17 Dezember 2006

Der blutverschmierte Houellebecq

Ich fragte den 10-Jährigen, mit dem ich auf dem Weg zum Zeitungsholen ein paar Bälle hin- und hergeschossen hatte, wie er hieße, und er sagte: „Miroslav. Aber jeder nennt mich Micky.“

Ein Satz wie in den Mount Rushmore gemeißelt. Ich versäumte es zu antworten: „Und ich bin Matthias. Aber meine Freunde nennen mich Matt.“ Es blieb beim ersten Satz. Warum eigentlich? Weil man nie das Optimum aus einer Gesprächssituation herausholt, die nicht in einem Drehbuch steht.

Nachmittags war ich auf dem Winterflohmarkt in den Messehallen und entdeckte Michel Houellebecqs Roman „Ausweitung der Kampfzone“ als Taschenbuch. Am Stand sollten ausschließlich neue Bücher zu haben sein, weshalb mich die dunkelroten Flecken an den Seitenenden wunderten.

„Entschuldigen Sie“, sprach ich den Händler an, hielt ihm das Buch hin und grinste sarkastisch: „Ist das Blut?“ Er schaute drauf und zögerte irritierend lange. Dann sagte er: „Ja.“

Ich war verblüfft, weil meine Vermutung als Scherz gemeint war. Er sah sich in Erklärungsnot. „Mein Kollege“, erläuterte er, „hat sich beim Aufschneiden der Folien geschnitten.“

Die Sache gefiel mir. „Wieviel wollen Sie dafür?“, fragte ich. „Drei Euro“, sagte er. „Zwei“, erwiderte ich, „wegen des Blutes.“ Er schüttelte den Kopf. „Kann ich nicht machen“, sagte er, „drei muss ich haben.“

Ich schaute enttäuscht. „Warten Sie, vielleicht habe ich noch ein Exemplar“, versuchte er die Situation zu entkrampfen. Er wühlte in einer Kiste unter dem Tisch und zog in der Tat ein weiteres Exemplar des Houellebecq-Romans hervor. Ich nahm es, schaute es mir rundum an – und entdeckte einen weiteren Blutfleck auf der Seite, allerdings war er deutlich kleiner.

Ich hielt ihm das Buch vorwurfsvoll vor die Nase. „Okay, zwei Euro“, resignierte er. Ich holte das Geld hervor, entschied mich aber instinktiv für das erste Exemplar, das deutlich großflächiger mit dem Blut seines Kumpels kontaminiert war.

Das Ganze hat zwei Seiten: Einerseits kann ich jetzt den Kumpel eines Flohmarktbuchhändlers klonen. Ich verfüge über seinen genetischen Code. Andererseits kann ich das Buch aus nachvollziehbaren Gründen nicht zu Weihnachten verschenken – höchstens an German Psycho, und vielleicht tu ich das auch.

Viele werden sich jetzt fragen, warum ich überhaupt ein blutverschmiertes Houellebecq-Buch gekauft habe, auch wenn es neu und ungelesen war. Tja, wahrscheinlich, um was zu bloggen zu haben.

Alle anderen Erklärungen scheinen mir wenig schmeichelhaft.

9 Kommentare:

  1. Der hat sich geschnitten? Und dann alle Bücher eingesaut?
    Was is'n das für'n Buch? Allein der Titel klingt ja schon nach Blut. Dann passt's doch wieder ;)

    Aber was hat der Junge damit zu tun?

    AntwortenLöschen
  2. Houellebecq solltest du unbedingt lesen – wenn du starke Nerven hast und die urbane Tristesse des 21. Jahrhunderts ertragen kannst …

    Der Junge hat nichts mit dem Buch zu tun; er lief mir einfach auch heute über den Weg, und das alles hier hat nun mal auch den Charakter eines Tagebuchs. Und nicht den eines Drehbuchs … ;-)

    AntwortenLöschen
  3. Ein großartiges Buch. Deutlich besser als alles, was er sonst geschrieben hat. Jedenfalls empfinde ich so.

    Und seine Thesen halte ich auch für überaus nachvollziehbar.

    Tatsächlich gibt es nur ein anderes Buch, welches noch besser zu den Blutflecken passt. Sie wissen schon, welches ich meine.

    AntwortenLöschen
  4. Ach, da sind die alle geblieben. Wir sollten das letztes Jahr als Lektüre im Deutschunterricht vorm Abi lesen. Ging aber nicht, waren nicht mehr genügend zu bekommen. Stattdessen haben wir dann etwas anderes gelesen, dessen Titel und Autorin ich vorschtshalber schon wieder vergessen habe weil ichs scheusslich fand.
    Vielleicht wäre Houellebecq da besser gewesen - aber dessen Werk war zu der Zeit ja mit im Flohmarktkarton verstauben beschäftigt ;-)

    AntwortenLöschen
  5. @timo: Diese Lektüre fürs Abi? Ich gestehe, die Schulsituation in Deutschland ist so schlecht nicht. Auch wenn Goethe und Schiller etwas zu kurz kommen.

    @Matt 23.29 : Ich durfte als entfernter Mitblogger darüber ganz laut lachen. Danke! Tatsächlich fanden sich danach doch einige Parallelitäten zwischen diesen Werken.

    AntwortenLöschen
  6. "Der kleine Prinz?"
    Auch meiner Lunge entfleuchte ein lautes Auflachen. Ich muss jetzt mal die Katzen wieder beruhigen ;)

    AntwortenLöschen
  7. Noch ein wenig Sperma hinzu und der gute Michel hätte bestimmt seine helle Freude an diesem Exemplar gehabt.

    AntwortenLöschen
  8. *michkaputtlach* um was zu bloggen zu haben ... Und die Kommentare sind köstlich.

    AntwortenLöschen