Heute also die erste Folge einer Rubrik, die sich der Ästhetik- und Stilkritik widmen wird. Manchmal werden die Ausführungen länger sein, ein andermal verständlicherweise eher Sprachlosigkeit vorherrschen. Vielleicht sogar recht oft, das ist momentan noch nicht abzusehen.
Los geht es jedenfalls mit einem Motiv, das mir keine rechte Ruhe lässt, seit der verfluchten Minute, als es mir vors Auge trat.
Motivisch und auf jeden Fall auch handwerklich gehört das Albumcover der First International Sex Opera Band ohne jeden Zweifel zu den grauenhaftesten aller Zeiten. Ich meine: Hatte die Band etwa einen 13-jährigen Grafiker, dem kurz vorher vom Klassenlehrer nahegelegt wurde, den Kunstunterricht dauerhaft zu schwänzen, ohne Eintrag ins Klassenbuch? Meine Vermutung: ja.
Was die Formulierung „aller Zeiten“ angeht, bei der jetzt bei vielen von Ihnen der Drang erwacht, mich zu belehren, so rufe ich Ihnen hiermit selbstbewusst zu: Ich weiß genau, was ich da schreibe, denn ich habe eine Glaskugel, die mir auch alle künftigen Albumcover anzeigt, und zwar bis zu dem Moment, an dem die Sonne sich die Erde in einer (übrigens spektakulär anzuschauenden) Supernova einverleiben wird.
Was mich beim Nachgrübeln über die Semantik dieses Motivs aber besonders beschäftigt, ist nicht etwa die mimisch ausgedrückte Lust, welche angesichts dessen, was da gerade passiert, selbst dem verständnisvollsten Masochisten ein Stirnrunzeln aufzwänge, sondern die bohrende Frage: Warum springt die körpermittig entflammte Frau mit den lila Haaren, also vermutlich Anita, nicht einfach in den praktischerweise bereitstehenden Pool?
Und warum bloß gibt es diese Lücke im Geländer da hinten rechts?
Theoretische Erörterungen, Exegesen, Theorien erhoffe, nein: erwarte ich in den Kommentaren. Lassen Sie mich bitte nicht allein mit all dem.
Ohne Anita, Lücke und den Himmel würde es fast wie ein Edward Hopper aussehen, finden Sie nicht?
AntwortenLöschenFast, ja.
LöschenUnd ich Naivchen suche das Ding auf YouTube raus und klicke auf play und denke dabei nicht mehr dran, dass ich gestern, in einem Moment, in dem mir die Nachbarn wieder einmal akustisch über den Kopf gewachsen waren, Lemmy mit "I aint't no nice guy" in sozusagen tröstlicher Laustärke abgespielt hatte und bis ich in meinem Schreck leiser machen konnte, waren Haus und Innenhof bereits ausgiebig mit diesem Zeug beschallt. Mein Gott, ich schäme mich so! Das Cover ist in all seiner ... Pracht? ... leider keine ausreichende Warnung für die ... Musik? ... die es illustriert.
AntwortenLöschenUnd ich Rücksichtsvoller hatte aus genau diesem Grund die Musik mit KEINEM Wort erwähnt. Tja.
LöschenHm, also meine erste Assozaition war "Herr Doktor, ich hab da so ein Brennen im Schritt." ... insofern bin ich ganz froh, dass der Künstler hier keine fotorealistische Darstellung gewählt hat.
AntwortenLöschenUnd ein Sprung in den Pool würde da auch nicht helfen, zumal der für die rechtsseitig unterschenkelamputierte Anita auch nicht so ganz einfach zu bewerkstelligen sein dürfte, vermutlich ist der Boden glitschig.
Aber ich war schon in der Schule bei Bildinterpretation immer schlecht.
Ich muss den Künstler in Schutz nehmen, zumindest in einer Hinsicht: Die heimgesuchte Dame sitzt wohl auf ihrem Unterschenkel. Bequem ist zwar was anderes, gerade in dieser Situation, aber na ja.
LöschenDie Idee des Covers ist doch von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geklaut:
AntwortenLöschenhttp://www.aerztezeitung.de/docs/2016/05/06/kampagne-AH.jpg
Ich würde eher sagen: Beide Motive ergänzen sich aufs Vortrefflichste. Und wenn einer beim anderen geklaut hätte, dann andersrum: Das Album ist ja schon 47 Jahre alt.
LöschenAus meiner Sicht würde sie gern in den Pool, aber schafft es nicht. Gefangen in der Flamme des Teufels.
AntwortenLöschenKlänge plausibel – wäre da nicht dieser lustverzückte Gesichtsausdruck. Wie passt der in Ihre Theorie?
LöschenBesessenheit?
LöschenIch vermute, dass sich der lustvolle Ausruck der abgebildeten Dame aus einer spontanen Gasentladung ihres intestinums speist. Daher auch eine der Realität nun fast schon nahen Illustration der Flamme: Diese Gase können leicht entflammbar sein. Der nicht abgebildete linke Arm der Dame wäre demnach etwa in Höhe ihres Afters zu vermuten; ausgestattet mit einem Objekt zur Erzeugung eines Funkens oder einer Flamme.
AntwortenLöschenDie Lücke im Zaun ist vielleicht dann ein Symbolbild für die Befreiung von körperlichen Drängen: Eine Möglichkeit, aus der Umzäunung zu entkommen, ein Schlupfloch für den wilden Moment, in dem man sich ganz wollüstig dem Verlangen des intestinums unterordnet- instiktiv und ursprünglich.
Die Flamme ruft dem Betrachter dann vor Augen, was dort ungeheuerliches geschieht:
Frauen furzen auch.
Ihre Exegese klingt sehr stichhaltig, aber so genau wollte ich es eigentlich gar nicht wissen.
LöschenDie Lücke im Geländer ist ja nicht die einzige bauliche Absonderlichkeit. Zudem schwebt links das Flachdach über der Säule, anstatt auf ihr zu ruhen.
AntwortenLöschenDer Künstler (ich vermute eher: die Künstlerin) schafft so einen Kontrast in der Tradition von Dalí und Samonov: Nur angedeutetn Unwahrscheinlichkeiten mit mehreren hegelianischen Bedeutungsebenen einerseits reiben sich an dem überplakativ inszenierten Zentralmotiv des brennenden Schoßes andererseits und fordern so den Betrachter, aus seiner eingeübten visuell-ästhetischen Rezeption herauszutreten und diese durch eine assoziativ-komparativen Verarbeitung zu ersetzen. Ein herausforderndes Werk.
Sollte dieses Bild je im Museum landen, hätte ich gern Ihren Text auf der Erklärtafel!
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