Wasserspiegelungen im Fleet an der Michaelisbrücke.
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16 August 2015
06 August 2015
Dunkelgrün ist die Hoffnung
Dieses Schaubild stammt von der Generali-Versicherung. Es zeigt die Verteilung von Fahrraddiebstählen in Hamburg. Je dunkelgrüner, desto mehr. St. Pauli ist ausgesprochen dunkelgrün.
Hier auf dem Kiez wird laut Generali im Lauf von zehn Jahren jedes zehnte Rad geklaut. Darüber kann ich natürlich nur lachen. In zehn Jahren gehe ich im Schnitt dreier Räder verlustig; das sind alle, die ich habe, und entspricht somit einer Quote von hundert Prozent.
Als mir meine Insuranz, die in dieser Beziehung bestürzend wankelmütige Zürich Versicherung, das letzte empörenderweise nicht mehr ersetzen wollte, kündigte ich sofort lauthals zeternd den Vertrag. Das erleichterte Aufatmen der Zürich, mich endlich los zu sein, wehte behende über die Alpen nordwärts und war noch hier in St. Pauli als linder Windhauch spürbar.
Meine Konsequenz aus diesem unablässigen Geschröpftwerden durch Diebsgesindel ist seit Jahren die, dass ich mir immer billigere Räder anschaffe. Das aktuelle ist ein gefühlt zentnerschwerer Trumm mit Stoßdämpfer und hat mich auf dem Schlachthofflohmarkt verkraftbare 50 Euro gekostet.
Als ich es zum türkischen Händler meines Vertrauens brachte, um es auf ein alltagstaugliches Niveau bringen zu lassen, runzelte er spontan sorgenumwölkt und auch missbilligend die Stirn. „Farrat scheiße“, beschied mir der grundehrliche Mann ohne den geringsten Versuch, seine Einschätzung zu beschönigen. „Immä Propläm.“
Ich fühlte mich natürlich ordnungsgemäß schlecht; immerhin hatte ich das Rad nicht bei ihm gekauft wie schon mehrfach in der Vergangenheit. Doch sein Preisniveau startet eben erst bei 250 Euro, und für das nächste Fahrrad, das ich mir im dunkelgrünen St. Pauli klauen lassen möchte, ist das letztlich einfach ein zu hoher Preis.
Unter Protestgemurmel nahm er den Auftrag schließlich an und brachte es auf Vordermann. Ich besorgte mir für den doppelten Fahrradpreis ein Schloss, das angeblich auch einer Flex oder zumindest einem Atomkrieg standhält, und jetzt walze und schaukle (Stoßdämpfer!) ich mit dem zentnerschweren Trumm gar nicht mal so unzufrieden durch Hamburg. In die Wohnung trage ich es natürlich nicht hoch; dafür bräuchte ich Möbelpacker.
Meine Hoffnung, dass ein Fahrraddieb es mustert und denkt „Farrat scheiße, immä Propläm“, ist übrigens grün. Dunkelgrün.
Grafik: Generali
27 Juli 2015
Pareidolie (105–107)
Unter den Blinden ist der Kohlrabi König, wie mir heute bei Edeka dämmerte.
Die anderen beiden Entdeckungen verdanke ich dem bereits in der Vergangenheit immer wieder ergiebigen Schlachthofflohmarkt (wobei Baseballmützen von hinten sowieso ein steter Quell der Freude sind, wie man hier und hier gut sehen kann) sowie einem Bus in Trient.
PS: Eine ganze Galerie gibt es – natürlich – bei der Pareidolie-Tante.
20 Juli 2015
Zufälle gibt’s, die gibt’s … doch
Neulich las ich auf einer Nachrichtenwebseite gerade in einem Satz das Wort „Comeback“, während im Hintergrund Coldplay lief – und deren Sänger Chris Martin exakt in dieser Sekunde das Wort „Comeback“ lippensynchron sang. Ich war frappiert bis an den Rand der Esoterik.
Es gibt eben Zufälle, die gibt’s gar nicht, aber wie wir alle schon lange wissen, kommt, wenn man unendlich lange eine Horde Schimpansen auf Schreibmaschinen rumhampeln lässt, halt irgendwann „Faust 1“ dabei raus. Das ist auch kein Zufall, nein: That’s statistics, stupid!
In puncto Zufälle kann ich aber noch ein weiteres Ereignis beisteuern, das sich, wenn ich mich recht erinnere, auch noch am selben Abend zutrug wie Chris Martins „Comeback“-Singen bei meinem Lesen des Wortes auf einer Nachrichtenseite. An eben jenem Abend nämlich nahm ich im Bad die Elektrozahnbürste aus der Halterung und stieß dabei versehentlich Ms. Columbos Ring an, der auf der Ablage lag.
Wie in Zeitlupe sah ich das unschätzbar wertvolle Stück ins Waschbecken fallen und dort das metallisch tuende, aber federleichte Plastiksieb, welches bis dahin ohne Fehl und Tadel den Abfluss bewacht hatte, sanft anstupsen und beiseite stoßen, woraufhin der Ring umstandslos im Abfluss verschwand.
Man mag sich meinen Schrecken ob dieses ebenso unwahrscheinlichen wie doch soeben eingetretenen Ereignisverlaufs vorstellen. Ich war wie erstarrt, vermochte aber noch ein halb ersticktes „Oh nein!“ hervorzupressen, was Ms. Columbo auf den Plan rief.
Im Hinausstürzen – „Ich brauche eine Rohrzange!“ – und wieder Herbeieilen hechelte ich ihr die unglaubwürdige Geschiche vor, und schon hatte ich den Haupthahn abgedreht, das Siphon abgeschraubt und panisch nach dem Ring gefischt.
Natürlich fand er sich in der exakt dafür eingebauten Rohrbiegung, und mit zitternden Fingern legte ich ihn Ms. Columbo in die zarte Hand. Aber es war gar nicht – wie von mir die ganze Zeit befürchtet – der ideell unersetzliche Ehering, sondern irgendein schmuckes Modeschmuckteil aus Kunststoff. Was plötzlich ihre Gelassenheit recht plausibel erklärte.
Am Grad meiner Panik hätte das möglicherweise einiges geändert, doch dafür hätte ich erheblich früher davon Kenntnis erlangen müssen.
So viel zur Macht des Zufalls. Chris Martin würde mich verstehen, wenn er diesen Blogeintrag läse. Aber das wiederum ist noch unwahrscheinlicher, als wenn ein Ring sich im Waschbecken den Weg in den Abfluss durch Wegstupsen des Siebs bahnte.
Andererseits: Wenn Martin unendlich viel Zeit damit verbrächte, Blogs zu lesen, stieße er unweigerlich spätestens am Sanktnimmerleinstag auch auf diesen Eintrag, und zwar nicht zu seinem Schaden.
Irgendwie tröstet mich das.
13 Juli 2015
Fundstücke (205)
Kein Wunder, dass man uns hier auf dem Kiez keine Ruhe lässt.
Entdeckt an einer Haustür auf St. Pauli.
27 Juni 2015
Unterm Joch der Bikebanditen
Ja, ja, ich weiß, was Sie jetzt denken. Es liegt ja auch nahe.
Doch dem ist nicht so. Wir sahen dem Ganzen relativ gelassen entgegen – nämlich mit großem Vertrauen auf die Prognosen von Kachelmann & Co. und damit auf eine meteorologische Lösung des Problems.
Doch wo, Wettergott, bleiben eigentlich die gestern von allen seriösen Diensten avisierten apokalyptischen Wolkenbrüche, die den hier rauf und runter marodierenden Bikebanditen, Zweitaktzombies, Chromtanktaliban, Bandanablödianen, Chopperschimpansen und Nietenlederlumpen mal ordentlich gezeigt hätten, wo ein rasender Thor die Blitze herholt? Wo?
Zurück zu den Spuren im Hauseingang. Ich kenne ihre Ursache gar nicht. Doch anhand der Verfärbungen im Lauf des Trocknungsprozesses tippe ich Hobbyforensiker weniger auf eine einschlägige Körperflüssigkeit als auf einen leckenden Tetrapak Kirschsaft.
Aber vielleicht kommt im Lauf des Wochenendes ja doch noch etwas hinzu, was dem optisch ähnelt und Ihren spontanen Vermutungen von oben eher entspricht.
Ich bespreche mich mal eben mit der Hausgemeinschaft.
24 Juni 2015
Billys Bauch und Stevens’ Beitrag
Komme gerade vom Billy-Idol-Konzert im Stadtpark, und es war lustig. Allerdings aus den falschen Gründen.
Der gute Billy singt nämlich inzwischen mit dem Stimmvolumen eines lungenkranken Wiedehopfs, lenkt davon aber optisch nicht ungeschickt ab mit einem Six Five Four Three Twopack, der für einen Mann meines Alters durchaus vorzeigbar ausfällt. Was Billy übrigens schon ab dem dritten Song ebenfalls findet, aber so was von.
Höhepunkt des Abends nichtsdestotrotz: sein optisch ausgesprochen grotesker Gitarrist Steve Stevens. Der Mann ist ein toller Instrumentalist, unbenommen – aber leider zum Glück hat er sich zurechtgemacht wie die vertikal herausgeforderte Parodie eines Hair-Metal-Heinis, der in Schlaghosen aus Schwarzleder in einen Topf voller Ron Woods gefallen ist.
Aus all diesen Gründen war das Billy-Idol-Konzert im Stadtpark jedenfalls ziemlich lustig.
Und vielleicht sogar ja doch aus den richtigen Gründen.
18 Juni 2015
Fundstücke (204)
Keine Ahnung, worauf genau sich die angepriesene volle Funktionsfähigkeit bezieht, aber wäre ich eine Frau, wollte ich das wahrscheinlich auch gar nicht wissen.
Hm … So eigentlich auch nicht.
Entdeckt mitten auf St. Pauli, wo sonst.
08 Juni 2015
Wie werde ich zum Smartphonezombie?
1. Um ein Smartphonezombie zu werden, brauchen Sie unbedingt ein „Mobile Device“. Zum Beispiel ein iPhone oder ein Tablet, es reicht auch ein gebrauchtes. Mehr ist gar nicht nötig. Alles Weitere liegt ganz allein bei Ihnen – genauer gesagt: aufm Platz.
2. Beginnen Sie Ihre Karriere als Smartphonezombie erst mal zu Hause und im Freundes- und Familienkreis, am besten beim gemeinsamen Essen. Nutzen Sie Ihr Gadget in geselliger Runde, indem sie draufstarren, statt sich an Gesprächen zu beteiligen. Machen Sie mürrisch „Hä?“, wenn Sie angesprochen werden, natürlich ohne aufzuschauen. Vor allem, wenn Sie zur Adipositas neigen, ist ein Dasein als Smartphonezombie bei der Essensaufnahme geradezu ein Segen: Denn jeder Tweet, den Sie tippen, jeder Facebook-Kommentar, den Sie hinterlassen, hält Sie nun mal von der Kalorienaufnahme ab. Smartphonezombies sind nachgewiesenermaßen um 30 Prozent schlanker als der Bevölkerungsdurchschnitt. Denken Sie mal darüber nach!
3. Treten Sie in die zweite Entwicklungsphase ein und nutzen Sie ihr Gadget in der Öffentlichkeit, am besten in Großstädten und – das ist das Wichtigste überhaupt! – während Sie sich fortbewegen. Zu Fuß ist gut für Anfänger, zu Rad für Fortgeschrittene und am Steuer eines Autos auf der sechsspurigen, von Dauerbaustellen zerschredderten Bundesautobahn meisterlich.
4. Wo immer Sie auch sind, was immer Sie auch tun, wer immer zugegen ist: Konzentrieren Sie sich ganz und gar auf ihren kleinen Screen, starren Sie drauf, ignorieren Sie komplett Ihre Umwelt. Aber: Bleiben Sie niemals stehen, bremsen Sie nicht, bewegen Sie sich weiter, immer weiter – das ist der entscheidende Punkt! Karriolen Sie also irre durch die Stadt, taumeln Sie passantengefährdend über den Bürgersteig, eiern Sie raumgreifend über Radwege, befahren Sie jede beliebige BAB in die Gegenrichtung, dafür aber unbedingt in Schlangenlinien – und starren Sie dabei un-a-b-l-ä-s-s-i-g auf den Bildschirm Ihres Mobile Device. Nicht hochschauen! Nicht ablenken lassen! Auch nicht von der Polizei, die Sie möglicherweise anhält – die starrt ja selbst irgendwo rein, um Ihre Daten abzurufen.
5. Zucken Sie nur kurz zusammen, wenn Sie mit jemand zusammenkrachen, aber überlassen Sie es dem Unhold, sich zu entschuldigen. Schließlich ist er der Blöde; er hat Sie ja gesehen und Sie ihn nicht. Das ist nämlich das Tolle, wenn Sie sich als Smartphonezombie etabliert haben: Sie sind damit die komplette Verantwortung für die Folgen Ihrer öffentlichen Anwesenheit los. Im Kleingedruckten der AGB Ihrer Gadgethersteller ist genau geregelt, dass Sie mit der Nutzung der Geräte die Verantwortung für alle Folgen kollektiv an jene übertragen, die solche Geräte noch nicht in der vorgesehenen Weise nutzen. Diese retardierten Hinterwäldler sind jetzt für Sie mitverantwortlich, wie eine Art Vormund – und zwar so lange, bis sie selbst zu Smartphonezombies geworden sind. Aber mal ehrlich: Wer das bis jetzt noch nicht geschafft hat, wird es wahrscheinlich nie mehr schaffen. Im Gegensatz zu Ihnen.
6. Verfluchen Sie ruhig innerlich den Laternenmast, der nicht ausgewichen ist, obwohl Sie gesenkten Kopfes einhermäanderten, doch lassen Sie sich von der blutenden Beule an Ihrer Stirn nicht von Ihrem neuen Lebensentwurf abhalten. Sonst werden Sie niemals ein Smartphonezombie von Weltklasse, und das kann keiner wollen.
7. Hauchen Sie auf der Trage im Rettungswagen mit letztem Atem: „Wo ist mein iPhone? Geht es ihm gut?“ Und wenn der Notarzt wortlos den Kopf schüttelt, dürfen Sie loslassen. Zu überleben hätte jetzt eh keinen Sinn mehr.
8. Sorgen Sie aber vorher unbedingt noch für einen riesigen Vorrat an aufgeladenen Lithium-Ionen-Akkus an einem geheimen Ort, den nur Sie kennen. Denn die Smartphonezombieapokalypse wird kommen, das ist so sicher wie das iPhone 7. Und dann werden Sie ganz vorne dabei sein.
Wir „sehen“ uns.
Wir „sehen“ uns.
Foto: Apple
30 Mai 2015
Fundstücke (203)
Außergewöhnlich sinnvolle Selfiestickvariante – entdeckt an einer Hauswand in der Großen Freiheit, St. Pauli.
19 Mai 2015
Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (96)
Eichhörnchen in Planten un Blomen.
Der kleine Kerl hat neben Nüssen allem Anschein nach auch eine professionell gedrehte Tüte stibitzt (rechts unten).
Auf St. Pauli sind eben auch die Eichhörnchen clever.
13 Mai 2015
Aller schlechten Dinge sind sieben
Fahrraddiebstahl Nummer sieben. Statistisch etwas verfrüht, denn ich hatte das Rad erst seit 18 Monaten, und im Schnitt wird es mir immer erst nach ungefähr zweieinhalb Jahren entwendet.
Als ich heute Morgen meine geliebte Gazelle vom Laternenmast losschnallen wollte, fand ich jedenfalls nur noch das durchschnittene Kettenschloss vor. Achtlos war es auf dem Gehweg zurückgelassen worden.
So weit, so üblich, doch etwas war anders, etwas Irritierendes: Auch der Fahrradständer lag dort, mit einem sauberen Schnitt durchtrennt. Warum schneidet jemand, der ein Rad stiehlt, den Ständer ab und legt ihn neben das Schloss? Was möchte mir der Dieb damit sagen? Ist das so etwas wie eine Kastrationsfantasie? Oder gar -androhung?
Das steht ernsthaft zu befürchten. Wahrscheinlich muss ich umziehen, um diesem Schicksal zu entgehen. Denn was bitte soll man ausgerechnet in St. Pauli anfangen ohne Ständer?
Wer das abgebildete Fahrrad irgendwo herumstehen sieht, und sei es in Polen oder Portugal: bitte melden.
12 Mai 2015
05 Mai 2015
Nürnberg und die Folgen
Durchaus mit vorwurfsvollem Unterton informierte ich gestern den Franken darüber, dass ich nach nur drei Tagen Aufenthalt im fränkischen Nürnberg ein ganzes Kilo mehr auf die Waage bringe.
„Wahrscheinlich warst du einfach noch nicht aufm Klo“, versucht er sich und seine Ethnie zu rechtfertigen. „Also bitte“, antworte ich, „über solche Werte informiere ich immer nur inflationsbereinigt.“
Nein, meine Theorie geht eher von einer spezifisch fränkischen Kalorienausstattung sämtlicher oral zuführbarer Dinge aus. Nehmen wir die Kässpätzle, welche ich arglos in einem Restaurant namens Nürnberger Alm orderte: Nicht nur handelte es sich dabei um einen schier monströsen Berg Kulinarik, der mir beinah die Sicht auf Ms. Columbo versperrte, auch die verschwenderische Üppigkeit, mit der die unschuldigen Nudeln käsekontaminiert waren, ließ mich vor Schreck erst mal am Alm-Schwarzen nippen.
Apropos Alm-Schwarzes: Bier serviert man drunten an der Pegnitz generell in Mindestgrößen, die hier in Hamburg bereits das obere Ende der Fahnenstange bilden. Und wagte es ein Schankwirt, dem Gast Frankenwein in einer Abgabemenge von lediglich 200 Milliliter (-> das Wort sieht übrigens recht lustig aus) zu offerieren, so bewürfe der ihn umstandslos mit Bocksbeuteln.
Nein, ein Viertele muss es generell sein, und die gewöhnlich ausschankdiensthabende Fränkin würde den Teufel tun und trotz alledem den Eichstrich nicht deutlich überschreiten. Alles hier in Nürnberg nämlich ist voller, dicker, breiter, höher, gehäufter als in hanseatischen Breiten – nur am Ende sympathischerweise die Rechnung nicht.
Unter diesen Umweltbedingungen wäre es kaum verwunderlich, wenn das hier seine Tage und Jahre fristende Frankenvolk kurzatmig, teigig und adipös durch die Stadt walzte, kaum mehr fähig, die Kaiserburg zu ersteigen, weshalb es sich lieber in Lokalen wie der Nürnberger Alm ächzend hinter die Holzbänke zwängen und erst mal eine Portion Kässspätzle vertilgen müsste, was das Ersteigen der Kaiserburg erst recht in eine ungewisse Zukunft vertagte.
Doch so voluminös wie vermutet greift der Nürnberger Franke gar nicht Raum. Natürlich: Eine gewisse Stämmigkeit, ein pralles Ausfüllen der durchweg geschmacklosen Kleidung ist in der Altstadt, die hauptsächlich Gegenstand unserer Feldforschungen war, keineswegs zu leugnen. Am anatomischen Extremismus mancher US-amerikanischen Vorbilder indes orientiert sich der durchschnittliche Frankenkörper noch immer nur eher vage.
Wie also vermeidet er es, binnen drei Tagen ein Kilo zuzulegen, im Jahr also ungefähr hundert? Ich weiß es nicht, und der Hamburger Franke („Wie: Ihr habt nicht mal Nürnberger Rostbratwürste gegessen? Ihr Vegetarier!“) erst recht nicht.
Die gewisse Bequemlichkeit der Bevölkerung hinsichtlich aller Bewegungsabläufe manifestiert sich übrigens auch in den Graffiti, wie das Bild oben beweist. Statt selbst etwas irgendwohin zu pinseln, streicht der pfiffige Nürnberger lieber (hinter)sinnigerweise etwas weg.
Herauskommt Sozialkritik auf Fränkisch. Und danach erst mal ein Berg Kässpätzle. Oder ein paar Rostbratwürste im Weckla.
29 April 2015
Sie lässt mich einfach nicht ran
Fitnessstudio am Rödingsmarkt. Die Dame am Rückengerät, wo ich gerne meine nächsten Übungen durchführen würde, macht schon seit mehreren Minuten keinerlei Anstalten, ihren Platz zu räumen, obwohl sie ihn nur noch zum Ausruhen nutzt. Und zum Simsen.
Ich überbrücke das Warten mit Dehnen in ihrem Sichtfeld und trage eine düster umwölkte Stirn zur Schau, welche von der Rückengerätblockiererin eigentlich als sanftes Drängeln gedeutet werden müsste. Indes vergebens. Die Dame bleibt sitzen.
Nach weiteren drei bis vier zähen Minuten – inzwischen bin ich gedehnt bis zum Ohrläppchen – reicht es mir. Ich gehe hinüber – und stutze kurz vorm Erreichen des Showdownareals. Mir ist nämlich auf einmal nicht mehr ganz klar, mit welchen wohlgesetzten Worten ich ihr mein Anliegen denn nun eigentlich verklickern soll.
„Können Sie mich kurz ranlassen?“ klingt irgendwie deutlich verfänglicher, als es gemeint ist. „Darf ich mal dazwischen?“ hat einen geradezu obszönen Beiklang. Und ein „Lassen Sie mich mal ans Gerät?“ schließt angesichts ihrer Oberweitenausstattung einen unfreiwilligen Nebensinn zumindest nicht vollends aus.
Das Problem ist verzwickt. Ja, es erscheint mir sogar in dieser durchgegenderten Welt voller Sprech- und Tretminen hier und jetzt nicht ohne weiteres lösbar.
Aber die Brustpresse ist ja auch ein nützliches Gerät, und nach dem Fotografieren des wunderhübsch zerfurchten Balancekissens geht zum Glück auch schon der Bauchkurs los.
20 April 2015
Pareidolie (104)
Meine Wolfsburger Lieblingsnichte Judith (9) führte mich am Wochenende zu einer Pareidolie, die sie an einem Bretterzaun entdeckt hatte – und die ehrlich gesagt alles schlägt, was diesbezüglich bisher hier im Blog veröffentlicht worden ist.
Hiermit ernenne ich sie demzufolge zu meiner offiziellen Pareidoliebeauftragten für ganz Niedersachsen. Zumal sie die Vokabel „Pareidolie“ bereits in ihren aktiven Wortschatz überführt hat.
Damit hat sie ihren Lehrern mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas voraus.
17 April 2015
Die Brötchenbetatscherin
Kiezbäcker, morgens um 9. Hinter mir die Schlange ist genervt, denn ich bin ein wenig eigen.
Sie möge doch bitte die Brötchen nicht mit den ungeschützten Händen anfassen, mahne ich die Verkäuferin, das fände ich unhygienisch. Habe sie doch gar nicht, protestiert sie. Doch, widerspreche ich, mit eigenen Augen hätte ich es gesehen – und nur deshalb überhaupt die Notwendigkeit zur Intervention verspürt und sodann auch umgesetzt.
Dann solle ich bloß nicht in die Backstube schauen, verteidigt sie sich verschnupft, denn dort wühle man unablässig tagein, tagaus mit bloßen Händen im Teig. Mag sein, kontere ich, doch hätten die fraglichen Hände wohl kaum vor ihrer Teigwühlarbeit unzählige klebrige Biotopenbesiedlungsgebiete namens Euroscheine angefasst und direkt danach dann distanzlos verzehrfertige Brötchen eingetütet.
Es geht hin und her zwischen mir und der Verkäuferin, und plötzlich sagt der Mensch hinter mir in der Schlange, Typ fusselbärtiger Mittzwanzigerhipster aus dem Schanzenviertel: „Ich nehme die Brötchen. Die können Sie ruhig anfassen. Mir macht das nichts.“
So, meine Damen und Herren, kann ich nicht arbeiten.
Statt mir im Dienst des Überlebens der Menschheit hygienetechnisch den Rücken zu stärken, riskiert der Schanzenfusselbart eine Erhöhung der durchschnittlichen deutschen Mortalitätsrate, nur um cooler zu wirken als ich.
Der Typ will mich eindeutig als Spießer dastehen lassen, und das gelingt ihm auch, zumindest in den Augen der genervten Schlange und der innerlich augenrollenden Kiezbäckerverkäuferin.
Doch wie auch immer: Da muss man durch als geistiger Bruder Jerry Seinfelds. Und am Ende kriege ich meine etepetete mit der Zange herausgeklaubten unkontaminierten Brötchen und sehe ihn, den Hipster, vorm geistigen Auge auf dem Sterbebett pickelgesichtig Blut husten.
Zu Hause stärkt mir Ms. Columbo, die eins der Brötchen immerhin inkorporieren muss, argumentativ den Rücken. Und alles andere ist auch völlig unwichtig, dass das mal klar ist.
PS: Das Foto zeigt in Ermangelung einer treffsichereren Illustration nicht die Fassade des Kiezbäckers, sondern irgendeines Standesgenossen aus Eppendorf.
08 April 2015
01 April 2015
Ein langer Weg nach Hause
Seinen Gangnachbarn im Bus kann man sich leider nicht aussuchen.
Mir wies das sich ins Fäustchen prustende Schicksal ein kugelförmiges Exemplar männlichen Zuschnitts zu, welches mir die Fahrt über die Alpen mit allerlei Eigenheiten bereichern sollte. Und ich meine damit nicht nur den Anblick seines Wolf-Biermann-artigen Schnauzers.
Denn der ungefähr 60-jährige Mann neigte auch noch …
a) … zum baldigen Öffnen seiner Cargohose, da sie im Sitzen anscheinend den raumgreifenden Freiheitsdrang seines Kugelbauches auf quälende Weise einhegte
b) … zu olfaktorisch fragwürdiger Sockenlosigkeit, was er alsbald durchs Entledigen seiner Schuhe und der Präsentation von jedweder Pediküre unbehelligter nackter Fleischklumpen mit gelbbraunen Nägel vornedran gerichtsfest unter Beweis stellte
c) … zu einem röchelartigen Schnarchschlaf, dessen tieffrequentes Chrrrr sich durch meine Ohrhörer fräste wie der Tunnelbohrer Bärlinde durch den Hauptstadtuntergrund
d) … zu einem periodischen schleimsatten Husten mit ergiebigem Auswurf, den er sich dann ächzend von Kinn und Hals wischte.
Nach einer Raststättenpause kehrte ich vor ihm zurück und sah, was auf seinem Sitz lag: ein etwa halber Meter langer metallener Schuhlöffel, dessen Biografie ich mir lieber nicht ausmalen möchte. Gerade als ich dieses … Ding … fotografieren wollte, kam der Mann angewackelt, und ich verriss nervös die Kamera. Das Ergebnis sehen Sie oben.
Bestimmt habe ich noch gar nicht erwähnt, dass die Busfahrt zwölf Stunden dauerte. Oder dass ich jede Sekunde davon persönlich kenne.
28 März 2015
Danke für nichts, Rabat!
Jene steinernen Häuser, welche das Gassengewirr der Kasbah von Rabat bilden, sind oben weiß und am Sockel blau getüncht. Und dieses Blau protzt mit einem derartig saftigvollen Leuchten, dass der Himmel über der Stadt unablässig die Konkurrenz verfluchen dürfte.
Mitten im Gewirr der Treppchen, Plätzchen und Schlängelgänge plötzlich etwas Lebensnotwendiges: eine öffentliche Toilette. Sie wird bewacht von einem jungen Mann, der den Zutritt restriktiv regelt und für die Vielzahl der Aufgaben, die der Betrieb einer öffentlichen Toilette mitten in der Rabater Kasbah naturgemäß mit sich bringt, einen Obolus erwartet.
Als ich dran bin und endlich eine der beiden geschlechtsübergreifenden Kabinen betreten darf, überkommen mich allerdings schnell Zweifel an seiner Kernkompetenz. Die Toilette ist ein Trümmerhaufen, die Brille ruht separiert von der Keramik arbeitslos in der Ecke, und die Sauberkeitsdefinition des Toilettenburschen scheint zudem nicht unbeträchtlich abzuweichen von meiner. Habe ich schon erwähnt, dass nirgendwo Klopapier zu sehen ist?
Von den beiden Waschbecken vor dieser kaum funktionstüchtigen Toilettenkabine ist nur eins im Betrieb – und das gerade belegt. Eine deutsche Touristin hat sich beim Gang durch die Kasbah von einer der zahlreichen mit Spritzen bewaffneten Hennadamen zur Verzierung ihrer Hände hinreißen lassen und sich anschließend durch unbedachte Bewegungen Jacke, Hemd und Hose beschmiert.
Jetzt rubbelt sie das Zeug wütend wieder ab, doch Henna ist, wenn es erst einmal Hautkontakt aufgenommen hat, recht hartnäckig. Dort, wo die Frau die gröbsten Schlieren abgewaschen hat, sehen ihre Hände aus, als wäre beim Nachspielen von „50 Shades of Grey“ etwas schrecklich schiefgegangen.
„Na das war wohl eine Fehlinvestition“, versuche ich Trost und Mitgefühl zu simulieren. Sie grummelt irgendwas und schubbert verbissen weiter. Das einzige funktionsfähige Waschbecken der öffentlichen Toilette der Rabater Kasbah bleibt also dank der Hennahennen erst mal unzugänglich. Derweil lehnt der Kloboy vorn am Eingang weiterhin gelangweilt am Rahmen und gewährt dem Nächsten Zugang, sobald jemand mit entsetztem Gesicht aus der Kabine taumelt.
Trotz alledem will der Bursche natürlich Geld – für nichts. Nach der Zusammenlegung unserer beiden Länder (s. Blogeintrag von gestern) muss das Toilettenaufsichtswesen in den Südprovinzen dringend neu geregelt werden. Klar, man sollte dort auch Arbeitslosengeld und so was einführen.
Aber bitte erst danach.
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