26 Mai 2023

Wir haben uns vergiftet

Als ich in Planten un Blomen gerade Bärlauch in der Blüte seines Lebens pflücke, stoppt neben mir ein Fahrzeug der Parkverwaltung. Zwei Frauen in Arbeitsklamotten sitzen darin, und ich befürchte das Schlimmste: dass sie mir die Ernte untersagen. Für uns ist die Bärlauchsaison nämlich quasi die fünfte Jahreszeit, eine paradiesische Phase zwischen Frühling und Sommer, in der wir uns mehrfach die Woche dem Genuss des – wie der Österreicher sagt – Latschenknofels widmen, meist in Form eines Salats. Soll das nun alles vorbei sein? Weil mich die Gärtnerinnen erwischt haben? Die Fahrerin beugt sich aus dem Fenster. „Sie wissen schon, dass Bärlauch giftig ist, wenn er blüht?“

Ich glaube mich verhört zu haben. Seit vielen Jahren ernten wir das köstliche Wildgemüse und sehen seiner Blühphase stets besonders vorfreudig entgegen. Zwar bedeutet sie einerseits das baldige Ende der fünften Jahreszeit, andererseits sind gerade die Bärlauchblüten von besonderer Schmackhaftigkeit. Noch intensiver als die inzwischen gar zu großen Blätter konzentriert sich in ihnen das knoblauchähnliche Aroma, und zudem trägt ihre weiße Pracht beträchtlich zur ästhetischen Veredelung von Ms. Columbos Salatkompositionen bei. Kurz: Wir lieben Bärlauchblütentage!

Das Wort Gift nun in einem nahtlos vorgetragenen Satz gemeinsam mit dem Wort Bärlauch zu vernehmen: Das irritiert mich. Und ich kann auch eine gewisse Verunsicherung nicht leugnen, denn wen habe ich hier vor mir? Eine hauptberufliche Gärtnerin! Gleichwohl lebe ich noch, was mich zur Gegenrede ermuntert. „Wie bitte?“, leite ich nach dem ersten Schreck (und der Erleichterung, dass sie mir anscheinend die Ernte nicht grundsätzlich untersagen möchte) meinen Einwand ein: „Wir verzehren Bärlauch seit Jahren, auch die Blüten, und vertragen alles bestens.“

„Ich sag’s ja nur“, rechtfertigt sich die Frau und lächelt bedauernd. Wenn ich also nachher tot umfalle, das soll mir wohl ihr gelächeltes „Ich sag’s ja nur“ mitteilen, dann ist keinesfalls sie schuld. Denn sie hat’s ja nur gesagt. Und sie ist die Expertin. Wobei ich an dieser Stelle betonen muss, ein glühender Anhänger des Expertentums zu sein. Während der Pandemie habe ich auf Virologen vertraut und nicht auf die YouTube-Universität, und bei Stromproblemen rufe ich den Elektriker, nicht den Klempner. Ja, ich mag Fachkräfte, und diese Frau hier betreut einen öffentlichen Park, sie wird doch wohl wissen, wovon sie spricht, nicht wahr.

Andererseits: Ich lebe noch.

Nach ihrem „Ich sag’s ja nur“ ist die Sache für die Gärtnerin erledigt. Sie und ihre Kollegin, die stumm geblieben ist, fahren weiter und überlassen mich meinem Schicksal – also Tod und Verderben. Zu Hause wird natürlich sofort gegoogelt. Eine fachlich kompetent wirkende Infoseite bestätigt mich vollumfänglich und blamiert die Gärtnerin: Viele Menschen glaubten, heißt es dort, dass Bärlauch zur Giftpflanze mutiere, sobald er blüht. „Doch das stimmt nicht.“

Das und die hervorragende Verträglichkeit des Bärlauchgiftes beweisen gerichtsfest: Was die Gärtnerin mir erzählt hat, ist Quatsch. Florales Querdenkertum. Mein unerschütterlicher Lobpreis des Expertentums, von dem mein Freundeskreis augenrollend Zeugnis ablegen kann, wirkt plötzlich schal. Ich meine: Diese Frau verdient ihr täglich Brot mit der Botanik, gleichwohl trötet sie Humbug über ein unschuldiges Wildgemüse in die Welt hinaus? Das ist ja ungefähr so, als glaubte ein Astronom an Astrologie. Oder ein Chemiker an Homöopathie.

Natürlich haben wir trotz alledem und gerade deshalb auch diese Portion Bärlauchblätter und -blüten zu einem köstlichen Salat verarbeitet – und ihn mühelos überlebt. Morgen geh ich wieder hin, vielleicht zum letzten Mal in dieser Saison. Denn die fünfte Jahreszeit ist schon fast wieder vorbei, es ist ein Jammer.