne zum Zopf gebunden und gemütlich an der Zigarette nuckelnd, empfängt er uns mit freundlichem Lächeln. Und binnen kurzem sind wir mitten in einem (zappaesken) Gespräch, das alles andere ist als bloßes Frage- und Antwortspiel: Es geht um Kultur und Politik, um den Mythos des freien Marktes und die Beschränktheit amerikanischer Politiker. Um seine Heimatstadt Los Angeles, Rockmusik, Vaclav Havel, TV-Shows, McDonalds – und natürlich um sein Werk „The Yellow Shark“, das er mit dem Frankfurter Ensemble Modern einstudiert hat. Gegen Ende möchte er aus dem Fenster springen, komponiert stattdessen aber aus dem Stegreif ein kleines Stück für uns. Titel: „Struwwelpeter“.

kulturnews: Frank, ich fürchte, nach all den Interviews wird’s jetzt ein paar Wiederholungen geben...
Zappa: Die gibt’s im Universum auch. Schau dir das an (zeigt auf eine Glasschale mit Würfelzucker). Alles Wiederholungen, Reproduktionen. Und doch mit Funktion.
kulturnews: Klappt es nach all den „orchestralen Dummheiten“, die du in deiner Autobiografie beschrieben hast, mit dem Ensemble Modern besser?
Zappa: Absolut. Zum einen ist das Ensemble Modern kein Orchester, das ist der erste wichtige Schritt. Der nächste Schritt ist: Wir schlagen uns hier nicht mit staatlichen Fördermitteln herum. Eine Sache, die in der Vergangenheit – insbesondere in Wien – immer wieder für Probleme gesorgt hat.
kulturnews: Generell würdest du also sagen, private Sponsoren sind verlässlicher als staatliche Geldgeber?
Zappa: Das Problem mit dem Staat ist: Regierungen wechseln. Je länger es dauert, bis ein Kulturprojekt realisierbar ist, um so größer ist die Gefahr, dass der Beamte, der dein Projekt gutgeheißen hat, längst nicht mehr im Amt ist, wenn die Sache losgehen soll. So kommt es dann zu Problemen.
kulturnews: Abgesehen von der besseren Finanzierung: Was ist besser oder anders an der Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern?
Zappa: Nun, das Interesse der Musiker ist viel höher, als man das normalerweise bei einem Orchester antreffen würde. Arbeitest du mit einem 100-köpfigen Orchester, dann schauen die meisten ständig nur auf die Uhr – hier macht das keiner.
kulturnews: In der Zusammenarbeit mit Musikern glaubst du nicht gerade an demokratische Beziehungen zwischen Komponist, Dirigent und Gruppe …
Zappa: Ich glaube nicht, dass das ein guter Weg ist, gute Musik zu machen. Wenn du über jede Phrase, über jeden Rhythmus, über jede Intonation eine demokratische Entscheidung fällen müsstest, würdest du nie zu Ergebnissen gelangen. Es gibt einfach die autoritäre Situation zwischen Musikern und Dirigent, der ihnen sagt, wann und wie laut sie zu spielen haben. Das ist sein Job, er ist der Boss. Wenn die Musiker kompetente „Mechaniker“ sind, dann helfen sie, etwas aufzubauen, was du mit der Konstruktion eines Wolkenkratzers vergleichen kannst. Na ja, und wenn die Komposition  schlecht ist, kommt anstelle des Wolkenkratzers eben ein McDonalds-Imbiss dabei raus. Ich finde es immer wieder ironisch, dass mir die Frage nach Autorität und Demokratie so oft gestellt wird in einem Land, wo es Dinge wie den Tusch gibt: Tataa, Tataa, Tataa, lachen Sie jetzt!
kulturnews: Na, das gibt’s bei dir in Amerika doch auch zur Genüge, etwa in Fernsehshows.
Zappa: Sicher, das und viel schlimmere Dinge. Doch zurück zur Musik: Zu einer bestimmten Zeit, an einer bestimmten Stelle muss jemand da sein, der sagt: „OK, jetzt fangen wir an“ oder „OK, jetzt hören wir auf“. Das heißt noch lange nicht, dass der Dirigent das Leben seiner Musiker bestimmt. Ein bisschen Organisation muss schon sein, ansonsten hat es gar keinen Zweck zu versuchen, ein Stück Musik zu „bauen“.
kulturnews: Hier zumindest ist die Zusammenarbeit mit Dirigent und Ensemble wohl ideal?
Zappa: Ja, wir haben hier absolut keine Probleme, uns selbst über die absurdesten Ideen zu verständigen.
kulturnews: Na, du wusstest nach den Proben in Los Angeles im vergangenen Jahr ja ohnehin ziemlich genau, worauf du dich hier einlässt. Das bringt mich zurück zu deinem Stück, zu „The Yellow Shark“. Darüber wissen wir sehr wenig. Gibt es da eine Thematik, eine Geschichte, eine generelle Idee?
Zappa: Es wird ein Abend des Entertainments. Wir hätten die ganze Sache genausogut „Die purpurne Gurke“ nennen können, aber jetzt heißt es nun mal „Der gelbe Hai“, was wir Andreas Mölich-Zebhauser zu verdanken haben, dem Geschäftsführer des Ensemble Modern. Es wird eine Abfolge von Stücken, die zumeist Programmmusik sind. Daraus ergibt sich eine Art visuelle Idee, die von diesen Stücken heraufbeschworen wird. Stilistisch sind sie sehr unterschiedlich, trotzdem ist keine Varieté-Show zu erwarten.
kulturnews: Unterschiedliche Elemente – also Zusammenspiel von Musik, Tanz, visuellen Effekten?
Zappa: Na ja, es wird wohl nicht eine dieser großen Multimediashows werden, aber sicher, es wird getanzt, und es gibt auch eine Textebene.


kulturnews: Über Kultursponsoring haben wir bereits kurz gesprochen. Glaubst du, dass auch die unabhängige, ungeförderte Kunst eine Zukunft hat, oder wird das Kultursponsoring immer wichtiger?
Zappa: Ich sehe da eine Sache, die überall auf der Welt passiert: Mehr und mehr beginnen die Leute zu verstehen, dass es mehr Mythos als Tatsache ist, wenn behauptet wird, der freie Markt könne alle Probleme lösen. Das gilt insbesondere für die Kultur. Wenn die Kräfte des Marktes darüber zu entscheiden hätten, welche Art von Kunst überlebt, würden wir im Moment alle kulturell bei McDonalds essen. Um experimentelle Kunst zu betreiben, führt kein Weg am Sponsoring vorbei.
kulturnews: Würdest du sagen, dass Amerika in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle einnimmt?
Zappa: Ich würde sagen, das Land mit der größten Tradition für Kultursponsoring ist Deutschland. Ich kann da völlig falsch liegen, aber was ich bisher so gesehen habe, ist: mehr Unterstützung als in irgendeinem anderen Land.
kulturnews: … während wir hier den Eindruck nicht loswerden, dass da noch eine ganze Menge zu tun ist. Außerdem betrachten viele deutsche Künstler die Vernunftehe mit privaten Sponsoren nicht ohne Argwohn.
Zappa: Jeder Künstler, der private Geldgeber kritisiert, ist herzlich eingeladen, in die USA zu kommen. Da gibt es nämlich überhaupt keine Geldgeber. Konsequenterweise muss der amerikanische Künstler, wenn er weiter von seiner Kunst leben will, die banalsten Sachen tun, wenn er nur eine Ausstellung finanzieren will. Du kannst bestimmte Dinge nicht malen, weil du sie nicht zeigen kannst, kannst bestimmte Dinge nicht sagen, weil das keiner hören will, kannst bestimmte Musik nicht spielen, weil kein Etat für Probenarbeit da ist.
kulturnews: Wo wir schon bei banalen Dingen sind: Wird es weitere Rockalben von Frank Zappa geben? Womit ich dich keinesfalls beleidigen will, denn ich denke, keines deiner Alben ist wirklich banal.
Zappa: Ach, hör mal, da musst du schon ganz andere Dinge anstellen, um mich zu beleidigen. Aber im Ernst: Ich habe nicht vor, noch Rock’n’Roll zu spielen.
kulturnews: Ist das definitiv?
Zappa: Ich bin zu alt. Wenn ich an mein Alter denke und die Tatsache, dass ich 1988 400.000 Dollar verloren habe, die ich in die Tour steckte mit der vielleicht besten Band, die ich je zusammengestellt habe – das gibt mir nicht gerade viel Ansporn, in diesem Bereich noch aktiv zu werden.
kulturnews: Was hältst du von Musikern, die in der gleichen Zeit kein Geld verloren, sondern zehnmal so viel verdient haben und sich jetzt mit symphonischen Dingen beschäftigen wie Paul Mc Cartney und Sting?
Zappa: Ich habe mal in die McCartney-Musik reingehört, und es ist nicht gerade meine Art von Musik, um ehrlich zu sein. Und dann ist da ein großer Unterschied: Er hat jemand anders dafür bezahlt, die Musik zu schreiben.
kulturnews: Ein Ghostwriter, obwohl Mc Cartney in Anspruch nimmt, es sei seine Musik … ?
Zappa: Wie auch immer: Ich weiß, dass meine Sachen von mir sind, dass ich auch physisch daran gearbeitet habe.
kulturnews: Lass uns über Politik reden, falls dir das am frühen Morgen nichts ausmacht. Ich habe gehört, du bist ein guter Freund von Vaclav Havel.
Zappa: Na ja, guter Freund würde ich nicht gerade sagen, aber ich habe ihn getroffen und respektiere ihn sehr. Ich denke, die Entwicklung in der CSFR ist sehr unglücklich, es war ein Fehler, das Land zu zersplittern. Ich glaube auch, es war ein Fehler, schnelle Wirtschaftsreformen nach polnischem Muster durchzuführen. Ich glaube auch, die Tschechen und Slowaken haben ein ganz anderes Temperament als die Menschen in Polen. Zur Zeit des Umbruchs ging es der Wirtschaft der CSFR wesentlich besser als der in Polen; trotzdem waren die Leute in der Tschechoslowakei natürlich nicht glücklich darüber, den Gürtel enger schnallen zu müssen. Aber in Polen war die Lage so desolat, dass es gar nicht mehr schlimmer ging, während in der CSFR noch das eine oder andere funktionierte. Dann kam plötzlich der Zusammenbruch, und da sagen die Menschen natürlich: Warum haben wir das eigentlich gemacht, warum wählen wir diesen oder jenen wirtschaftspolitischen Kurs?
kulturnews: Siehst du die Entwicklung in der CSFR im Zusammenhang mit nationalistischen Tendenzen in anderen Staaten, etwa Jugoslawien?
Zappa: Klar, das passiert überall. Einer der Gründe für diese fürchterliche Entwicklung ist … na, nehmen wir einfach das Beispiel Amerika. Wenn du dir Amerika anschaust und dir anhörst, was die Menschen dort von ihrer Regierung halten, dann merkst du, dass es da überhaupt kein Vertrauen in die Bundesregierung oder in irgendeine andere Regierung mehr gibt. Die Amerikaner, die selbst eine politische Karriere eingeschlagen haben, sind von einem derart kleinen Kaliber – allesamt gemeine, banale, schreckliche kleine Leute. Politik hat eine große Anziehungskraft auf die schlimmsten Elemente innerhalb der US-Gesellschaft. Sie werden Politiker, und dann kannst du sie dir im Fernsehen ansehen, Tag für Tag live aus dem Kongress auf zwei Fernsehkanälen. Du siehst, wie sie ihrer „Arbeit“ nachgehen, wie sie ihre Reden halten, stellst fest, dass sie nicht einen Satz in vernünftigem Englisch sprechen können – und das sind deine gewählten Volksvertreter …
kulturnews: Siehst du dir diese Sendungen an?
Zappa: Na klar.
kulturnews: Heute hast du die Chance, das deutsche Parlament im Fernsehen zu sehen, da geht’s um den Marineeinsatz in der Adria.
Zappa: Weißt du, in den USA geht das 24 Stunden am Tag so. Wenn der Senat tagt, zeigen sie den Senat live. Tagt der Kongress, strahlt das der andere Sender live aus. Dazwischen wird von Ausschusssitzungen berichtet, und so geht das Stunde für Stunde. Und dann schaltest du auf die „normalen“ Nachrichten um und siehst den Präsidenten auf einem dieser idiotischen Fototermine, wo er nie wirklich etwas zu sagen hat. Nur Flaggen, Fotos und Leute, die „Hurra“ schreien – das ist alles falsch, alles Shit. An diese Art von Politik kann ja keiner glauben. Du sitzt fest, möchtest an das glauben, was du nun mal gewählt hast, aber sie geben dir zwei wirklich schlechte Alternativen.
kulturnews: Du hast das auf der Pressekonferenz die Wahl zwischen Tweedledee und Tweedledum genannt …
Zappa: Ja, und es ist immer so, nicht nur in diesem Wahlkampf. Nimm Bush und Dukakis, da ging es auch um Tweedledum und Tweedledee. Es geht immer darum. Nie ist jemand da, bei dem die Leute das Gefühl haben: Ja, der könnte etwas für uns bewegen.
kulturnews: Du hattest selbst mal Pläne, in die Politik einzusteigen.
Zappa. Ja, ich habe darüber nachgedacht, aber dann kam mir meine Krankheit dazwischen.
kulturnews: Glaubst du, dass Künstler politisch aktiv sein sollten und möglicherweise bessere Politik machen als „professionelle“ Politiker?
Zappa: Als ich Vaclav Havel zum ersten Mal traf, sagte er mir: Unsere Revolution wurde von Künstlern gemacht, und wir müssen bessere Politik machen als die Politiker. Unglücklicherweise hat das nicht geklappt.
kulturnews: Reagan war doch wohl auch so etwas wie ein Künstler.
Zappa: Ein Künstler??
kulturnews: Immerhin zählte er als bezahlter Schauspieler zum Kreis der Künstler.
Zappa: Ein lausiger Schauspieler ist kein Künstler. Wenn ich das höre, könnte ich gerade hier aus dem Fenster springen!
kulturnews: Wir sitzen im Erdgeschoss.
Zappa: Ich will mich ja auch nicht verletzen, nur so als Demonstration.
kulturnews: Du wirst ständig nach deinem Gesundheitszustand gefragt.
Zappa: Vor drei, vier Wochen war ich in der Klinik. Was mich selbst gewundert hat, war: Nach drei Tagen war ich wieder draußen, fühlte mich wesentlich besser und kam hierher. Klar, ich weiß nie, wie es mir am nächsten Tag gehen wird, aber im Moment sitze ich hier, mache Witze und so weiter …
kulturnews: Aber du hast zur Zeit keine konkreten Pläne für die Zukunft?
Zappa: Nein. Da gab es einige Leute, die mich fragten, ob ich für diese oder jene Idee zu haben sei, aber momentan läuft nichts, was ich hier diskutieren könnte.
kulturnews: Du wohnst in Los Angeles …
Zappa: Ja, ja, die Stadt mit den vielen Bränden, dem Rauch und den Unruhen.
kulturnews: Wird das weitergehen?
Zappa: Ja. Klar.
kulturnews: Lohnt es sich denn, länger als einen Tag in Los Angeles zu verbringen?
Zappa: Natürlich. Es ist so bizarr, überhaupt nicht mit dem Rest der USA zu vergleichen. Wenn du clever bist und willst die Kultur eines dir total unbekannten Ortes verstehen, musst du dahinfahren. Videos machen dich nicht schlau, Fotos nicht und auch keine Interviews. Fahr hin und bleib eine Weile da. Aber nimm ne Knarre mit.

Fotos: Matt Wagner

PS: Sollte ich diese Struwwelpetergeschichte hier doch schon einmal veröffentlicht haben, so teeren und federn Sie mich gerne – solange Sie mich auch mit dem Quellenverweis versorgen.




15 August 2017

The walking dead

John Lennon hielt einst die Beatles für größer als Jesus. Allerdings hatte er einen übersehen: den größten Star aller Zeiten. Vor 40 Jahren starb Elvis Presley. Doch er könnte kaum präsenter sein.


Da steht er, im weißen Glitzer der späten Jahre. Der Kragen ist riesig, scheint zu wachsen und bald zu einem großen wehenden Weiß zu werden, das ihn umfließen wird wie Supermans Cape oder wie die Flügel für die Himmelfahrt. Eine Elvis-Fantasie. 

Viele begegnen ihm auch real. Immer wieder Sichtungen – in einem McDonald’s in Oklahoma, einer Bar in Tel Aviv (die er selbst betreibt), auf einem Kneipenklo in Nürnberg, als Tramper am Berliner Ring. 

Jeden Tag sieht ihn irgendwer irgendwo. Er sieht gut aus für einen, der seit 40 Jahren tot ist, und meist hat er einen Sinnspruch parat und ein trauriges Lächeln, ehe er verschwindet wie ein Windhauch.

Elvis Presley, ein Lastwagenfahrer aus East Tupelo in Mississippi, ist der einzige globale Geist, den Amerika je hervorgebracht hat. 

Er ist immer noch derart übergroß, dass man glauben könnte, er habe nie existiert, sondern sei eine Kunstfigur, ein früher Avatar. Es ist, als habe sich die Verehrung der Massen, die Analyselust der Kulturwissenschaftler und die Bedeutung, die Elvis gewann für jeden Aspekt des kulturellen Amerika und der Popkultur schlechthin, als habe sich all das zu einer großen festen Masse verdichtet, die ihn einerseits hinaufhob wie ein Gebirge, das sich auftürmt durch die Gewalt der kollidierenden Erdplatten, und ihn andererseits auf dem Gipfel einschloss in einen Kokon, der am Ende immer mehr einer Gummizelle ähnelte.

Presleys Bedeutung liegt nicht nur an seinem Erfolg, essenziell ist auch sein Untergang. Elvis’ Leben und Sterben – es steht für Größe und Tragik, für die seither zum Klischee geronnene Erkenntnis, dass es verdammt einsam ist dort oben, es steht fürs Umschwirrtsein von geldgeilem Geschmeiß, für vollkommenes Verlorensein inmitten grenzenloser Umsorgtheit.

Die ganze Dimension des Pop steckt in diesem Leben und Sterben, und es war von geradezu lächerlicher Logik, als Michael Jackson, entrückter Herrscher von Neverland, Lisa Marie Presley heiratete, die Tochter des Kings von Graceland. Ein Fest für Freudianer.

Elvis Aaron Presley, dieser Fernfahrer aus East Tupelo, war bei den Sun Studios vorbeigefahren, um schnell eine private Single für seine Mutter zu besingen. Und danach musste er den Himmel durchschreiten und die Hölle hintendrein, und wer kann schon sagen, ob das eine schwerer war als das andere.

Jedenfalls musste er da durch, ganz allein und als Erster überhaupt – für uns alle, für das ganze 20. Jahrhundert. Seine Mission ging tödlich aus und verschaffte ihm und uns doch etwas schrecklich Kostbares: die säkulare Version des ewigen Lebens.

Gestern hat ihn wieder jemand gesehen, in einem Schuhladen in Hull. Es war mittags, Elvis fragte nach blauen Wildlederschuhen. Dann lächelte er ein trauriges Lächeln und verschwand wie ein Windhauch.


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18 Januar 2016

Mein erstes und letztes Interview mit Gunter Gabriel

Damals, 2009, traf ich Gunter Gabriel, weil er eine wirklich respektable Platte am Start hatte. So richtig durch die Decke ging seine Karriere danach trotzdem nicht; deshalb sitzt er jetzt gerade im Dschungelcamp.

Das finde ich Anlass genug, um der Welt mein schonungslos liebevolles kulturnews-Porträt des damals, 2009, noch nicht ganz so schabrackigen Altcountrybarden erneut ins Gedächtnis zu rufen. 

Nach dem Interview versprach er übrigens, mir Platten seines – nach Johnny Cash – zweitliebsten Songwriters Shel Silverstein zuzuschicken. 

Raten Sie mal, worauf ich heute noch warte.





Der Mea-culpa-Mann

Je tiefer man fällt, desto höher kann man auch wieder steigen. Lebender Beweis: Gunter Gabriel.
 

Er steht da mit 67 wie ein Kerl, ein ganzer Mann. Aus zwei Metern Höhe schaut Gunter Gabriel herab, sein imposanter Ranzen wölbt sich auf Altherrenart unterm Oberhemd, und beim Gespräch legt er manchmal den Kopf schief, faltet die Stirn und schaut verwegen. Allerdings nur, weil er schon mal besser gehört hat. Aber haben wir das nicht alle?

Gunter Gabriel ist hier, weil er wieder zurück ist. Und er hat eine Botschaft. Sie lautet: Ich bin schuld, und zwar an allem.  Seine größte Zeit hatte er während der Ölkrise der frühen 70er. Jetzt steckt die Wirtschaft noch tiefer im Sumpf, und prompt ist Gabriel wieder da – als Mea-culpa-Mann.

Er sagt, wie scheiße er war, doch er bittet nicht mal um Verzeihung. Sein derbes, mächtiges Mea culpa hat er in eine Autobiografie gepackt und in eine Platte. Die Platte ist die beste seiner fast 35-jährigen Karriere. Weil sie endlich mal so cool und abgehangen klingt, dass man sie vorzeigen kann. Weil jeder Song, auch ein Cover wie Radioheads „Creep“ (das kongenial zu „Ich bin ein Nichts“ wird), die gebrochene Größe des Gunter G. widerspiegelt.

Wer beim Hören der erdigen Produktion „Plagiat!“ ruft, weil sie schwer ans Konzept des späten Johnny Cash erinnert, der ruft ins Leere, denn auch das gibt der gute Gunter vorauseilend zu: Sein Album hat nämlich den Untertitel „German Recordings“, ein Pendant zu Cashs „American Recordings“. Ist das die Strategie: einfach alles zugeben, damit einem keiner mehr was anhängen kann?

Gabriel legt den Kopf schief, faltet die Stirn und schaut verwegen. „Das ist hundertprozentig richtig“, sagt er. „Ich habe mich geöffnet und gesagt: Jawoll, ich bin pleite, jawoll, ich habe meiner Frau was auf die Fresse gehauen. Ich sag das jedem: Kotz dich aus! Bevor dich die Kotze erstickt.“

Gabriel redet wie einer, dem keiner mehr was kann, weil er längst gerafft hat, dass er selbst sein größter Feind war. Er hat seine Millionen aus Hits wie „Er ist ein Kerl“ in windigen Bauherrenmodellen versenkt, und er hat zu Hause derart rumgenervt, dass ihm die Ehefrauen reihenweise wegliefen, vier insgesamt. Jetzt lebt er auf einem Hausboot im Hamburger Hafen und versucht, die positiven Gefühle nachzuleben, die er einst unterm Schutt aus Eifersucht, Suff und Egomanie begrub.

Gunter Gabriel war mal sehr peinlich, doch er gewinnt gerade die knorrige Größe des Gescheiterten, der zu zäh war, um ganz unterzugehen. „Mir geht’s heute zehnmal besser als damals“, brummt der Exmillionär so tieffrequent, dass der Rekorder vibriert. „Ich bin reich, auf meine Art. Ich lege mich noch immer gerne voller Lust zwischen die Schenkel einer Frau und kann das genießen und sagen: Ist das nicht toll, dass wir uns riechen und spüren? Das ist doch ein Geschenk, das du als alter Sack noch genießen kannst!“

Der alte Sack wird sein Comeback hinkriegen. Mit dieser Platte, diesem Buch, dieser Haltung: Das klappt. „Ich habe“, brummt er gelassen, doch ohne Stolz, „in jeden Scheißhaufen reingetreten, der sich mir bot, ja.“

Zum Glück.



Foto: Matt Wagner