Vor der Fabrik in der Barnerstraße, wo ich das Konzert der betagten Gitarrenband Wishbone Ash besuchen will, muss ich Schlange stehen im Frost. Habe zu dünne Schuhe an, die frische Kälte zieht zügig durch die Sohlen. Der erste Wintertag, und ich stehe trippelnd im Freien; tolles Timing.
Die Stimmung steigt weiter, als ein zugewachsener Stadtschrat mit Klingelbecher an der Schlange entlangschlurft und uns mit einem hämischen „Stellt euch nicht so an!“ kommt – der Spruch ist noch älter als sein verfilztes graugelbes Zottelgestrüpp, das er der Welt als Bart verkaufen will. Wir muffeln ihn alle an, er verdient keinen Cent.
Endlich bin ich drin in der Fabrik, und die Vorband legt los. Sie heißt Bliss und war vor 15 Jahren mal eine viertelgroße Nummer. Ich weiß nicht genau, ob es an meinen kalten Füßen liegt, aber die Sängerin mit ihrem Hört-mal-wie-ich-in-5-Sekunden-12-Oktaven-schaffe-Gekreische wirkt auf mein Nervenkostüm wie eine Kreissäge in der Ruhesauna.
Und plötzlich nervt mich alles. Wie die abgetakelten Althippies in ihre Bratwürste beißen und Soße aus den kleinen wulstigen Kuhlen ihrer Mundwinkel tropft. Wie ihre fahlen Resthaare todtraurig auf Jeansjackenschultern liegen. Wie all diese hässlichen Leute um mich herum jugendlich tun und Bier aus Plastikbechern in ihre wabbeligen Wohlstandsbäuche schütten.
Andy Powell von Wishbone Ash, einer der einflussreichsten Gitarristen der Rockgeschichte, spielt ein Solo, aber ich muss weg, sofort. Ich laufe die Friedensallee hoch. Neben Aldi fällt mir ein Automat auf (Foto), den ich dort noch nie gesehen habe. Der Trumm entpuppt sich als öffentlicher Eiswürfelautomat, pro Kilo ein Euro. Man kann Münzen einwerfen oder mit Karte zahlen.
Es ist der erste Wintertag, es friert, meine Füße fühlen sich an, als liefe ich barfuß über die Eisbahn in Planten un Blomen – und ich stolpere über einen öffentlichen Eiswürfelautomaten. Ich wusste nicht mal, dass es so etwas überhaupt gibt.
Außerdem habe ich ein Sirren im Ohr, das nicht mehr weggeht. Das war aber vor dem Konzert schon da, dafür will ich die Bliss-Sängerin nicht auch noch verantwortlich machen.
Ex cathedra: Die drei besten Songs von Wishbone Ash
1. „Errors of my ways"
2. „Sorrel"
3. „Surfing a slow wave"
Das Problem vieler Bands aus vergangenen Tagen ist, dass sie die gleiche Soße wie vor 30 Jahren spielen und insofern interessiert sich kein normaler Mensch für deren Mucke mehr, weil deren Zeit einfach abgelaufen ist. Das führt dann dazu, dass da halt auch ein Haufen Fossilien in den Konzerten rumlungert und verklärt "Früher war alles besser." denkt. Ein Lebensgefühl aus vergangenen Tagen lässt sich halt nicht so einfach in die Neuzeit transportieren. Genau so wenig, wie man ein Lebensgefühl in die Neuzeit transportieren kann, kann man Jugendlichkeit in die Neuzeit transportieren.
AntwortenLöschenNoch schlimmer finde ich, wenn gute Musiker ihr Revival feiern, den Versuch wagen, was Neues zu spielen und dann die Konzertbesucher anschließend in die Mikrofone der Journalisten jammern, dass der oder die doch bitte mehr alte Songs hätte spielen sollen. Weil ja früher eh alles besser war. Da kriege ich jedes Mal Pickel in meinen Gehörgängen. Na ja, zum Glück gibt es auch gute Musiker aus vergangen Tagen, die sich entwickelt haben und auch weiter entwickeln und seit 30 Jahren gute Musik machen und auch noch in 20 Jahren, sofern sie dann noch leben, gute Musik machen werden. Ich will übrigens auf Konzerten etwas hören, was ich auf CD nicht hören kann. Und da interessieren mich die abgenudelten Evergreens gar nicht wirklich.
Eine gewisse Nostalgie ist ja gar nicht schädlich. Ansonsten müßte man ja alle paar Monate seinen iPod (oder eben den Wurlitzer) mit den aktuellen Titeln befüllen.
AntwortenLöschenSicher - früher war nicht alles besser, aber es gibt eben Musikstücke, die gar nicht besser zu komponieren sind.
In bezug auf die Retrokonzerte hingegen stimme ich Ihnen beiden vorbehaltlos zu. Die einzige Leistung einiger Früher-Mal-Hip-Gruppen besteht ja darin, in einem vermeintlich selbstironischen Kontext ihre ollen Kamellen darzubieten. Und das ist ja weniger ein Remodeling als vielmehr eine Selbstverleugnung bis hin zur Lächerlichkeit (siehe auch: Klaus Meine und die Seinen...)
Und dann beissen eben Altrocker von ihren Thüringern ab und trinken Bier aus Pappbechern. Ich empfinde soetwas auch stets als ekelerregend, schon allein deswegen, weil ich Sorge habe um meinen Armani-Anzug und meine Pferdelederschuhe.
Leider ist aber auch diese Art (also im Ornat auf Rockkonzerte zu gehen) kein bißchen anders als das selbstironische Remodeling der Scorpions. Aber wenigstens ist es gesellschaftlich geächtet.
Wishbone Ash! Wie lange das her ist! Ich mochte sie nie wirklich besonders, aber sie haben tatsächlich ein paar Meilensteine gesetzt! Wie sahen die denn aus?
AntwortenLöschenAnsonsten kann ich das verstehen, dass man manchmal auf solch Volk einfach keine Lust mehr hat! Das ist ganz gesund, wenn das ab und an passiert.
Aber die Idee mit dem Automaten ist ja echt genial. Mir ist er noch nicht aufgefallen, obschon ich hin und wieder da vorbeistapfte.
Hab Dank für die Info. Und wie immer: Klasse geschrieben, Matt!
Dem einen sein Tokio Hotel ist dem andern sein Wishbone Ash. Hauptsache, man bringt seinen vollgekotzten Armani in die Reinigung, vor man ihn in den Caritas Container stopft :-)
AntwortenLöschen@GP - Retro: Ich muss hier auf AC/DC verweisen. Die schafften es vor 2 Jahren als Vorgruppe auf dem Hockenheimring Mick & Keith von den Stones vor 80.000 Leuten vom Sockel zu stoßen. Mick was not amused. Ich gestehe, ich würde mir AC/DC gerne wieder live "reinziehen". Mit kleinem Wohlstandsbäuchlein aber ohne lange Haare - no Headbanging.
AntwortenLöschenAC/DC arbeiten an einer neuen Platte, aber sicher weiß der Blogbetreiber da mehr.
@Matt: Die Zusammenkünfte auditorisch stimulierter Synapsen in negativer Form erlebe ich auch beim Hören von Björk.
So'n Automat steht doch schon 2-3 Jahre auf der Esso Spielbudenplatz!!
AntwortenLöschen@ hendrik: Das beweißt nur, wie blind ich durch die Gegend laufe.
AntwortenLöschen@ joshua: Mir geht's bei ihr auch öfter so.
@ Opa: Jetzt weiß ich auch, wo ICH mal einen Armani herbekomme – von der Caritas. Oder GP vermacht mir seinen abgetragenen, ähnlich wie sein Handy.
@ 404: Wishbone Ash haben nur noch ein Gründungsmitglied an Bord, nämlich besagten Andy Powell. Und der ist gut in Form, meine Herrn. Der Rest der Band besteht aus jüngeren Virtuosen, die tadellose Arbeit leisten.
@ GP: Ich gestehe sogar eine hemmungslose Anfälligkeit für nostalgische Anwandlungen. Auch zu unseren Donnerstagstreffen komme ich regelmäßig deshalb, weil die vergangenen so nett waren.
@ Stefan: Es lag gestern nicht an der Band, sondern an mir. Außerdem spielen Wishbone Ash durchaus auch viel neues Zeugs - das dritte Stück in meiner Top-3-Auflistung ist nicht mal ein Jahr alt.