26 Mai 2023

Wir haben uns vergiftet

Als ich in Planten un Blomen gerade Bärlauch in der Blüte seines Lebens pflücke, stoppt neben mir ein Fahrzeug der Parkverwaltung. Zwei Frauen in Arbeitsklamotten sitzen darin, und ich befürchte das Schlimmste: dass sie mir die Ernte untersagen. Für uns ist die Bärlauchsaison nämlich quasi die fünfte Jahreszeit, eine paradiesische Phase zwischen Frühling und Sommer, in der wir uns mehrfach die Woche dem Genuss des – wie der Österreicher sagt – Latschenknofels widmen, meist in Form eines Salats. Soll das nun alles vorbei sein? Weil mich die Gärtnerinnen erwischt haben? Die Fahrerin beugt sich aus dem Fenster. „Sie wissen schon, dass Bärlauch giftig ist, wenn er blüht?“

Ich glaube mich verhört zu haben. Seit vielen Jahren ernten wir das köstliche Wildgemüse und sehen seiner Blühphase stets besonders vorfreudig entgegen. Zwar bedeutet sie einerseits das baldige Ende der fünften Jahreszeit, andererseits sind gerade die Bärlauchblüten von besonderer Schmackhaftigkeit. Noch intensiver als die inzwischen gar zu großen Blätter konzentriert sich in ihnen das knoblauchähnliche Aroma, und zudem trägt ihre weiße Pracht beträchtlich zur ästhetischen Veredelung von Ms. Columbos Salatkompositionen bei. Kurz: Wir lieben Bärlauchblütentage!

Das Wort Gift nun in einem nahtlos vorgetragenen Satz gemeinsam mit dem Wort Bärlauch zu vernehmen: Das irritiert mich. Und ich kann auch eine gewisse Verunsicherung nicht leugnen, denn wen habe ich hier vor mir? Eine hauptberufliche Gärtnerin! Gleichwohl lebe ich noch, was mich zur Gegenrede ermuntert. „Wie bitte?“, leite ich nach dem ersten Schreck (und der Erleichterung, dass sie mir anscheinend die Ernte nicht grundsätzlich untersagen möchte) meinen Einwand ein: „Wir verzehren Bärlauch seit Jahren, auch die Blüten, und vertragen alles bestens.“

„Ich sag’s ja nur“, rechtfertigt sich die Frau und lächelt bedauernd. Wenn ich also nachher tot umfalle, das soll mir wohl ihr gelächeltes „Ich sag’s ja nur“ mitteilen, dann ist keinesfalls sie schuld. Denn sie hat’s ja nur gesagt. Und sie ist die Expertin. Wobei ich an dieser Stelle betonen muss, ein glühender Anhänger des Expertentums zu sein. Während der Pandemie habe ich auf Virologen vertraut und nicht auf die YouTube-Universität, und bei Stromproblemen rufe ich den Elektriker, nicht den Klempner. Ja, ich mag Fachkräfte, und diese Frau hier betreut einen öffentlichen Park, sie wird doch wohl wissen, wovon sie spricht, nicht wahr.

Andererseits: Ich lebe noch.

Nach ihrem „Ich sag’s ja nur“ ist die Sache für die Gärtnerin erledigt. Sie und ihre Kollegin, die stumm geblieben ist, fahren weiter und überlassen mich meinem Schicksal – also Tod und Verderben. Zu Hause wird natürlich sofort gegoogelt. Eine fachlich kompetent wirkende Infoseite bestätigt mich vollumfänglich und blamiert die Gärtnerin: Viele Menschen glaubten, heißt es dort, dass Bärlauch zur Giftpflanze mutiere, sobald er blüht. „Doch das stimmt nicht.“

Das und die hervorragende Verträglichkeit des Bärlauchgiftes beweisen gerichtsfest: Was die Gärtnerin mir erzählt hat, ist Quatsch. Florales Querdenkertum. Mein unerschütterlicher Lobpreis des Expertentums, von dem mein Freundeskreis augenrollend Zeugnis ablegen kann, wirkt plötzlich schal. Ich meine: Diese Frau verdient ihr täglich Brot mit der Botanik, gleichwohl trötet sie Humbug über ein unschuldiges Wildgemüse in die Welt hinaus? Das ist ja ungefähr so, als glaubte ein Astronom an Astrologie. Oder ein Chemiker an Homöopathie.

Natürlich haben wir trotz alledem und gerade deshalb auch diese Portion Bärlauchblätter und -blüten zu einem köstlichen Salat verarbeitet – und ihn mühelos überlebt. Morgen geh ich wieder hin, vielleicht zum letzten Mal in dieser Saison. Denn die fünfte Jahreszeit ist schon fast wieder vorbei, es ist ein Jammer.




26 April 2023

Nur Luden sterben arm

Neulich fragte mich ein Blogbesucher nach meiner Meinung zur Amazon-Prime-Serie „Luden – Könige der Reeperbahn“, und ich musste gestehen, sie bisher nicht gesehen zu haben. Mein Interesse hält sich – nach allem, was ich darüber gelesen habe – auch in Grenzen. Noch eine Serie, die Zuhälter als irgendwie cool und ihren Lifestyle als erstrebenswert darstellt? Das macht so müde.

Zudem bin ich auch als Betreiber eines Blogs namens „Rückseite der Reeperbahn“ nur unzureichend kompetent, um eine Fiktionalisierung glaubhaft mit der Kiezrealität abgleichen zu können. Es gibt ja (mindestens) zwei St. Paulis: das Rotlichtmilieu und das Wohnviertel. Und ich tummle mich seit einem Vierteljahrhundert ganz überwiegend in Letzterem.

Meine Berührungspunkte mit dem Rotlicht sind an einer Hand abzuzählen. Einen echten Luden habe ich zum Beispiel nie kennengelernt. Ich sehe ab und zu Corvettes und Lamborghinis in der Straße parken (hier ein Bild von letzter Woche), aber gehören sie auch wirklich einer Rotlichtgröße? Gerichtsfeste Beweise fehlen. Bei einem Bier im La Paloma lernte ich mal eine Prostituierte kennen, die gerade Pause machte und mich und meinen Begleiter um eine Cola anschnorrte. Sie erzählte uns von ihrer Jugend in Ostdeutschland, was sie nach Hamburg verschlagen und wie sie ein Auskommen im Rotlichtviertel gefunden hatte. Eine freundliche junge Frau, die sich für die Cola bedankte und wieder zurückging an die Arbeit in der Davidstraße.

Persönlich kenne ich nur die nicht nur leicht schillernde Kiezgröße Kalle Schwensen. Der Kontakt kam beruflich zustande. Ich war Musikjournalist, und Kalle hatte die wiedervereinigten Tic Tac Toe am Start. Zeitweise informierte er mich via Facebook über seine Veranstaltungen wie Freistilboxen und Ähnliches.

Zweimal bin ich Kalle Schwensen in natura begegnet, und seither meide ich den Kontakt – vor allem deswegen, weil sein größter Ehrgeiz darin zu bestehen scheint, einem bei der Begrüßung den Mittelhandknochen zu brechen. Muss nicht sein. Auch dass er als selbst ernannter Welterklärer zuletzt mit Corona-Verschwörungsfantasien verhaltensauffällig wurde und Wolodymyr Selenskyj und Annalena Baerbock für europäische Großverbrecher hält (nicht aber Putin), spricht kaum dafür, den Kontakt zu reaktivieren.

Im Fitnessstudio begegnete mir ab und zu mal Inkasso-Henry, der in seiner großen Zeit für Luden Geld eintrieb. Henry ächzte und keuchte beim Bankdrücken wie ein Pottwal mit Katarrh. Irgendwann tauchte er nicht mehr auf, und dann las man Nachrufe auf ihn – wie jetzt auf den einstigen Nutella-Gang-Luden Klaus Barkowsky, der gestern früh vom Balkon seiner Wohnung in Altona gesprungen sein soll. Unter anderem seine Geschichte erzählt die erwähnte Amazon-Prime-Serie.

Was auffällt bei solchen Geschichten über Kiezgrößen, die sich einst die Zigarren mit Hundertmarkscheinen anzündeten: Die meisten (oder alle?) wurden arm, und sie sterben arm. Wo sind all die Millionen hin, die junge Frauen auf St. Pauli für sie erwirtschaftet haben? Jede Ludengeschichte, die ich je gehört habe, endet traurig, tragisch, deprimierend. Die Serie „Luden – Könige der Reeperbahn“ dürfte diesen Aspekt ihres Lifestyles aussparen. Aber wie gesagt: Ich habe sie nicht gesehen.

Wer sich hingegen bis heute mit cleveren Aktivitäten immer über Wasser halten konnte, ist Kalle Schwensen. Aktuell betreibt er einen anscheinend gut frequentierten Sadomasoklub in der Erichstraße. Aber Kalle ist ja auch kein Lude. Vielleicht bietet das die beste Chance, auf St. Pauli nicht arm zu sterben.



30 März 2023

20 März 2023

Die gemütlichsten Ecken St. Paulis (192)

Welch kulinarische Verlockung sich hinter dem Rollo verbirgt – und dass es sich um eine solche handelt, dafür steht allegorisch der beleibte Koch links –, entzieht sich meiner Kenntnis. 

Dazu müsste ich erneut vorbeischauen, wenn der Rollo oben ist – sofern dies überhaupt noch einmal der Fall sein wird in diesem Leben.

Vielleicht will ich das alles aber auch gar nicht so dringend wissen.

Entdeckt am Nobistor.


28 Februar 2023

Meine Chakren sind nur noch Granulat

Ich hatte über Groupon einen günstigen Massagegutschein geschossen, mich aber vorher nicht umfassend über den Anbieter informiert. Als ich nun zum vereinbarten Termin vor der Tür der Praxis stand und die Angebotsliste studierte, wurde mir klar, wo ich hier unfreiwillig hingeraten war.

„Spiritual Body Healing“, Sakralenergien, Chakradingens: Ich stand eindeutig vorm Hades der Esoterik. Wer schon länger in diesem Blog herumstöbert, kennt meine Haltung zu Humbug jeder Couleur. Insofern möchte ich Sie ermuntern, mir höchste Anerkennung zu zollen für den nächsten Schritt, den ich tat: Ich drückte trotz alledem die Türklinke und betrat diese Massagepraxis.

Nach dem Empfang durch einen muskulösen Herrn fernöstlicher Provenienz betrat ich die Toilette und gewahrte eine merkwürdige Rohrkonstruktion, die vom Wasserhahn des Waschbeckens zu einer Apparatur führte. Ein daran gehefteter Zettel informierte mich darüber, dass diese für eine „Informationslöschung auf null“ beim Wasser sorge.

Schwer stützte ich mich einen Moment auf die Keramik. Ja, ich war wirklich im Hades der Esoterik. Würde es mir gelingen, wieder unbeschadet zu den Gestaden der Wirklichkeit zurückzukehren?

Jedenfalls reduzierte ich angesichts der Wasserinformationslöschung auf null meine Erwartung an die bevorstehende Massage ebenfalls auf genau dieses Maß. Wahrscheinlich würde mir der Mann, ungeachtet seiner definierten Muskulatur, einfach nur eine Stunde lang die Chakren streicheln, Energieströme beflüstern und somit Dinge zu heilen versuchen, die a) nicht existierten und b) wenn doch, gar nicht kaputt waren.

Enorm erwartungsarm legte ich mich auf den Massagetisch und schaute, innerlich resigniert seufzend, einer von Klingklangmuzak umdudelten Wohlfühlstunde entgegen. Doch dann legte der Mann los. Und wie. Mehrfach musste ich in den folgenden sechzig Minuten Schmerzensschreie unterdrücken und vermochte sein sporadisches „Okay so?“ nur mit einem mühsam geächzten, Tapferkeit simulierenden „Ja, geht, kein Problem“ zu beantworten. 

Am Ende waren meine Chakren Granulat. Er hatte meine Muskulatur aufgebrochen wie der Jäger das Wild. Und als er mich fragte, wie ich es gefunden habe, gestand ich ihm, eher auf Wellness eingestellt gewesen zu sein als auf eine amtliche Sportmassage.

„Nein, nein“, lachte er und schüttelte den Kopf. „Das war ganz klassisch. Bei einer Sportmassage wäre ich viel tiefer reingegangen.“


PS: In Ermangelung eines Beweisfotos gibt es hier eine Alsterimpression zu sehen – immerhin liegt die Praxis in der Nähe dieses Gewässers.



21 Januar 2023

Pareidolien (143–151)





Die Lebensmittelvarianten kann ich leider keiner Quelle mehr zuordnen, dafür aber das vomitierende Abflussrohr, welches mir @einheitskanzler@dju.social zugeschickt hat. Das skeptisch dreinschauende Haus verdanke ich @TomWellborn@universeodon.comDer Rest ist selbst entdeckt.

PS: Wer bereits diesen Entdeckungen der komplexesten Gesichtserkennungssoftware der Welt – dem menschlichen Gehirn –  etwas abgewinnen kann, dem werden die Augen übergehen, wenn er erst einmal bi der geschätzten Pareidolie-Tante in Wien vorbeischaut. Versprochen.

01 Januar 2023

Jan Fedder hätte das gefallen


Die Abendstimmung gestern an der Jan-Fedder-Promenade hätte ihr Namensgeber sicherlich goutiert – wie auch die Tatsache, dass überhaupt eine Hamburger Promenade nach ihm benannt wurde.


31 Dezember 2022

Der 18. offene Brief zu Silvester

Liebe diesjährige Bewerber und -innen um den Darwin-Award,

wie Sie wissen, bemühe ich mich seit 2006 auf manchmal erbarmungswürdige Weise darum, Ihnen das übliche Silvesterfeuerwerk auszureden. Heute, im achtzehnten Jahr dieses – wie ich nicht unbescheiden betonen möchte – verdienstvollen, wenngleich stets vergeblichen Versuchs, möchte ich Sie hingegen ausdrücklich zum Feuerwerken ermuntern. Wie das?, wundern Sie sich und werden sogleich hellhörig.

Nun, weil Sie in diesem Jahr gleich mehrere bockstarke und absolut unterstützenswerte Botschaften in die Welt hinausböllern können:

  1. Sie zeigen damit eindrucksvoll, dass Sie bereit sind, aus Solidarität mit den Opfern des Angriffskriegs in der Ukraine ebenfalls Augen, Ohren, Hände, Füße und Geschlechtsteile zu opfern. Ja, die sind Ihnen durchweg schnuppe, solange nur Ihre Botschaft rüberkommt. Nimm das, Putin!
  1. Außerdem signalisieren Sie hyperdeutlich, dass Ihnen zehn Prozent Inflation bei Weitem noch nicht hoch genug ist, um sich die Freude an der Selbstverstümmelung vergällen zu lassen. Gaspreis, wo ist dein Stachel?
  1. Zudem stellen Sie eine heutzutage sehr selten gewordene Tapferkeit unter Beweis, die sich darin zeigt, dass Sie leichtherzig auf jede Notfallversorgung verzichten möchten. Denn es wird eh niemand kommen, wenn Ihre vor Entsetzen schreienden Angehörigen – Plastiktüten mit Ihrem Schniedel und/oder Nasenresten in den zitternden Händen – die 112 wählen. „Ach, lass nur“, röcheln Sie mit ungewohnt hoher Stimme, „andere haben es nötiger.“ Stimmt.

  2. Und last not least zeigen Sie es allen Katzen, jenen Krallenmonstern, die im Schnitt 270 Vögel pro Jahr in die ewigen Gejagtwerdengründe schicken und sich nun – dank Ihnen – wenigstens eine Nacht lang vor Angst schlotternd unter Frauchens Bett verkriechen müssen.

Kurz gesagt: Böllern Sie bitte, bis der Arzt (nicht) kommt! Meinen Segen haben Sie.





14 Dezember 2022

Die gemütlichsten Ecken St. Paulis (181–189)


Tanzende Türme, Reeperbahn


Komet, Erichstraße


Paradise of Sex, Reeperbahn


Renovierungsstau, Reeperbahn


S-Bahn Reeperbahn


Schmuckstraße


Irgendwo auf St. Pauli


11 Dezember 2022

Die Rückseite der Reeperbahn brennt

Um Viertel vor eins heute Morgen höre ich, wie eine Frau „Hilfe!“ schreit. Ich eile zum Balkon – und sehe das Haus gegenüber brennen. Menschen sitzen in den Fenstern der vierten Etage und schreien, hinter ihnen Flammen oder dichter schwarzer Rauch, der in den frostigen Kiezhimmel steigt.

Ich wähle die 112. Nicht ein einziges Freizeichen ist zu hören, sofort ist jemand dran. Ich schildere die Lage, die Hilferufe von gegenüber werden live in die Notrufzentrale übertragen. Im Hintergrund klackern Finger über eine Tastatur; noch während wir reden, geht der Einsatz los.

„Wie lange dauert das?“, schreit es von drüben, „Wann kommen die?“. Rufe in Todesangst, auch wütend, vorwurfsvoll, panisch.
„In einer Minute!“, rufe ich zurück, obwohl ich es nicht genau weiß.

Ein Mann, der die Hitze hinter sich nicht mehr aushält, hat sich außen ans Fensterbrett gehängt und lässt sich fallen. Zwei Etagen tief stürzt er und prallt aufs Vordach in Höhe des Erdgeschosses. Er kriecht an den Rand und bleibt dort hocken, ein schweigender Schattenriss vorm Flackern der Flammen, die bald darauf hoch aus dem Fenster schlagen, durch das er eben erst gestürzt ist.

Nach ungefähr fünf unendlichen Minuten ist die Feuerwehr da. Mit einem Rammbock durchbrechen Uniformierte in Signalwesten die Tür zum Innenhof und ziehen einen Schlauch hinein. An den Fenstern im brennenden Haus sitzen um ihr Leben fürchtende Menschen. Sie leuchten mit Taschenlampen ins Dunkel, um auf sich aufmerksam zu machen.

Es dauert ewig, bis das erste Wasser fließt. Es dauert noch länger, bis die ersten Leitern stehen. Hinter einem Mann wüten bereits die Flammen bis zur Decke, als er es endlich schafft hinauszuklettern. Aus der Nachbarwohnung quillt schwarzer Rauch, dort holt die Feuerwehr eine Frau heraus, die einige Minuten später, von einem Sanitäter gestützt und barfuß, in Sicherheit gebracht wird.

Die Rückseite der Reeperbahn hat gebrannt, und ich bin bis obenhin voll mit Adrenalin. Es wird, wie sich herausstellt, Stunden dauern, bis es vom Melatonin verdrängt wird. Wie erst muss es denjenigen ergehen, die heute Nacht eine halbe Ewigkeit nicht wussten, ob die Retter rechtzeitig da sein würden? Wird ein Trauma sie quälen für den Rest ihres Lebens?

Sieben Verletzte gab es, steht heute in der Zeitung. Keine Toten.



03 Dezember 2022

Fundstücke (258)

Die im linken Foto dokumentierte Situation präsentierte sich mir heute in der Glacischaussee. Anscheinend erprobte dort die letzte Generation der Autofahrer erste Protestaktionen gegen Fahrradnutzer. Der Wagen war übrigens nicht etwa am Rangieren, wie man aus der Ferne vielleicht vermuten könnte, sondern in der Tat geparkt.

Nur wenige Dutzend Meter entfernt davon – am Millerntorstadion –  entdeckte ich ein weiteres Fundstück mit Verkehrsbezug: den Entfluchtungsweg

Wenn Sie jetzt das denken, was ich auch gedacht habe, nämlich: Haha, was für ein Bürokratenblähdeutsch zum Fremdschämen, warum sagen die nicht einfach Fluchtweg wie jeder andere auch?, dann verordne ich Ihnen (wie mir), das Wort einmal im Duden nachzuschlagen. Und siehe da: Es steht einfach so dort herum und wird ordnungsgemäß erläutert mit „Fortführung von Menschenmengen aus einer Gefahrenzone bei Großereignissen oder in Notfällen“.

Bitte integrieren Sie (wie ich) dieses Wort in Ihren Wortschatz, danke.


11 November 2022

Zurück in Polettos Palazzo


Endlich wieder Palazzo! Diesen wilden Mix aus Koch- und Körperkunst hatte in den letzten beiden Jahren leider Corona gecancelt. Die Eintrittspreise (99 Euro für die Bühnenloge an normalen Tagen, 3.600 Euro für die Direktionsloge an Silvester) decken ein recht breites Spektrum zwischen Bürgergeld und Bonzenjahresbonus ab, doch wir waren dankenswerterweise eh eingeladen. Und mit uns traditionell auch der legendäre Franke, diesmal sogar samt Sohn, einem hochtalentierten baldigen Volljuristen. Der Apfel fällt also manchmal doch weit vom Stamm!

Damit will ich dem Franken natürlich keineswegs zu nahe treten; er hat halt nur ganz andere „Qualitäten“, deren ausführlicher Dokumentation sich dieses Blog unter großen persönlichen Opfern des Betreibers seit sehr, sehr Langem verpflichtet fühlt.

Dazu, zu des Franken Qualitäten, gehört es zum Beispiel, sich der oralen Elimination von Eismeerlachstatar mit Avocado, Babyromanasalat und Kräutervinaigrette zu widmen. Eben dies hat uns Palazzo-Küchenchefin Cornelia Poletto als Vorspeise komponiert. Als Appetizer jonglierte vorher ein Australier namens Jeromy Nuuk mit bis zu sieben Bällen gleichzeitig, und das geht gar nicht. Punkt. Aber so steht es geschrieben, und zwar hier. Also muss es wahr sein.

Nach der Bauchrednernummer von Daniel Reinsberg fragt eine Tischnachbarin bass ratlos in die Runde: „Wisst ihr, wie er das macht?“ Im Prinzip ja: reden, ohne ’s Maul aufzumachen. Rein ablauforganisatorisch bleibt hingegen vieles im Unklaren. Wie es etwa möglich ist, auch Buchstaben glasklar hervorzubringen, zu deren Artikulation man nun mal notwendigerweise die Gosch’n öffnen muss (zum Beispiel Vokale), das hat der feine Herr Reinsberg natürlich für sich behalten.

Als Zwischengang kommt Parmesansuppe mit grünem Spargel und Grissinicrunch. Man lässt uns zudem als ultimative Verlockung einen gut gefüllten Nachschlagtopf samt Kelle da, was – wie ich zugeben muss – nicht nur für den Franken eine Versuchung darstellt, der zu widerstehen uns einfach die charakterliche und sittliche Reife fehlt. Und zwar mehrfach hintereinander.

Weiter geht’s mit Comedy, Seil- und Mitmachnummern, viel Musik der Hausband und dem Hauptgang „Polettos Chickeria“: glasierte Perlhuhnbrust mit Süßkartoffelpüree, wildem Brokkoli und Vadouvanjus. Vadouwatt?, fragen Sie sich bestimmt jetzt auch, und die Antwort lautet laut Google: eine indische Gewürzmischung. Wieder was gelernt.

Nach dem Dessert (Vierländer Apfel „caldo e freddo“ mit Salzkaramellsauce) und der abschließenden Handstandnummer von Junru Wang (Foto), deren Rückenmuskulatur mindestens so eindrucksvoll ausgestaltet ist wie ihre Balancierfähigkeiten, geht es heiter wieder heim nach St. Pauli.

Der krisenbedingt etwas abgespeckte Palazzo 2022 wirkt nun hoffentlich nur in der Erinnerung nach und nicht auch in Form einer heimischen Omikronzucht. Bei einer ordentlichen Dauerdurchlüftung des gemütlichen Spiegelzelts hätten wir uns jedenfalls noch wohler gefühlt.

Ach ja: Sollten Sie noch ein hochskurriles Weihnachtsgeschenk suchen – „Die Frankensaga“ ist weiterhin lieferbar und harret eines entsetzenbereiten Publikums.




27 Oktober 2022

Zwischen Kontrolle und Kontrollverlust



Nach meinem bescheidenen Dafürhalten lohnt sich der Kauf einer Fahrkarte für den öffentlichen Personennahverkehr nur dann so richtig, wenn man unterwegs auch ordnungsgemäß kontrolliert wird. Ich weiß, es ist grundfalsch und unmoralisch, so zu denken, aber nach einer längeren Fahrt unbehelligt wieder aussteigen zu müssen, fühlt sich an, als sei der Erwerb des Tickets eine Fehlinvestition gewesen.

Mit einem gewissen Behagen sah ich deshalb heute in der S21 irgendwo zwischen Bergedorf und Hauptbahnhof zwei unbeteiligt dreinblickende Herren in gelben Signalwesten zusteigen. Das Behagen rührte vom präventiven Erwerb eine Tageskarte, und bereits beim Anblick der Herren war unmittelbar klar, dass dies keine Fehlinvestition gewesen war. Ich blickte also vorfreudig dem Augenblick entgegen, da ich sie zücken und somit die Legitimität meiner Anwesenheit in der S21 nachweisen konnte. Ein schöner Tag.

Die Gelbwesten näherten sich meiner Position, wurden aber zunächst aufgehalten. Ein junger Mann zeigte eine Abokarte vor, die noch nicht gültig war. Ein Ticket aus der Zukunft also. Das die Gegenwart betreffende hatte er wohl zu Hause vergessen. Immerhin räumten die beiden ihm eine Frist von einer Woche ein, um sie nachträglich vorzuzeigen. Bei mir lief dann alles glatt – ich hatte ja eine Tageskarte! Und sie ungerührt und nonchalant vor den Scanner gehalten. Tschacka.

Hinter mir aber braute sich alsbald etwas zusammen. Ein Pärchen wurde kontrolliert, sie hatte eine Karte, er nicht. Eine Diskussion entspann sich, in deren Verlauf sich herauskristallisierte, dass er – obzwar ohne gültigen Fahrschein – seinen Ausweis nicht vorzeigen wollte. Es ging hin und her, man tauschte – nun ja – Meinungen aus, bis einer der Kontrolleure sagte: „Dann steigen wir jetzt aus und rufen die Polizei.“

Spätestens jetzt hätte ich mich an seiner Stelle in mein Schicksal gefügt, meine Schwarzfahrerei vielfach verflucht und die 60 Euro Strafe, sofern in ausreichender Höhe in bar verfügbar, gezahlt. Nicht so der ticketlose Ausweisvorzeigeverweigerer. Er wollte es drauf ankommen lassen. Während seine Freundin schweigend sitzen blieb und sich ihren Teil dachte, eskortierten die Gelbwesten ihn hinaus.

Kaum dass sie den Bahnsteig betreten hatten, suchte der Mann sein Heil in der Flucht, doch die ÖPNVler waren auf dem Quivive, schnappten ihn sich, er schlug um sich, man rangelte und raufte, und schließlich gelang es den Gelbwesten, den Mann an die Wand zu drücken. Noch während des Kampfs hatte sich seine Freundin schließlich doch dazu entschlossen, ihrem Hornochsen beizustehen, und den Waggon verlassen.

„Alan“, sagte sie, „nun beruhige dich doch mal.“ Aber nix da, Alan wollte sich nicht beruhigen, sondern überwältigt werden, auf dass seine Strafe weit über die 60 Euro hinausginge, das war er sich schuldig und eine Frage der Ehre, dann lieber vor Gericht, als klein beizugeben, das wäre doch gelacht. Übrigens trug er die ganze Zeit aufs Akkurateste seine Maske, auch noch, als er bewegungsunfähig die Wand küsste. Wenigstens die Coronaregeln waren für ihn sakrosankt, dafür Daumen hoch.

Da ich ja – habe ich das schon erwähnt? – eine Tageskarte hatte, enterte ich, zurück in Hamburg, an den Landungsbrücken aus Jux und Dollerei die Fähre 62 und schaukelte bei spätsommerlichen 20 Grad an den abgebildeten Hafenkränen vorbei nach Finkenwerder und zurück. Leider wurde ich nicht mehr kontrolliert.