Gestern in der Redaktion sitze ich bei offenem Fenster im T-Shirt am Rechner und lasse mir von meinem nagelneuen USB-Ventilator Kühlung zublasen. Ich meine: Es ist fast November! Das geht doch nicht. Alles gerät aus den Fugen.
Auch abends. Wir sind bei Freunden zum Essen, in Bahrenfeld. Die S-Bahnlinie 1 verbindet die Station Reeperbahn mit diesem westlichen Stadtteil. Abends fahren die Züge nicht mehr so oft. Als wir gegen 23.15 Uhr den Bahnsteig betreten, müssen wir uns auf 15 Minuten Wartezeit in klarer Oktoberkälte einstellen.
Dass es am Ende fast 45 werden, liegt nicht an der Bahn. Sondern an einem besoffenen 18-Jährigen, der beschließt, auf die Gleise hinabzusteigen und über die Schwellen ins Dunkel hinauszustolpern. Wir kriegen es nicht live mit, sondern nur das, was dann passiert: nämlich die Reaktion seines nüchternen Kumpels, der hinterherspringt und nach einer Weile erfolglos und panisch zurückkehrt (Ankunft der Bahn: in 12 Minuten), den Notrufknopf drückt und adrenalingepeitscht mit einer reservierten Dame am anderen Ende verhandelt, während wir ihm soufflieren, wie die Richtung heißt, in die der Unzurechnungsfähige entschwunden ist. Ein weiterer wartender Fahrgast ruft derweil die Polizei. Ankunft der Bahn: in acht Minuten.
Der just eingefahrene Zug auf dem Gegengleis bleibt vorsorglich stehen, man weiß ja nicht, wo der verschwundene Verwirrte hintaumelt. Bald herrscht richtig Betrieb auf dem Bahnsteig. Ratlos stehen Menschen herum, verärgert, besorgt. Der panische Kumpel will nicht auf die Einsatzkräfte warten und springt erneut auf die Gleise, um seinen Freund zu retten. Und wirklich: Zwei Minuten später hat er ihn am Schlafittchen und schleppt ihn hoch. „Alles deine Schuld!“ schreit er ihn an, „deine Mutter wird dich verprügeln!“
Und jetzt kommen sie alle binnen weniger Minuten an, die Blau- und die Grünhemden, die Streifenpolizisten und die Kripo, die S-Bahn-Exekutive, und alle umringen die Jungs, es wird unübersichtlich. Längst ruht der komplette Fahrbetrieb, auf der Anzeige steht gar keine Zeitangabe mehr. Ankunft der Bahn: irgendwann.
Der Verursacher steht stumpf und schwankend da, die Fäuste tief in die Taschen gestemmt, und ihm dämmert, dass er ein Problem hat. Was er da unten gewollt habe, im Dunkeln auf den Gleisen? Er weiß es nicht mehr. Er wollte einfach weg. Seine Ruhe haben. Er ist 18, wohnt alleine, und Mama sitzt in Harburg. Ob sie ihn abholen kann? „Sie kriegt Sozialhilfe“, murmelt er verwaschen, und für ihn scheint das die Antwort auf die Frage zu sein.
Die Polizei befragt Zeugen, es geht darum, wer alles Schuld hat an diesem Schlamassel. Darum, ob der kleine Retter mitbelangt werden muss oder seine Aktion legitim war – das wird noch richtig wichtig, denn es geht um viel Geld. Die Einsätze der Rettungskräfte wollen bezahlt sein, das komplette Lahmliegen der S1 zwischen Wedel und Poppenbüttel verursacht ebenfalls finanzielle Schäden.
„Deine Mutter“, ruft der Kleine wieder voller Zorn und Resignation, „wird dich verprügeln!“ Er sitzt jetzt zerschlagen auf der Drahtbank. Der Gerettete bittet ihn stumm um eine Kippe, und er reicht sie ihm mit müder Geste. Neben ihnen sitzt ein weiterer Freund wie tot auf der Bank, sein Kopf hängt zwischen den Knien, er ist derartig voll, dass man ihm morgen alles über diese Scheißnacht erzählen muss. Sofern er dann schon wieder aufnahmefähig ist.
Ah, seliges Teenagerleben.
Auf unserer Heimfahrt – nach rund 45 Minuten – sah es dann übrigens draußen ungefähr so aus wie auf dem heutigen Foto.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Rockin' chair“, „It makes no difference“ und „Tears of rage“, alle von The Band (die monothematische Auswahl liegt an einem Band-Sampler, den ich mir gestern Nacht zusammenstellte).
Sie haben einen neuen Fan. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, daß es schon ein Opa ist.
AntwortenLöschenWarum sollte es? ;-)
AntwortenLöschenIch finde nur Ihr Pseudonym etwas merkwürdig. Ein Buchstabe ausgetauscht, und schon werden sie zum "Neo-Nazi".
Das muss doch nicht sein.
ja, eins a die geschichte!
AntwortenLöschenDoch, das muß, weil es stimmt. In meinem halbjährigen blog life bin ich nur zweimal derart verwexelt worden und nur bei Kommentaren in fremden blogs. Damit kann ich leben.
AntwortenLöschenAuch mein Daumen geht lobesbekräftigend steil nach oben. :)
AntwortenLöschenAber: Bahrenfeld ist kein Vorort! Sondern direkt am Rande der Altonaer Innenstadt gelegen. Und falls die S-Bahn unzuverlässig ist, fahren auch drei Buslinien zu akzeptablen Zeiten in Richtung Reeperbahn-Rückseite...
AntwortenLöschenBahrenfeld ist grauenhaft. Da ändert (gerade!) eine vernünftige S-Bahnverbindung nichts! Busse sind ja sowieso indiskutabel und haben nur deswegen so große Fenster, damit die Demütigung der Mitreisenden perfekt ist. ;-)
AntwortenLöschen