27 Oktober 2020

Mein erstes & letztes Interview mit Tony Joe White

Vor zwei Jahren, am 24.10.2018, starb der unvergleichliche Songwriter, Gitarrist und Soulgrummler Tony Joe White, wegen dem ich sogar extra mal nach Amsterdam gefahren bin. Damals, als die Nachricht seines Todes mich erreichte, hatte ich vor lauter Bestürzung die Gelegenheit versäumt, ihm unser kurzes Interview von 2014 nachzurufen. Deshalb folgt es jetzt, zum zweiten Todestag.


mw: Mr. White, Ihr aktuelles Album „Hoodoo“ klingt wieder nach Ihren Anfängen Ende der 60er. Was macht diesen dunklen, erdigen Sound in Ihren Augen so zeitlos, dass Sie ihn im 21. Jahrhundert wieder aufwärmen?
Tony Joe White: Ich denke nie darüber nach, ob ich nach einer bestimmten Ära klinge, sondern versuche einfach so soulig wie mögich zu singen und zu spielen.

mw: Ihnen scheinen Atmosphäre, Langsamkeit, Intensität am wichtigsten zu sein. Hat das vor allem klimatische Gründe? Sie sind ja in den Südstaaten aufgewachsen …
White: Ja, auf einer Baumwollfarm in Louisiana. Die Zeit vergeht dort wirklich langsamer. Ich habe auch nie das Bedürfnis gehabt, etwas zu beschleunigen. Und das schlägt sich wahrscheinlich nieder in meinem Sprechen, Singen und Gitarrespielen. Das ist für mich alles dasselbe.

mw: Elvis hat ihr Lied „Polk Salad Annie“ gecovert. Was ist das für ein Gefühl, wenn ein Stück vor den Augen des King Gnade findet?
White: Na, ein großartiges! Ich hatte in den Clubs oft Elvis gecovert, bevor ich selbst anfing zu schreiben. Es war sehr cool, als er plötzlich einen meiner Songs aufnahm – und dann noch zwei weitere. Er war ein Held für mich, deshalb waren das sehr aufregende Zeiten.

mw: 1989 wahrscheinlich auch: Da packte Tina Turner gleich vier White-Songs auf ihr Studioalbum „Foreign Affairs“, das sie sogar nach einem davon benannte. Haben Sie manchmal damit gehadert, dass Künstler mithilfe Ihrer Songs zu Superstars wurden, während Sie bei Weitem nicht so bekannt sind?
White: Was für Elvis gilt, gilt auch für Tina Turner: Sie war meine Heldin. Dass sie vier Stücke von mir aufnahm, war grandios. Ich war damals auch mit ihr im Studio und habe Gitarre gespielt – da wurde ein Traum Wirklichkeit. Jedenfalls habe ich nie drüber nachgedacht, ob ich bekannt bin oder nicht. Nein, ich fand es immer wunderbar, wenn jemand meine Songs aufgenommen hat.


Foto: mw

23 Oktober 2020

16 Oktober 2020

Unter Corona (11): Prügeln nur noch mit Maske

In den vergangenen Wochen hatte man hier auf dem Kiez das Gefühl, als wäre nichts passiert und alles längst wieder beim Alten. 

Wenn ich Samstag früh auf dem Weg zum Bäcker wie üblich kurz vor neun auf dem Rad über den Hamburger Berg husche, tummelt sich dort längst wieder das kiezübliche Personal: in ihrer Kotze dahindämmernde Schnapsleichen, tätowierte Rumpöbler, rauchende Drallheiten mit Laufmaschen in den Strümpfen, obdachlose Krakeeler, einhertaumelnde Junkies mit verfilzten Haaren und imaginären Gesprächspartnern – und mittendrin in dieser postapokalyptischen Szenerie, gegen die das „Blade Runner“-Setting wie ein liebreizender Freizeitpark wirkt, versuchen mühsam sich am Riemen reißende Polizisten in Reflektorwesten irgendwie zu verhindern, dass alles endgültig aus dem Ruder läuft. 

Also alles so wie vor Corona. 

Nun aber muss dieses elende Ensemble der Gescheiterten – denn mal ehrlich: Wer verbringt schon die ganze verdammte Nacht ausgerechnet auf dem Hamburger Berg außer Leuten, die jede Restkontrolle über ihr Leben verloren haben? –, nun also muss dieses elende Ensemble der Gescheiterten plötzlich damit zurechtkommen, zwischen Freitagabend um 18 Uhr und Sonntag früh um vier seinen trübseligen Vergnügungen auch draußen (vgl. die Karte oben) nur noch maskiert nachgehen zu dürfen. Und auch der Spritnachschub, der dafür sorgen könnte, dass die Lage viertelwegs erträglicher würde, ist nicht unbedingt garantiert. 

Zu welchen Verwerfungen um Kalle Schwensens willen wird diese neue Verordnung führen, hier in der Postapokalypse auf dem Hamburger Berg? Nun, ich nehme an, bestenfalls dazu, dass die Testosterontrottel sich weiterhin die Nasen zerdeppern, aber dank der Masken nicht mehr sagen können, ob die Trümmer darunter zu einer Hackfresse gehören oder nicht. Das wäre, wie gesagt, die positive Variante.

An diesem Wochenende werde ich mir das mal en passant anschauen – und neue Erkenntnisse natürlich gern mit Ihnen teilen, Ehrensache.