28 Mai 2007

Rechtzeitig zum G-8-Gipfel: Blogger helfen Schäuble!

Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble hält die Empörung über seine neuesten Maßnahmen (Hunde, die dich beschnüffeln; Hacken privater Rechner; heimliches Öffnen persönlicher Post ohne konkreten Verdacht etc.) für „hysterisch“, und natürlich hat er Recht, er ist ja unser Innenminister.

Das Volk, das ihn gewählt hat, verhält sich in der Tat recht störrisch; eine systematische Schäubleunterstützung ist leider noch nirgendwo erkennbar. Das muss sich ändern.

Deshalb rufe ich diesmal – nach den beiden Aktionen „Blogger helfen BILD“ (1, 2) – zur brutalstmöglichen Kooperation mit Schäuble auf. Er und seine Generalbundesanwältin Monika Harms interessieren sich ja besonders für unsere Kommunikation, und auf diesem Feld kann jeder von uns einen wertvollen staatsbürgerlichen Beitrag leisten.

Im Rahmen der Aktion „Blogger helfen Schäuble“ frage ich daher alle Einwohner Deutschlands: Wäre es nicht sinnvoll, jedwede Mail in Kopie auch an Schäuble und sein Ministerium zu schicken? Die Adressen lauten wolfgang.schaeuble@bundestag.de und poststelle@bmi.bund.de.

Wenn ich jedwede sage, meine ich übrigens in der Tat jedwede, also auch und gerade Sachen wie diese: „Schatz, komme heute später, denk DU bitte an die Runkelrüben.“ Denn mal ehrlich: Wer von uns kann schon beurteilen, was für Schäuble und somit das Wohl Deutschlands wirklich wichtig ist? Na also.

Diese gesamtdeutsche Aktion hätte mehrere große Vorzüge: Zum einen bräuchten Schäuble und Harms keine Hacker und Postkontrolleure mehr; das sparte Steuergelder und brächte Datenschützer zum Schweigen. Zum andern müssten die beiden nicht gegen die Verfassung verstoßen, was ihnen,
als Verfassungsschützer, ja jedesmal recht unangenehm sein muss.

Ihnen lägen bei einem Erfolg der Aktion „Blogger helfen Schäuble“ nämlich auf einen Schlag komplett alle verschickten Mails vor, was die Datenlage zum Wohle Deutschlands explosionsartig verbesserte – denn es sind Abermillionen Mails jeden Tag, oja, oje.

Ihr werdet natürlich jetzt einwenden, die Bearbeitung dieser tsunamihaften Textmassen verschlänge doch erheblich mehr Mittel, als die Freisetzung der Schäuble’schen Hunde, Hacker und Postfilzer einsparen würde, da doch hunderttausende tapferer Männer und Frauen für die unermüdliche Lektüre abgestellt werden müssten.

Na und – wenn’s der Wahrheitsfindung dient?

Wer übrigens seine Mutter nicht mit der Erkenntnis behelligen möchte, dass die Mail, die sie gerade liest, parallel auch Dr. Schäuble vorliegt, der könnte die Ministeradressen auch ins unsichtbare BCC-Feld setzen. Denn unterm staatsbürgerlichen Engagement muss das Taktgefühl ja nicht leiden.

All jene aber, die freimütig dazu stünden, den Innenminister bei seiner schweren Arbeit zu unterstützen, müssten auch mit offenen Karten spielen. Lösung: ein Disclaimer am Ende der Mail.

Er sollte alle Adressaten – also deine Mama und Schäuble – über die CC-Maßnahme informieren, zum Beispiel so:

„Zur Information: Diese Mail geht in Kopie auch an Dr. Wolfgang Schäuble und das Bundesministerium des Innern, um sie in ihrem Dienst am deutschen Volk in optimaler Weise zu unterstützen. Ich zähle fest auf dein Verständnis. Es geht um so viel. Näheres unter
http://www.mattwagner.de/2007/05/rechtzeitig-zum-g8-gipfel-blogger.htm.

PS: Selbstverständlich bin ich bereits mit gutem Beispiel vorangegangen.

PPS: Vom heutigen Fotomotiv muss sich jeder an der Aktion „Blogger helfen Schäuble“ Beteiligte natürlich scharf distanzieren. Ich zuallererst.

PPPS: Im Shirtshop gibt es zu diesem ganzen Themenkomplex neue Motive – und es werden noch mehr.

27 Mai 2007

Letzte Geheimnisse: Das Herrenklo (5)

Einiges wird sich auch in der 2. Liga im Stadion des FC St. Pauli nicht ändern. Zum Beispiel das konsequent durchgezogene Containerprinzip.

Das Pressezentrum: ein Container. Die Toiletten: ebenfalls Container, natürlich nach Geschlechtern getrennt.

Gästefans werden sich also an einiges gewöhnen müssen. Auch an Klosprüche wie den abgebildeten, den ich am Freitag an der Wand des Herrenklocontainers entdeckte.

In ihm steckt so etwas wie die politische Essenz des klassischen St.Pauli-Fans: Er ist durch und durch antifaschistisch, möchte diese Einstellung aber selbst gegen Rechte möglichst nicht mit einfacher körperlicher Gewalt durchsetzen. Also gibt er allen Nazis einfach einen gut gemeinten Rat, den sie doch bitte tunlichst selbst in die Tat umsetzen sollen: „Geht sterben.“

So ist der klassische St.Pauli-Fan: konsequent meinungsstark, doch immer bereit zur Deeskalation.

Die 2. Liga darf sich freuen auf uns.

26 Mai 2007

Der Tag nach der Nacht nach dem Aufstieg

„Ein 2:2, das reicht für Liga zwei
Nie mehr, nie mehr Liga drei!
Gar noch höher soll’s bald gehen,
bis Liga eins – und sei's mit Wehen!”


Wenn ich den Satz, den ich gerade anfange zu schreiben, sprechen sollte, klänge das ungefähr nach „Wnn ch dn Stz, dn ch grde nfönge zu schrbn, sprchn slltö …“ oder so ähnlich, jedenfalls käme ein ziemlich tieffrequentes, vokalarmes Krächzen dabei raus.

Zunächst nämlich verlor ich gestern Abend im Stadion die erste Hälfte meiner Stimme beim Runterbrüllen von „You’ll never walk alone“ und „Niemand siegt am Millerntooooor!“ und die andere Hälfte dann nachts im Drafthouse beim Versuch, mich gegen den Höllenlärm der fantastischen Hausband zu verständigen.

Als ich noch mit dem üblichen Bariton reden konnte – also vorm Spiel –, waren indes auch schon Ausfälle aufgetreten, allerdings eher geistiger Art. Nach einer verwirrenden Diskussion mit dem Franken am Imbissstand orderte ich „Zwei Thüringer mit Bratwurst, bitte“, was die Frau hinterm Tresen zu einer Nachfrage und den Franken zum hämischen Grölen bewog.

Wenn ich es recht bedenke, gab es auch nachmittags im Transmontana am Schulterblatt bereits Probleme im Dienstleistungsbereich. Ich verließ den Laden nämlich voll beladen, doch ohne zu bezahlen, und wunderte mich noch, warum mir die Barportugiesin so seltsam hinterherblickte.

Draußen fiel mir mein zechprellendes Gebaren auf, ich ging zurück und sagte: „Ich habe ja noch gar nicht bezahlt!“, und sie sagte: „Ganz genau!“, und zwar unverhohlen vorwurfsvoll. Aber vorher nur seltsam gucken, klar.

Drei Tische weiter von uns saß übrigens Michel Friedman, zusammen mit einem unstandesgemäßen Typen, der eine schwarze Lederkappe trug und wie ein obdachloser Schanzenhippie wirkte. Doch auch Friedman war nicht völlig korrekt gekleidet; über seinem (immerhin schneeweißen) Oberhemd fehlte das Jackett.

German Psycho, der Friedman vor allem aus ästhetischen Gründen heillos bewundert („Er ist wahrscheinlich schon Mitte 50, aber wir müssen es beide zugeben: Er sieht jünger aus als wir!“), schnürte um seinen Tisch herum und bewunderte Friedmans feine Schuhe, fand aber nicht den richtigen Ansatz, den Mann dafür angemessen zu loben.

GP war auch nachts im Drafthouse dabei, als mir allmählich auch physisch die Lage entglitt. Da brüllt er dir was Unverständliches ins Ohr; du fragst dreimal nach, und am Ende entpuppt sich sein Gebrüll als simple Frage nach dem just zu hörenden Song: „IST DAS SLADE?“ Ich brülle korrigierend: „NEIN, AC/DC!“, nur um eine Halbsekunde später festzustellen, es ist doch Slade, und GP zuzubrüllen: „NEIN, ES IST DOCH SLADE!“

Wegen solcher Dinge sind Nächte wie diese für mich letztlich immer mit einer Hypothek belastet. Ausgerechnet bei „Summer of 69“ wurde ich kurz darauf von Terroristen aus meinem unmittelbaren Umfeld am Kragen des St.Pauli-T-Shirts gepackt und umstandslos auf die Tanzfläche gezerrt. Dort musste ich heftig hüpfen, wobei mir völlig zu Recht die Digitalkamera aus der Hosentasche flog und lautlos auf dem Boden zerschellte.

Na ja, immerhin hätte ich sonst diese ganzen Frauen nicht kennengelernt, die extra ihre ungleich geschmeidigeren Tanzaktivitäten unterbrachen und mir nacheinander die malträtierte Kamera, den Akku und die abgerissene Klappe des SIM-Schachtes reichten. Komischerweise funktioniert der Apparat seit dem Zusammenpuzzlen wieder tadellos.

Das Erste übrigens, was mir heute Morgen nach dem Aufwachen zustieß, war ein Wadenkrampf. Einer von den O-Säften letzte Nacht war wohl schlecht.

Nie mehr dritte Liga, nie mehr!



Warum habe ich nur das dumpfe Gefühl, die Aufstiegsparty heute Nacht auf dem Kiez könnte – im Sinne des Kyoto-Protokolls – nicht völlig klimaneutral über die Bühne gegangen sein?

25 Mai 2007

Dylan und die toten Präsidenten

Ups, ich habe gestern glatt vergessen, meinem Lieblingskünstler Bob Dylan öffentlich zum 66. Geburtstag zu gratulieren … Deshalb jetzt ein Beitrag zur Wiedergutmachung.

Das Jubiläum von Dylans Wiegenfest fiel zusammen mit der erneuten barbarischen Tötung eines Gefangenen durch US-Behörden in Ohio – und in dieser Parallelität steckt eine niederschmetternde Widersprüchlichkeit: Dieses Land, die USA, brachte die Menschenrechtserklärung und Künstler wie Dylan hervor, und zugleich tritt es bis heute die Menschenrechte reinen christlichen Gewissens mit Füßen.

Dazu passt Dylans Song über ein Justizopfer in der Todeszelle. Er heißt „Hurricane“, und darin weint Scarlet Riveras tragische Geige voller Wehmut um die verlorenen Ideale George Washingtons.

Dylan selbst reagiert heute – wenn überhaupt – mit lakonischem Sarkasmus auf die unheilbaren Wunden seiner Nation. Zumindest meine ich das aus einer launigen Bemerkung rückschließen zu können, mit der er unlängst in seiner Radioshow die Stadt Dallas charakterisierte.

„Dallas, Texas“, witzelte er, „where they shoot presidents and shoot people who shot presidents …"

Okay, here comes the story of the Hurricane:

24 Mai 2007

Hier alle Infos zum „Public Viewing“ St. Pauli gegen Dynamo Dresden!



Ja, kommt alle vorbei, die ihr mühselig und beladen seid – oder dir ihr Informationen über das morgen Abend stattfindende „public viewing“ auf dem Spielbudenplatz sucht.

(Ich konnte mit dem Wissen nicht mehr leben, dass die unzähligen „public viewing“-Googler frohgemut hier landen und dann wieder frustriert davonschlurfen müssen. Deshalb.)

Heute blau

Wir hatten mal ein ältliches Paar im Haus, das kam oft spätnachts vom Kiezbummel zurück und brauchte zehn Minuten für drei Stockwerke. Dabei sang es im Treppenhaus.

„Hoide wlau un moijen wlau und üwermoijen wieda!“ So informierten die beiden uns Nachbarn über ihr Ideal von Freizeitgestaltung.

Inzwischen sind sie ausgezogen. Manchmal treffe ich die Frau – eine blondierte Mittfünfzigerin mit zuviel Kajal um die Augen, als dass es nicht nach Verzweiflung röche – an der Bushaltestelle. Dann höre ich sofort ihr Lied wieder vorm inneren Ohr: „… hoide wlau …


Davon ahnt sie nichts in ihrer verhärmten Ernsthaftigkeit, mit der sie auf den Bus wartet, denn sie erkennt mich nie. Ich habe einfach ein Durchschnittsgesicht, das ist das Problem.

Oder die Gnade.

22 Mai 2007

Nur nicht drüber reden

Fußballcontent und kein Ende: Bloggerkollege Poodle hat zurzeit in Stuttgart das ernste Problem, von Meisterschaftswahnsinnigen umgeben zu sein.

Seine nicht ganz unwütende Beschreibung akuter schwäbischer Feierei gibt vielleicht einen kleinen Vorgeschmack auf das, was am kommenden Freitag hier auf dem Kiez geschehen könnte:

Sie ahnen ja nicht, wie unerträglich es geworden ist in dieser Stadt. Stellen Sie sich eine Million oszillierender Pappnasen vor, und zwar von der allerstrunzdümmsten Art – haben Sie das? Jetzt malen Sie sich bitte noch aus, wie die alle schweißgebadet auf einem Haufen stehen und mit hochrotem Kopf und heiserer Stimme fortgesetzt Beteuerungen ihrer Überlegenheit in den Himmel brüllen. Die ganze Million, alle auf einmal. Um sie herum ein Verhau, den als Müllkippe zu bezeichnen hieße, ihm zu schmeicheln – ground zero würde es besser treffen.

Und angeführt wird der ganze Pulk vom brutalstdrögen OB Dr. Schusterle und dem geschichtsklitternden Burschenschaftler Dr. Oettingerle – beide kurz vor dem Überschnappen, als ob jedes Atom des Erfolgs ausschließlich auf ihrem Mist gediehen wäre. Das ist alles so schrecklich, da darf man gar nicht mehr drüber reden, man darf einfach nicht.
Also schweigen auch wir hinfort davon. Und hoffen, hier auf St. Pauli möge es anders zugehen. Nein: Ich bin mir sogar sicher.

Denn mal ehrlich: ein Gefühl der Überlegenheit, auf St. Pauli? Nein, so was passt überhaupt nicht ins Viertel, das kriegt hier kein Asyl.


Foto: Mittelbayerische Zeitung

21 Mai 2007

Warum das Nationalteam gegen den FC St. Pauli keine Chance hat

Jetzt ist es also wirklich wahr geworden: Der Franke hat eine Karte übrig. Für Freitagabend. Für das Spiel.

Um halb acht wird der FC St. Pauli am Millerntor zum ultimativen Showdown gegen den Aufstiegskonkurrenten Dynamo Dresden antreten, und wenn dabei auch nur ein lächerliches, meinetwegen auch atomares Pünktchen herausspringen sollte, dann wird der Kiez beben wie einst im Mai (der ein Januar war), als mein kleiner Stadtteilverein in einer gloriosen Pokalschlacht Werder Bremen mit 3:1 aus dem Rotlichtviertel fegte.

Wenn also dieses eine winzige atomare Pünktchen hier bliebe am Freitagabend, dann wären wir – ja: wir! – zurück im Profifußball. Und der Franke hat für dieses Spiel, nach dem sich mehr als 50.000 Fans vergeblich verzehren, eine Karte, und zwar übrig.

Um den in moralischen Fragen schwankenden Franken vor einer von reiner Profitgier geprägten Entscheidung (ich sage nur: Schwarzmarkt!) zu bewahren und natürlich auch zur Rettung seines Seelenheils unterbreitete ich ihm ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte: Ich bot ihm im Tausch eine Karte fürs Länderspiel Deutschland–Slowakei am 6. Juni. Und der herzensgute Süddeutsche schlug ein.

Aber warum habe ich das überhaupt getan? Ich meine: Der Franke bekommt ein waschechtes EM-Qualifikationsspiel in der landesweit modernsten Arena vor 55 000 Leuten. Und was bietet er?
Das:

Ein Spiel der dritten Liga in einem wackligen Stadiönchen mit Baulücke statt Südtribüne, in dem Leute auf einer hölzernen Plattform herumkrauchen und per Hand Zahlenschilder an Haken aufhängen, wenn ein Tor gefallen ist; ein Stadion, in dem man von manchem Ort aus die Spieler auf der gegenüberliegenden Seite nur wadenaufwärts sieht, weil der störrisch eigenwillige Rasen geruht, sich buckelartig zu wölben – wenn man überhaupt Spieler sieht, denn bei einem Stufengefälle von gefühlten zwei Zentimetern steht dir gewöhnlich ein stattlicher Norddeutscher fahnenschwenkend oder bierbecher(Foto)werfend vor der Nase, vor allem dann, wenn gerade ein Angriff erfolgreich abgeschlossen zu werden droht und gerne auch bei Ecken, Elfmetern, Syndesmoserissen oder jedweder anderen Spielsituation, die optisch wahrzunehmen durchaus einen gewissen Reiz hätte, wenn man genau für solche Momente Eintritt gezahlt hat.

Und dennoch, trotz alledem, gleichwohl, nichtsdestotrotz und verdammt noch eins tausche ich leichten, gar frohen Herzens meine Länderspielkarte gegen das Ticket für Freitagabend; ja, insgeheim befürchte ich sogar, den Franken damit übers Ohr gehauen zu haben.

Kann mir bitte mal jemand diesen Widersinn so erläutern, dass auch ich ihn verstehe?

20 Mai 2007

Hier werden skills gepostet

Wie das mit diesem Blog wohlvertraute Publikum seit langem weiß, geht es auf der Rückseite der Reeperbahn nicht immer nur um Sex & Drugs & Rock’n’Roll, sondern hie und da auch um dummbratzige Satzverhunzer und -zerhäcksler, die gleichwohl eine tragische biografische Fehlentscheidung dazu brachte, beruflich „irgendwas mit Sprache“ machen zu wollen.

Meist handelt es sich dabei um Werber oder Promoter, was also pimpe wäre, denn denen hört eh niemand zu. Sollte man meinen. Ist aber nicht so. Denn was diesen beiden Berufsgruppen den lieben langen Tag so an denglischen Sprachunfällen aus dem Mund purzelt, findet sich oftmals plötzlich in freier Wildbahn wieder.

Es gibt wirklich Menschen, die das nachplappern und sich – ähem – cool dabei fühlen. Das aber nur nebenbei; mein Blogpublikum ist zum Glück resistent. Ich auch. Neulich wollte mir ein Partypromoter mit diesen Worten den Mund wässrig machen:
„Das roughe Spektrum überrascht diesmal mit Frequenzen von Fusion Drum n Bass bis Breakbeatz, Deep-House und rotzigem Elektrotrash auf 2 Floors.“
Klang abschreckend, natürlich mied ich diese Party. Gegenüber dem ehemaligen Deutsche-Bank-Chef Hilmar Kopper war der Partypromoter allerdings eine kümmerliche Wurst. Kopper nämlich hub mal folgendermaßen zu sprechen an und avancierte so schlagartig zur neuen Jil Sander:
„Jeder muss im job permanently seine intangible assets mit high risk neu relaunchen und seine skills so posten, dass die benefits alle ratings sprengen, damit der cash-flow stimmt. Wichtig ist corporate-identity, die mit perfect customizing und eye catchern jedes Jahr geupgedatet wird.“
So zitiert es zumindest Ferris Goldenstein in seinem neuen Buch „Business-Denglisch“. Bei einer Bank, die Leute wie Kopper auf der Gehaltsliste hat, möchte ich jedenfalls kein Konto haben, so viel ist sicher.

Ein Restaurant hingegen, das mir versehentlich „Käse mit Oliver“ anbietet, werde ich stets von Herzen gern aufsuchen – und die Käseplatte trotzdem meiden.

Nur zur Sicherheit.

19 Mai 2007

Das Beste draus machen

Als Obdachloser wäre ich völlig fehlbesetzt. Die üblichen Annehmlichkeiten des Behaustseins (Dusche, Balkon, WLAN) scheinen mir gänzlich unverzichtbar.

Vor allem bekäme ich schlicht keinen Schlaf, da unsere Federkernmatraze meine Schlummerfähigkeit praktisch komplett monopolisiert hat. Selbst Hotelbetten vermögen es selten, mir ein Ambiente zu bieten, das Morpheus wohlgefällig wäre; ein Campingurlaub ist unter diesen Umständen natürlich erst recht undenkbar.

Nein, draußen auf der Straße fände ich keine Sekunde Schlaf, was mir tagsüber beim Betteln wohl viel Überzeugungskraft nähme.

Auf St. Pauli begegnen mir dagegen jeden Tag bockelharte Cracks, die im Gegensatz zu mir nicht mal komatös sein müssen, um stundenlang regungslos auf Betonmauern, Abluftgittern oder Gehwegplatten herzumzuliegen.

Und manchmal – wie der, den ich heute an der Simon-von-Utrecht-Straße unter einer Werbewand vorfand – tun sie das sogar an symbolträchtigen Stellen.

Kubus, nicht Kaaba


Wer zu spät (nach Hause) kommt, den bestraft die Trägheit.

Wie gut, dass ich noch ein Foto von gestern in petto habe: wie die Sonne hinterm schwarzen Kubus an der Kunsthalle hervorlugt.

Hoffentlich stecken die Islamisten diese Provokation wortlos weg.

18 Mai 2007

Fette Karre

Beim Anblick der viel zu oft und zahlreich auf unserem Balkon herumlungernden Reeperbahntauben denke ich oft und völlig zu Recht: Dumm pickt gut …

Diese flatterhaften Geschöpfe muss man übrigens deutlich abgrenzen von den Reeperbahnbordsteinschwalben. Bei Ersteren nämlich ist die Rede von Vögeln, bei Letzeren vom … halt, STOP!

Ja, Sprache kann sehr derb und sehr fein zugleich sein, gerade im Detail – was man besonders in jener Branche weiß, die fürs richtig Derbe zuständig ist. Der, ähem, Erotikstreifen „Pornocchio“ beispielsweise soll dereinst mit folgendem Slogan beworben worden sein: „It's not his nose that grows …“

Warum mir ausgerechnet der heutige (Himmelfahrts)Text derart übel abrutscht ins Schlüpfrige, kann ich mir grad auch nicht erklären. Wir verbrachten doch den halben Tag in zwei tollen Ausstellungen (Daniel Richter, Erwin Wurm), die in nur geringem Maße sexuell aufgeladen waren.

Es sei denn, man findet Wurms adipösen Porsche geil. Wir jedenfalls schon, aber auf andere Art.


17 Mai 2007

Nichts als Blutgrätschen

Der Franke hat auf prominente Sportler die gleiche Wirkung wie eine professionell geworfene Bowlingkugel auf die Kegel am Ende der Bahn. Womit fing es an? Ich glaube, mit Mehmet Scholl.

Diesen von ihm verehrten Fußballer plante der Franke zu interviewen, und kaum lag der Antrag beim Management, verdrehte sich Scholl das Knie und musste eine lange Zeit damit überbrücken, Rocksampler zusammenzustellen. Außerdem verstärkte sich sein Haarausfall.

Wenig später traf der Franke den belgischen Powerbrocken Daniel van Buyten, damals noch beim HSV; nach dem Interview allerdings musste der sonst so robuste Riese sich monatelang der unnachgiebigen Strenge orthopädischer Fachleute unterwerfen.

Als Benny Lauth auf dem Höhepunkt seiner Fußballkunst nach Hamburg wechselte, bat ihn der Franke um ein Gespräch, was das sofortige Ende von Lauths Nationalmannschaftskarriere bedeutete; selbst beim HSV drückte er die Ersatzbank hinfort öfter als seine Freundin. Noch heute rätselt Lauth-Fan Kramer, warum dieser hochtalentierte Spieler sein Potential nie ausschöpfte. Ich sage dazu nur zwei Worte: DER FRANKE.

Viel furchtbarer noch traf es aber bald darauf den damaligen Shootingstar Patrick Owomoyela, der nach einem Date mit dem Würzburger Unglücksraben aus dem WM-Kader flog.

Inzwischen hat sich der voodoohafte Einfluss des Franken sogar zu einer fatalen Fernwirkung erweitert. Als ich ihn neulich fragte, wo ich Pressefotos von Bastian Schweinsteiger herbekäme, reichte das bereits aus, um den Jagdtrieb einer bayerischen Zecke zu wecken, die wie ferngesteuert Schweini biss und ihn so mit einer hartnäckigen Knieentzündung versorgte – Folge: Der FC Bayern vermasselte die Meisterschaft.

Es gibt mittlerweile sogar ernste Anzeichen für eine pandemische Ausweitung des Frankenfluchs auf nichtsportliche Bereiche: Den seit Januar spurlos verschwundenen Schriftsteller Michael Rudolf hat er nämlich auch interviewt. In diesem Fall gäbe es sogar ein Motiv: Im November 2006 verfasste Rudolf eine scharfe Polemik gegen die Franken (wie zuvor allerdings auch gegen alle anderen deutschen Volksstämme).

Bald kommt übrigens Dirk Nowitzki nach Hamburg. Ich Naivling wies den Franken heute – trotz der geschilderten Ereignisse – auf die riesengroße Chance hin, den Weltstar zu interviewen. Doch er hat nur komisch geguckt.

Der Franke könnte mit Sicherheit reich damit werden, sich von bisher verschont gebliebenen Sportlern fürs Nichtinterviewen bezahlen zu lassen. Mal sehen, wann er selbst auf diese Idee kommt.

15 Mai 2007

Frau Berg möchte meine Hilfe nicht, das ist auch gut so

Ich weiß nicht, wie es dem Rest von euch geht, aber ich kann mich noch immer kindlich freuen am Wunder des Webs, an der Tatsache, online immer gleich weit weg zu sein von jedem Ort der Welt (nämlich atemnah); immer dort zu sein, wo die Mails ankommen, sei es auf der Rückseite der Reeperbahn oder auf Tuvalu.

Oder in der Schweiz, wo sich fast jede Woche die wunderbare Schriftstellerin Sibylle Berg hinsetzt und einen Brief schreibt an ihre Fans und dann auf den „Senden“-Knopf drückt. Und schwups habe ich ihr Schreiben im Posteingang, wo ich dann zum Beispiel Folgendes zu lesen bekomme:

… Fast den menschen fürs leben gefunden, fats den traumjob, die traumwohnung bekommen, udn nun doch wieder nichts udn dass einzige , was passiert , ist der donnerstag. wo es endlich di eneue BUNTE gibt. so schlinger das leben knapp an uns vorbei, und am ende: KREBS.“

Ja, so ist die Frau Berg: sensibel und schonungslos. Und so was von schlurig in der Rechtschreibung. Man weiß gleich mal wieder die Arbeit brillanter Lektorinnen zu schätzen und gewinnt gleichzeitig eine Ahnung davon, welch ein Schicksal es sein muss, Lektorin von Frau Berg zu sein. Kein leichtes, gewiss nicht.

Wie auch immer: Anlässlich ihres letzten Briefes erbot ich mich spontan, regelmäßig kurz über ihre wöchentliche Mitteilung zu schauen und die gröbsten Schnitzer zu entfernen, bevor sie den „Senden“-Knopf drückt. Doch Frau Berg lehnte maßvoll gerührt ab, und zwar mit folgenden Worten:

„nein-- wenn ich begönne die kleinen briefe zu ordnen zu überdenken, in eine form zu bringen, dann würde ich sie nicht mehr spontan an die menschen schicken, sondern verkaufen, udn das wäre doch auch blöd-“

Ja, Frau Berg hat recht, natürlich. Mir wären grausige Korrekturen unterlaufen, zum Beispiel hätte ich der Welt ihren reizend imaginären Konjunktiv „begönne“ vorenthalten, was höchst schade gewesen wäre. Nein, alles ist gut so, wie es ist.

Hauptsache, ich bin dort, wo ihre Mails ankommen.


Foto: Katharina Lütscher, Allegra

Du Denkschnecke! (2)

Im Juli vergangenen Jahres versuchte ich an dieser Stelle, dem unübersehbar artikulationsschwachen Fußballer Zinedine Zidane ein Ensemble kreativer Beleidigungen an die Hand zu geben, die ihm ein für alle Mal die Peinlichkeit einer stets unfein wirkenden rein körperlichen Aktion ersparen sollten.

Bisher tat sich der feine Herr Zidane allerdings nicht als gelehriger Schüler hervor. Zizou schweigt. Offenbar gebraucht er seinen Kopf überhaupt nicht mehr, nicht mal zum Zustoßen.

Die wahrscheinlichste Erklärung: Er wartet immer noch auf bessere Vorschläge von mir und Kramer. Zum Glück wurde seither in der Tat wieder einiges zwischen uns ausgetauscht, was derart viel zur beiderseitigen Stressabfuhr beitrug, dass keiner von uns dem anderen an die Gurgel gehen musste.

Eigenartigerweise löscht Kramer aus seinen Beleidigungsmail übrigens nie seine Standardsignatur. Deshalb erhalte ich beispielsweise Schreiben folgenden Inhalts:

Du geistiges Scharmützel!

Viele Grüße

Kramer


Doch das nur nebenbei. Hier kommt nun ein komprimiertes Kompilat von Beleidigungen, für Zinedine Zidane zur gefälligen Verwendung – und natürlich auch to whom it may concern:

Kramer: Kettenölpascha!
Matt: Prallsack! Du Nanodenker!
Kramer: Sofalümmel!
Matt: Du Mopped!
Kramer: Klosteingourmet!
Matt: Wampenwölber!
Kramer: Bitchtitsblondine!
Matt: Tröpfelsitzer!
Kramer: BVB-Bumsbirne!
Matt: Sonnenbrillentussi!
Kramer: Milbenmobber!
Matt: Siffasyl!
Kramer: Du Röber!!! Du Metzelder! Du … du … du ……… Kehl!!!
Matt: Molluske!
Kramer: Freak!
Matt: Hirnsedierter Rumpeldenker!
Kramer: Fummeltriene!
Matt: Neandertalerkarikatur!
Kramer: Lachslutscher!
Matt: Intelligenzabzugshaube!
Kramer: Du Tankwart!
Matt: Bartstoppelsimulant! Du Glücksfalldenker!
Kramer: Bleistiftlutscher!
Matt: Klopapiereinsparer!
Kramer: Pinkelpause!
Matt: Sind dir jetzt alle Restsynapsen durchgebrannt, du Hirnzellenmissbraucher?
Kramer: Sprachaufrechterhalter!
Matt: Großstadthinterwäldler! Wirrling!
Kramer: Arschmondgesicht!
Matt: Du SloMo sapiens!

Wie einst im Juli lässt sich das alles hier praktisch nicht bebildern, weshalb ich mir erneut die Freiheit irgendeines Fotos nehme. Es zeigt Blumenbuchstabenreihen im Park an der Helgoländer Allee, aus denen ich aus irgendeiner dunklen Motivation heraus meine Initialen collagiert habe. Dr. Freud, übernehmen Sie (noch mal)!

14 Mai 2007

Die Rückkehr der Matrosen

Einst waren sie es, die – wie in jedem Hafen der Welt – für die Entstehung des Rotlichtviertels sorgten. Dann verschwanden sie spurlos, doch die Huren blieben.

Einmal im Jahr aber, am Hafengeburtstag, kehren sie zurück nach St. Pauli, wie ein folkloristischer Anklang an eine lang versunkene Zeit: Matrosen.

Drei Tage lang sahen wir sie in Dreier-, Vierergruppen die Reeperbahn abschreiten, die meisten schienen russisch zu sprechen. Sie trugen blaue Ausgehuniformen – und weiße Mützen, die so groß waren, als kokettierten sie mit der Möglichkeit eines Daseins als richtige Hüte.

Gestern sah Ms. Columbo gar eine Gruppe in besonders festlichen Uniformen, deren vergoldete Knöpfe allerdings nicht recht harmonieren wollten mit den Plastiktüten der Drogeriekette Schlecker, die an den Händen der Matrosen baumelten.

Im Hafen, der nun schon seit 818 Jahren das Schicksal Hamburgs bestimmt, lagen drei Tage lang ihre Kreuzer und Großsegler, ein Gewirr turmhoher Takelagen dominierte die Aussicht von den Landungsbrücken. Doch ein kleines hässliches Entlein von Ausflugsbarkasse, das immer hier vor Anker liegt, ließ sich von den stolzen Schwänen der Meere die Laune nicht verderben.

Es heißt „Christa Glitscher“, und ich kann mir nicht helfen: Der Name klingt frivol, ja geradezu obszön. Vielleicht liegt das aber auch an mir; vielleicht bin ich verdorben durchs Leben auf St. Pauli, das so, wie es ist, nur dank längst vergangener Generationen von Matrosen werden konnte.

Und immer, wenn Hamburg Hafengeburtstag feiert, kehren sie zurück aus dem Nebel der Vergangenheit, ganz so wie ihre Kollegen in John Carpenters Film „The Fog“. Doch diese hier in ihren blauen Ausgehuniformen wollen uns nicht ans Leder, sondern einfach nur bei Schlecker einkaufen.

Oder eine Hafenrundfahrt buchen auf der „Christa Glitscher“.

12 Mai 2007

Wer darf zu St. Pauli gegen Dresden? Ich nicht.

Seit Tagen schon kreisen die Gedanken des Franken nicht mehr um die üblichen Frankenthemen (Essen, Schmerzen in der Schulter, FC Bayern), sondern um etwas viel Allgemeingültigeres.

Er hat nämlich etwas, das 50 000 andere Hamburger auch gern hätten, inklusive mir: Karten für das letzte Heimspiel des FC St. Pauli am 25. Mai gegen Dresden.

Der Franke besitzt sogar volle fünf Stück davon. Seine ganze Frankenfamilie lässt er einfliegen zu diesem entscheidenden Spiel um den Zweitligaaufstieg. Und statt sich bis dahin breit grinsend in Vor- und Schadenfreude zu suhlen, macht er seit Tagen was ganz anderes: Er verfolgt die Schwarzmartkkurse seiner Tickets.

„Die stehen teils schon bei 211 Euro pro Stück!“, teilt er unruhig mit. Ein tiefer Zweifel scheint sich in der Brust des Franken eingenistet zu haben, seine Familie ahnt derweil nichts Böses. „Ja“, gieße ich pflichtgemäß Öl ins Feuer seiner Gier, „das sind über tausend Euro Gesamterlös bei fünf Karten. Und nächste Woche gehen die noch höher. Wirst schon sehen.“

„Vielleicht sollte ich sie wirklich verkaufen“, sinniert er mehr für sich, „und mit den anderen zum Public Viewing gehen.“ Mein Stichwort. „Weißt du eigentlich“, versuche ich ihn besserwisserisch zu nerven, „dass Public Viewing übersetzt ,öffentliche Leichenschau' heißt? Die doofe Fifa wollte zur WM wohl weltläufig wirken und hat das nicht gerafft. Und seither gibt es öffentliche Leichenschauen auf Großbildleinwänden, und keiner merkt’s.“

Der Franke, zwar emotional gefangen im Wägen all seiner merkantilen Möglichkeiten, steigt komischerweise auf diesen Themenwechsel ein. „Passt ja wenigstens zur Brisanz des Spiels“, sagt er, „es geht schließlich gegen Dresden, und auf dem Heiliggeistfeld kann die Polizei die Fangruppen nicht ordentlich trennen.“

„Man müsste zum Public Viewing eigentlich auch Body Bags mitnehmen, also Leichensäcke“, ergänze ich. „Wäre ja nur konsequent.“

„Habe ich dir schon erzählt, für wieviel die Karten inzwischen auf Ebay gehandelt werden?“, sagt der Franke und stiert wieder auf den Bildschirm. Ja, hat er, vor zwei Minuten. Und gestern.

Ende März war übrigens mal kurz davon die Rede, mir eins der Tickets zum Selbstkostenpreis zu verkaufen, sofern Schwager oder Schwester doch nicht kommen könnten. Ganz allmählich aber beschleicht mich das Gefühl, ich sollte mir das lieber abschminken.

„211 Euro“, sagt der Franken mehr zu sich, aber da bin ich schon halb aus dem Zimmer. Mir bleibt wohl nur die öffentliche Leichenschau.

Doofe Fifa.

11 Mai 2007

Warum uns die Mopo allmählich langweilt:




Was dagegen an jenem einen horrorfreien Tag mit der Mopo-Redaktion los war, weiß wohl nicht mal John Carpenter:




Children of the revolution

Gestern nahm die Hamburger Polizei überall in der Stadt vorsorglich G8-Gegner hoch. Betroffen war auch der Freund eines Freundes von Kramer, was den vor Empörung sofort lodernd entflammten Kollegen solidarisch ins hart umkämpfte Schanzenviertel trieb.

Dort setzte sich Kramer umstandslos in ein Café und beobachtete die Lage bei einem Galão.

Beim Franken kann er mit dieser Vorgehensweise freilich nicht punkten. „Er hat eine Bahnsteigkarte für die Revolution gelöst!“, blökt der Würzburger heute resümierend. „Du Flaneur des Widerstands!“, falle ich ergänzend ein.

Bevor Kramer im Café seinen für jede Revolution zweifellos nütz- und dienlichen Beobachtungsposten eingenommen hatte, war er
allerdings sogar kurz in eine vergleichsweise heikle Lage geraten, das darf hier nicht verschwiegen werden.

„Ein Polizist hat mich barsch angepflaumt: Gehen Sie weiter!“, erzählt Kramer schaudernd und stolz, zumal er augenblicklich protestierend geschwiegen und sich dann betont langsam getrollt hatte; ins Café, wie gesagt. Dort begoss der tapfere Kramer seine Provokation der Staatsmacht dann mit besagtem Galão.

Derweil zogen die rund 2000 G8-Gegner mit im Schnitt 0,5 Polizisten Begleitschutz
pro Mann weiter nach St. Pauli; Ms. Columbo und mich riss die Revolution aus der Gemütlichkeit des gemeinsamen Abendessens. Vom Balkon aus sahen wir der inzwischen nur noch verbalen Schlacht zu.

Dort gab es leider keinen, bei dem wir einen Galão hätten ordern können.

09 Mai 2007

An den Stapeln sollt ihr sie erkennen

Das verlässlichste Indiz für die bevorstehende Pleite eines Magazins liefert der Fitnessclubindikator. Sobald sich auf den Ablageflächen meines Clubs eine Zeitschrift anfängt zu stapeln, weiß ich, was los ist.

Es ist das letzte Aufbäumen. Verzweifelt versucht der Verlag, die unverkäuflichen Hefte loszuwerden, um den Werbekunden weiter eine stabile Auflage zu suggerieren. Doch vergebens: Wenn die Stapel erst mal meinen Fitnessclub vermüllen, ist nix mehr zu machen.

Monatelang türmte sich hier zuletzt die Zeitschrift Woman, „Nimm mich!“, lockte sie, und ich gab sogar nach und las einen Artikel über die Ursachen des Drehschwindels.

Doch die Stapel wurden immer mehr und jeder immer höher. Man hörte quasi live den Countdown ticken, und vorletzte Woche war es soweit: Gruner & Jahr meldete das Aus für Woman. Ich freilich wusste das schon länger, dank Fitnessclubindikator.

Seit einiger Zeit stapelt sich hier übrigens immer mal wieder die Zeitschrift Healthy Living. Der nächste Countdown läuft.

Übrigens sind auch dramatische Anzeigenpreisnachlässe ein ernstes Alarmzeichen. Insofern ist die aktuelle Schaltung der BILD-Zeitung im kress-express („Statt 331.331 Euro zahen Sie nur 200.000 Euro für 1/1 Seite“) ein echter Hoffnungsschimmer.

Menschen- statt Frauenversteher

Nachdem ich heute auf Spiegel online Reinhard Mohrs vertrackte, aber pfiffig um die Ecke argumentierte Ehrenrettung des Oldschool-Feminismus gelesen habe (die derart pfiffig um die Ecke argumentiert ist, dass ich sie erst noch mal nachlesen müsste, um sie verständlich referieren zu können), kam ich zu folgender Erkenntnis:

Ich will gar kein Frauenversteher sein; Menschenversteher würde mir schon reichen.

(Das heutige Foto hat übrigens keinen Bezug zum Text.)

07 Mai 2007

Der Allererste

Die Verkäuferin an der MiniMal-Kasse strahlt mich an, als sei sie eng mit der Sonne verwandt. „Es kann ein bisschen länger dauern“, strahlt sie entzückend großäugig, „heute ist mein erster Tag!“

„Oh, bin ich sogar ihr allererster Kunde?“, frage ich in unzulässiger, doch der Situation angemessener Tautologie. „Ja!“, juchzt sie.

Ich finde es fast ein bisschen schade, diesen bedeutsamen Kaufakt mit lediglich drei Tafeln Schokolade bestreiten zu müssen. Doch sie hätte ja auch Pech haben können, und jemand wäre mit einer Rolle Klopapier und zwei Dosen Schwartenmagen angekommen.

„Dann wünsche ich Ihnen eine fantastische Karriere!“, übertreibe ich herzlich, während sie sich von einer Kollegin zeigen lässt, wie die Kasse aufgeht und wie man drei Cent Wechselgeld herausnimmt.

Mein Begleiter, der Franke, wird nur wenig später meinen Karrierewunsch als zynisch brandmarken. Doch hey: Kennt etwa nicht jeder von uns einen Tellerwäscher, der zum Millionär aufstieg? Und eine Supermarktverkäuferin, die irgendwann handstreichartig die Filiale übernahm?

Na gut, wahrscheinlich nicht. Alles nur Hollywoodlegenden. Draußen bin ich dann auch schon wieder runter. „Ihr wird das Strahlen bald vergehen“, jammere ich Kassandro dem Franken einen vor, und er zeiht mich zurecht der Wankelmut.

Trotzdem bleibt es ein sehr schönes Gefühl, ihr erster Kunde gewesen zu sein. Ein fast noch schöneres als damals, als mir Annett Louisan im Nachhinein verriet, dies sei gerade ihr allererstes Interview gewesen.

So etwas kann einem einfach keiner mehr nehmen.

06 Mai 2007

Man kann sich seine Verwandten nicht aussuchen

Edit 6.12.2007: Hier konnte man bis heute das kleine Foto eines Nudelgerichts sehen. Dafür habe ich eine Abmahnung des Anwaltsbüros Rotermund (Marions Kochbuch) erhalten, die mich 747,50 Euro kosten soll.

Da hat man erstmals Gäste aus dem Rheinland und will ihnen zeigen, welch buntes, derbes, aber lebenswertes Viertel St. Pauli ist. Also geht man mit ihnen erst mal zum Italiener (Link entfernt) um die Ecke, bestellt Pizza, Pasta, Wein und Salat, und plötzlich taucht eine kleine Dicke im Lokal auf und beschimpft umstandslos die Frau hinterm Tresen.

Randale! Alle gucken gespannt, natürlich auch die Gäste aus dem Rheinland – und komischerweise auch das Personal. Erst als die Furie anfängt, über die Theke nach ihrer Feindin zu spucken, bequemt sich ein erstaunlich wortkarger Kellner, sie aus der Tür zu schieben.

Draußen setzt sie sich an einen Tisch, steht auf, kommt wieder rein, schimpft und spuckt; diesmal sogar auf den Tisch mit den Antipastitöpfchen.

Die Chefin hat inzwischen die Polizei gerufen, doch die war auch schon mal schneller da. Wieder wird die Dicke rausgeschoben, wieder kommt sie rein, diesmal nimmt sie eins der Töpfchen und wirft es wütend nach der Barfrau, es zerschellt auf dem Boden.

„Hey, jetzt reicht’s aber!“, rufe ich der Frau zu, deren wulstiger, gleichwohl dank eines zu kurzen Hemdes frei zugänglicher Bauch sich schlaff über den Hosenbund beugt, als wolle ihr Nabel Fußbodenstudien betreiben.

Der Kellner bequemt sich erneut her und schiebt die sich Wehrende stumm raus, wieder wundern wir uns über seine relative Duldsamkeit. Keine Minute später wackelt das kleine Monster wieder ins Lokal – genau einmal zu viel nach meinem Geschmack. Ich gehe hin und schiebe sie raus.

„Was geht dich das dan?“, schreit sie. Ich versuche ihr zu verklickern, dass es gemeingefährlich sei, Gegenstände durch bevölkerte Gaststätten zu pfeffern, und mich daher ihr Ignorieren dieser allgemein bekannten Tatsache sehr wohl etwas anginge – zumal Ms. Columbo und die Gäste aus dem Rheinland sich im Wurfradius befinden. So richtig überzeugt aber wirkt sie nicht.

Eingangs ihres linken Nasenlochs hängt ein Rotzklumpen, und ich bleibe einen Meter von ihr weg, um die Gefahr des Angespucktwerdens etwas zu mindern. Jetzt, wo ich mit ihr streitend im Eingang stehe, bequemt sich auch der Kellner wieder her, doch ich bin angesichts des bisher stetig eskalierenden Verlaufs der Gesamtlage skeptisch, ob er die Wildgewordene dauerhaft fernhalten kann. Ich indes bin inzwischen sehr entschlossen, das rabiate Weib von Ms. Columbo und den
Gästen aus dem Rheinland fernzuhalten, o ja.

Doch zum Glück kommt die Polizei, endlich. Die zeternde Dicke wird in Handschellen gelegt und abtransportiert. Als wir und die Gäste aus dem Rheinland später – nach Pizza, Pasta, Wein und Salat – aufbrechen wollen, kommt der passive Kellner noch mal zu uns und entschuldigt sich für die Umstände. Und dann sagt er einen Satz, der erklären könnte, warum die Frau nicht auf die kiezüblich rustikale Weise aus dem Lokal befördert wurde.

„Sie ist“, sagt er leise, „die Schwester vom Chef.“


05 Mai 2007

Poppmusik von der Heilsarmee

Bei der Heilsarmee in der Talstraße soll heute Flohmarkt sein. So steht es auf dem quietschgelben Aushang, der heute überall in St. Pauli an Bäumen und Laternenpfählen hängt. Teils flattert er schon etwas lose im Frühlingswind.

Der Erlös, heißt es, sei bestimmt für Mütter und Kinder auf Haiti, und noch ehe ich mich intensiver gefragt habe, warum ausgerechnet die auf Haiti und nicht vielleicht besser jene auf Ost- oder Westsamoa, stehe ich auch schon vorm ersten Heilsarmeetisch und erblicke CD-Hüllen.

Generell üben diese Plastikquadrate enormen Reiz auf mich aus, unabhängig vom Anbieter. Beim Durchwühlen stoße ich überraschend auf – Barry White. Die Lieder des stets etwas bräsig wirkenden Grummelbären galten (und gelten!) als wirkungsvollste Beischlafverursacher und -begleiter der gesamten Popp- (sic!) und Schlafzimmersoulgeschichte, und sein 1979er Album „The message is love“ hier und heute auf die unschuldigste Weise von der Heilsarmee dargeboten zu bekommen: Das hat ein Geschmäckle, und zwar ein süßes.

Einen Euro will der Soldat des Herrn für Songs wie „Any fool could see (you were meant for me)“ und „Love ain’t easy“ von mir; die kapitalen Kratzer auf der CD-Rückseite sprechen gleichwohl gegen einen Kauf. „Die CD und überhaupt alles wurde gespendet“, umgarnt mich der Gotteskrieger, „der Erlös geht an Mütter und Kinder auf Haiti.“

Verdammt, denke ich, sage aber: „Ach ja, stimmt, na gut“, und gebe ihm den Euro, vergesse aber zu fragen, was eigentlich mit den Müttern und Kindern auf Ost- oder Westsamoa sei – zumal ich auf dem Tisch gegenüber zwei entzückende handgefertigte griechische Mokkatassen mit Untersetzern entdecke.

Noch mal drei Euro für Haiti. Zu Hause stelle ich fest: Die Barry-White-CD läuft trotz der kapitalen Kratzer durch wie eine Eins. Selbst Song 6, „I’m on fire“, ein Manifest unverblümter Geilheit auf eine Frau, die unser Grummelbär zum damaligen Zeitpunkt mit tausendprozentiger Sicherheit noch nicht geehelicht hatte (wenn überhaupt jemals!), zieht beim Abspielen verblüffenderweise keinen Blitzschlag auf sich.

Na ja, vielleicht hat die Heilsarmee generell an Einfluss verloren.

04 Mai 2007

Die Verrückte

Heute sah ich sie wieder, die Verrückte. Sie irrt oft durch St. Pauli, manchmal trifft man sie auch in der U-Bahn.

Es handelt sich um ein hageres, sozial enthemmtes, oft sturzbesoffenes Wesen mit Kurzhaarschnitt und Männerklamotten, das äußerlich an Martin Semmelrogge erinnert. Unablässig spricht es Leute an und bestreitet diese ausnahmslos einseitige Kommunikation mit den wirrsten Inhalten.

Meist handelt es sich dabei um Beleidigungen, oft aber auch um räsonierende Weltbetrachtungen, wobei die dazugehörige Welt erst noch erfunden werden muss. Das Erstaunlichste dabei ist die Mimik dieser Frau: Sie würde reichen für eine Schauspielkarriere.


Die Verrückte vermag nämlich jeden einzelnen Gesichtsmuskel beliebig zu bewegen. Zwischen den Verzerrungen der Wut und aasigem Grinsen vergeht keine Nanosekunde, und schon in der nächsten ist ihre in jede denkbare Richtung verbiegbare Gesichtstopografie bei Abscheu und Verachtung angelangt.

Welch ein Talent! Und welch eine tragische Verschwendung davon. Denn ihr Gehirn, das all diese Möglichkeiten steuert, schießt seine Befehle wahllos ab auf die Nervenenden und Muskelfasern, und deshalb läuft die Frau durch St. Pauli und gilt als verrückt.

Ihr Geschlecht übrigens war mir nie völlig klar, bis heute morgen. Sie stand hüftabwärts nackt und breitbeinig vor World of Sex auf der Reeperbahn neben einem Müllcontainer, ihre Männerhose hatte sie ausgezogen, und sie ließ sich die Pisse zwischen die Füße pladdern, während sie einem verstörten Passanten, der einen Bogen um sie schlug, auf Hamburgisch über einen unverständlichen Sachverhalt informierte: „Das war ein Fransosee!“, schnarrte sie.

Seit heute also kann ich das Geschlecht der Verrückten genauer bestimmen. Ich verzichtete auf ein Foto ihrer Rückseite (stattdessen die Satellitenperspektive), das problemlos möglich gewesen wäre, und schlug einen großen Bogen um sie. Als ich an der Bushaltestelle stand, sah ich sie die Davidwache betreten. Arme Bullen.


Dann kam ein Cockerspaniel vorbei und pinkelte neben mir an einen Stromkasten.

Kurzmeldungen inkl. Blogger helfen BILD (2)

*** Jaaa, ich bin die Nummer eins! Und zwar bei einem drolligen Suchbegriff, über den ein offenbar noch drolligerer Mensch heute auf meine Seite kam: „Nacktbilder mit Socken an“. Der Droll (sic!) fand aber nicht via Google hierher, sondern über eine Suchmaschine, von der ich noch nie gehört hatte: www.lemmefind.de. Egal – Nummer eins ist Nummer eins.

*** Beim gestern angesprochenen Tokio-Hotel-Konzert hielt ein Mädchen ein Plakat hoch, worauf stand: „Bill, signier mich von innen!“ Der Spruch ist wirklich nicht unoriginell, Respekt.

*** Überreichte Opa Edi (Foto) heute im Nuttenturm das Hölzerne Kalauerkreuz am Bande für eine gerade wegen ihrer Beiläufigkeit besonders großartige Definition: „Den Geschlechtsakt zwischen mehreren Problem-Koalas nennt man Große Koalition.“ Das Kalauerkreuz hatte ich allerdings auf ein Hemd drucken lassen, um seinen bevorstehenden Umzug ins Allgäu nicht durch ein hölzernes Objekt zusätzlich zu erschweren. Darauf musste er erst mal an der Flasche Genever nuckeln.

*** Apropos Umzug: Erwäge ernsthaft, der BILD-Zeitung unentgeltlich beim Packen für Berlin zu helfen. Damit es schneller geht. Vielleicht könnte daraus sogar eine zweite „Blogger helfen BILD“-Aktion werden.

02 Mai 2007

Ein Schrei für die Ewigkeit



Color Line Arena, gestern. In wenigen Augenblicken werden Tokio Hotel auftreten. Die Lichter gehen aus, und da ist sie, die Essenz des Pop: ein Schrei aus zehntausend Teeniekehlen. Unisono, hochfrequent, ein Tsunami aus Schall (den der Clip oben nur lachhaft dünn wiederzugeben in der Lage ist).

Mir stellen sich die Haare auf, und ich sehe mich selbst, wie ich den Kopf schüttle und fassungslos lache, wie ich mir die Hände auf die Ohren presse. Ja, das ist sie, die Essenz des Pop: das reine, hemmungslose, pure Gefühl der Erwartung und der bevorstehenden Erlösung. Die zum Schrei geronnene Emotion. Das Hier und Jetzt, die nie mehr endende Gegenwart, die Diktatur der Körperchemie.

Zehntausend Stimmen schreien einen einzigen Schrei, und mir wird klar, was für ein Handicap die Ratio sein kann. Und ich ertappe mich dabei, wie ich die schreigewordenen Teenies beneide um die Reinheit und Totalität ihres Gefühls.

Etwas in dieser Intensität hatte ich nie. Für die Beatles war ich viel zu jung, und gefangen auf dem Dorf hätte mir die Gnade einer früheren Geburt eh nichts genützt. Erst mit 16 schaffte ich es auf die ersten großen Konzerte, aber das ist viel zu spät für den essenziellen Schrei, in dem das ganze Leben steckt und tief versteckt und unbewusst auch das Gegenteil davon.

Das alles wird mir klar beim Konzert von Tokio Hotel in der Color Line Arena, und dafür werde ich der Band ziemlich lange dankbar sein.

Auch wenn sie den Abend in eine Melancholie tünchten, die lange nachhallen wird.

01 Mai 2007

Ein Visum für Kleinbloggersdorf

Es gibt rund 50 Millionen Blogs auf der Welt, und es müsste mit dem Teufel zugehen, wären keine brillanten darunter. Deutschland steuert zur Gesamtstatistik circa 200 000 Blogger bei, und die Qualitätsvermutung gilt natürlich auch hier.

Buchverlage haben dieses kreative Potenzial bisher weitgehend ignoriert – ein Fehler, wie die in 13 thematische Blöcke aufgeteilte Bloganthologie „Berlin oder so“ beweist, für die Selberblogger André einfach mal so einen Verlag gründete. Und warum auch nicht: Auch viele Blogtexte werden ja von jetzt auf gleich aus der Hüfte geschossen.

Neun Webschreiber sind vertreten in dieser Sammlung, und natürlich enthält sie nur Texte, die überhaupt verpflanzbar sind in die Welt der Druckerschwärze, also solche ohne unverzichtbare Hyperlinks oder selbstreferenzielle Spielereien. (Nur manch durchgestrichene Passage blieb übrig, in Blogs eine grinsende Selbstenttarnung des Wirklichgedachten.)

Diese Kurzgeschichten und Alltagsbetrachtungen, die sich keineswegs nur mit Berlin beschäftigen, funktionieren in beiden Sphären; was sie auszeichnet, ist vor allem ihre zwanglose Entstehung, die keinen Verwertbarkeitserwägungen folgte. Diese Texte genügen sich selbst, die Blogger hofften auf nichts als vielleicht ein paar Klicks mehr. Und weil diese Prosa keinen Vorbedingungen unterworfen war, trägt sie auch keine Fesseln.

Ihre Sujets und Formen sind so willkürlich wie ihre Umsetzung individuell, und die sich als gemeinsames Element durchziehende Selbstironie, ihr amüsierter Blick auf die Welt von heute, ist nur der editorischen Auswahl des Herausgebers geschuldet, nicht aber einer wie immer gearteten Normiertheit der (letztlich fiktiven) Gattung Blogprosa.

Doch auch innerhalb der Auswahl ist das Spektrum groß. Wir stoßen auf die persiflierte Hypochondrie von Parka Lewis, den Sarkasmus von Pe („Mit der Routine wächst meine Freude an den Besuchen der Unfallpraxis.“) oder die (etwas überrepräsentierten) Dialoge in Berliner Schnauze von Erasmus von Meppen.

In diesen Blogtexten wird der Zeitgeist durch den Fleischwolf gedreht, mit subversivem Unernst werden Bürokratie und Institutionen unterminiert. Das den Absurditäten des Alltags ausgelieferte Blogger-Ich rettet sich auf die einsame Insel der Sprachspielerei – oftmals getreu dem Motto: veräppeln kann ich mich auch selber. So holt es sich live und unter den Augen der Blogosphäre die Souveränität über sein Leben zurück.

Etwas Essenzielles aber fehlt diesem Sammelband zwangsläufig, denn es ist nicht extrahierbar aus dem Virtuellen: die Reaktionen der Leser. Im Web ergeben erst die Kommentare das große Ganze, der Blogtext selbst ist nur Brennstoff einer Diskussion, die bisweilen wochenlang weiterglost und deren Niveau ein Spiegelbild ist für das Niveau des Bloggers – Musterbeispiel: der Stuttgarter poodlepop, den in der Blogroll zu beherbergen ich schon seit vielen Monden die Ehre habe.

Seine witzigen und geschliffen formulierten Misanthropien liefern die Höhepunkte des Bandes. Poodlepops Kunst ist eine durchaus literarische, seine Abstürze von ironisch gezierter Hochsprache in Mode- und Alltagssprech (und zurück) zeugen von ausgereifter und vollkontrollierter Virtuosität.

Dass indes auch Blogtexte altern, sofern sie erst einmal gedruckt sind, sieht man an den Berliner Zoogeschichten des Erasmus von Meppen. Während er sich im Buch auf ewig mit dem „sagenumwobenen Zwergplumplori“ beschäftigen muss, ist die Welt praktisch schon wieder über Knut hinaus. In seinem Blog aber hat Erasmus natürlich mühelos Schritt gehalten, darauf wette ich meinen kompletten Hyperlinkvorrat (und surfe jetzt sofort mal verifizierend bei ihm vorbei).

Fast alle Texte aus „Berlin oder so“ liegen natürlich längst und weiterhin offen herum in den Weiten des Webs. Man muss sie nur suchen wollen, und dieses Buch ermuntert dazu – vor allem jene, die bisher noch kein Visum für Kleinbloggersdorf hatten.


30 April 2007

Dresden (3. Tag)

Erst heute mittag hatte ich mir notiert, was Dresden alles nicht hat. Ganz vorn auf der Liste: schwarze Menschen, Moslems, Frühstückscafés, Zeitungskioske, Kaffeebars und montags geöffnet.

Heute Abend gingen wir auf die Suche nach einem würdigen Restaurant für Ms. Columbos Geburtstagsdinner, und nacheinander begegneten uns: ein Frühstückscafé, ein schwarzer Mensch, ein Kiosk und eine orientalisch anmutende Frau mit Kopftuch.

Wir nehmen all das als regelbestätigende Ausnahmen. Zumal die Kaffeebar bis zum Schluss nicht auftauchte. Was Dresden ebenfalls nicht hat, ist ein Holzindianer vor einem Behindertenparkplatz. Den hat nur Radebeul.

Er steht vorm Karl-May-Museum, welches aber ebenfalls montags nicht geöffnet hat.

29 April 2007

Dresden (2. Tag)

In Dresden wurden drei weltbewegende Dinge erfunden: die Kondensmilch, der Büstenhalter und der Kaffeefilter. Zwei davon sind meiner Meinung nach völlig unnötig. Aber meine Meinung zählt ja nicht, auch nicht die zur Frauenkirche, wo wir heute einmal hineinlinsten.

Nichts gegen geniale Architektur, doch die penible Rekonstruktion eines komplett zerstörten Bauwerks scheint mir doch widersinnig. Diese Frauenkirche hier wirkt wie das Ikea-Modell der Frauenkirche: alles zu hell, zu pastellfarben, zu perfekt, zu 1:1. Klar kann man alles nachbauen, aber muss man das auch?

Ein Barockbauwerk wirkt nur durch seine Patina, also genau das, was dem Nachbau eines Barockbauwerks notwendigerweise fehlt. Ein Riesenposter des Originals hätte es deswegen auch getan.

Egal, interessanter ist eh, was ich abends zufällig auf zwei Fotos entdeckte, die ich vom Ausflugslokal Luisenhof aus geschossen hatte: ein rundes Objekt mit Kometenschweif (oben rechts undeutlich zu erkennen). Eigentlich hatte ich Kondensstreifen im Visier (mich faszinieren Linien und ihre Relationen zueinander), doch dieses Etwas hatte sich mit auf die Bilder geschmuggelt.

Weiß irgendjemand etwas von einem brachialen Einschlag in Sachsen? Bei Spiegel online stand jedenfalls nichts.

Dresden (1. Tag)

„Lass uns am Montag zur PornNight in die DanceFactory gehen!“, rufe ich beim Anblick des abgebildeten Schildes in der Nähe der Semperoper erregt aus. Doch Ms. Columbos Begeisterung für diesen Vorschlag hält sich in engen Grenzen.

Sie verweist darauf, zufällig an diesem Tag Geburtstag zu haben, und an ihrem Ehrentag, vermutet sie schon jetzt, schwebe ihr hochwahrscheinlich ein anderer Ausgehwunsch vor, dessen meinerseitige Respektierung sie sich inständig erhoffe.

Dann eben keine PornNight.

Im Reiseführer hatte ich übrigens gelesen, Dresdner reagierten generell unwirsch, wenn man sich über ihren Dialekt belustige. Zunächst ergibt sich zur Verifizierung dieses Gerüchtes gar keine Gelegenheit. In der Innenstadt nämlich sind alle möglichen Dialekte zu hören, darunter Englisch und Bayerisch, aber kein Sächsisch.

Erst vorm Zwinger plötzlich das Erfolgserlebnis: Eine junge Mutter spricht mit ihren zwei Rackern, und zwar in einen überdeutlich von den hiesigen Umständen beeinträchtigten Zungenschlag. „Sogar diese Frau“, raune ich Ms. Columbo erstaunt zu, „hat einen Sexualpartner gefunden. Obwohl sie so spricht.“

„Du bist fies!“, schimpft Ms. Columbo und schlägt mir auf den Oberarm. So schaffte es Dresden gleich am ersten Tag, Zwietracht zu säen.

28 April 2007

Wie Ahlen gegen St. Pauli mal fiktiv führte

Auf dem Liveticker von kicker.de tauchte heute Abend das dokumentierte Zwischenergebnis auf: Ahlen führte 1:0 am Millerntor. In der 9. Minute sei das Tor gefallen, hieß es erläuternd, sogar der Schütze war namentlich aufgeführt.

Allerdings hatte kicker.de diese merkwürdige (Fehl)Information weltweit exklusiv. Aber beunruhigt war ich schon.

Auf nach Sachsen

Morgen geht es auf Kurzurlaub nach Dresden, und ich schwöre Ms. Columbo auf die Reise ein. „Wir müssen versuchen“, führe ich aus, „nicht über diese Menschen und ihre Sprache zu lachen. Wir müssen versuchen, uns auf den semantischen Kern ihrer Aussagen zu konzentrieren.“

Ms. Columbo ist grundsätzlich einverstanden, bringt aber eine Korrektur an. „Wir müssen vor allem versuchen“, sagt sie, „den semantischen Kern ihrer Aussagen zu verstehen.“ Ich nicke. Es ist ein Experiment. Neuland, Terra incognita. Sachsen eben.

Als Rüstzeug hole ich mir noch eine Kiezvolldusche in der Domschänke, wo die Zementierung des ersten Tabellenplatzes von St. Pauli (3:0 gegen Ahlen!) zünftig begangen wird. Während den Fans dank der Kombination aus Euphorie und Astra zunehmend die Gesichtszüge entgleisen, sind jene der zwei Domschänkenxanthippen wie in Beton gegossen.

Anders können die beiden solche Abende auch nicht überstehen. Und um die fragwürdige Statik des abgebildeten Bierturms mental zu ertragen, hilft nur genau jene Stoik, über die sie im Übermaß verfügen.

Der Astraturm brach übrigens den ganzen Abend über nicht zusammen, was man von einigen St.Pauli-Fans nicht unbedingt behaupten kann.

So, jetzt auf nach Sachsen. Haben die da überhaupt schon WLAN? Oder Strom?

26 April 2007

Der unhaltbare Tabasco

Speisekammern sind wie unerforschte Gebiete, vergleichbar mit dem Kongo 1612. Nur mit dem Unterschied, dass man für alles, was man in der Speisekammer vorfindet, evidenterweise selbst verantwortlich ist, auch wenn man sich nicht mehr daran erinnern kann.

Wann zum Beispiel bestückten wir sie bloß mit der abgebildeten Flasche Tabascosauce? Wahrscheinlich noch vor der Euroumstellung. Bisher sah ich darin kein Problem, zumal ich ihre Existenz längst vergessen hatte. Doch heute stieß ich auf das Fläschchen mit dem Teufelsgebräu. Ich schaute es mir rundherum an und stieß aufs Verfallsdatum. Es war bestürzend: Mai 2003.

Ich wollte es schon beschämt wegwerfen, als ich stutzte. Wie um alle Chilis in der Welt kann Tabasco überhaupt ein Verfallsdatum haben? Von diesem Teufelszeug wird doch selbst das todesmutigste Bakterium die Beißerchen lassen!

Ja, in meiner Welt könnte man Tabasco locker als Alternative zu Formaldehyd benutzen. Doch all das scheint eine jener Lebenslügen gewesen zu sein, denen man sich irgendwann gequält stellen muss. So wie der letzten: Bambi war gar kein Reh, sondern ein Weißwedelhirsch. Und ich weiß nicht mal, was ein Weißwedelhirsch ist.

Das Fläschchen Tabasco habe ich dann doch weggeworfen.

25 April 2007

Alles wegen Hartz IV

St. Pauli ist der ärmste Stadtteil Hamburgs, und manch ein Kiezianer muss sich entscheiden: Hund oder Leine. Während eins davon keinerlei Sinn ergibt, ist das andere offenbar nicht immer finanzierbar.

Doch meine Mitbewohner sind findig, wie ich jüngst vorm Aldiladen in der Paul-Roosen-Straße dokumentieren konnte. Die beiden zusammengebundenen Plastiktüten in geschmackvoller Farbkombination scheinen mir sogar dauerhaft als Leinenersatz vorgesehen zu sein.

Warum dieser dumme Kläffer aber lauthals gegens Fotografiertwerden protestierte, obwohl ich damit doch im Begriff stand, ihm jene 15 Minuten (Blog)Ruhm zu verschaffen, die sonst nur Menschen zustehen, blieb unklar.

Zieh Leine!, flüsterte ich ihm grinsend zu, doch die sophistische Wortspielerei entging ihm. Zumindest musste ich sein ausdauernd anhaltendes Kläffen so deuten. Vielleicht hat ihn aber auch einfach nur die unzumutbare Nahrungsversorgung tierisch genervt.


Ich meine: Milch! Und dann noch fettarm!

24 April 2007

Ich hasse rote Krawatten

„Haben Sie eine Kamera dabei?“, fragt mich der Sicherheitsmann am Eingang der Color Line Arena, und ich, überrumpelt, begehe den fatalen Fehler, ihm die Wahrheit zu sagen. Wahrscheinlich sind das die vermaledeiten Reste meiner protestantischen Erziehung, ich weiß es nicht.

Jedenfalls schickt mich der Mann zu einem Kameraeinsammler ein paar Meter weiter, und ich erwäge, diesen Gang einfach nicht anzutreten, doch beim Abtasten der Leute, die hinter mir in der Schlange standen, dreht der Sicherheitsmann sich immer wieder um zu mir. Kein Entkommen; er kennt seine Pappenheimer.

Der Kameraeinsammler trägt einen lächerlich kurzen roten Schlips, der etwa in der Mitte zwischen Kehlkopf und (imaginierten) Nabel endet, aber das Ästhetische spielt gerade keine Rolle, denn er will meine Kamera. Gerade beginne ich mich an den unschönen Gedanken kameraloser Stunden zu gewöhnen, als es heißt: „Ein Euro bitte.“

„Warten Sie mal“, sage ich, „Sie zwingen mich, meine Kamera abzugeben, die ich lieber behalten würde, und verlangen auch noch Geld dafür?“ Der Mann schaut mich gelangweilt an. „Dafür“, sagt er, während ich auf seinen lachhaft kurzen roten Schlips starre, „passen wir auch darauf auf.“

„Darum habe ich Sie aber gar nicht gebeten!“, wende ich mit unamüsiertem Lächeln ein. „Normalerweise zahle ich nur für Dienstleistungen, die ich aktiv in Auftrag gebe.“

„Tja“, sagt der Mann und verstaut meine Kamera in einer hermetisch verschließbaren und – wie sich Stunden später herausstellen soll – ohne Hilfsmittel wie Scheren, Teppichmesser oder Kreissägen nicht mehr zu öffnenden hochreißfesten Plastiksicherheitstüte der Marke Debasafe. Sie hat die Codenummer 5854767.

Der Mann händigt mir einen Plastikstreifen aus, auf dem die gleiche Nummer steht. „Nicht verlieren“, sagt er, „sonst kriegen Sie die Kamera nicht wieder.“ „Das wäre ja noch schöner!“, errege ich mich, während ich ihm widerwillig einen Euro in die Hand drücke. „Tja“, sagt er und legt die Münze in die Tasche. Aus irgendeinem Grund muss ich an Schäuble denken.

Ich hasse rote Krawatten. Vor allem, wenn sie zu kurz sind.

23 April 2007

Macken (1): Worte entbeinen

Die charmanteste von Ms. Columbos Macken ist die: Zu glauben, sie hätte keine. Aber sooo viel sind es ja auch wirklich nicht. Zumindest im Vergleich zu mir.

Wenn in diesem Blog erst jetzt, nach mehr als anderthalb Jahren, eine Rubrik namens „Macken“ startet, so liegt es nämlich keineswegs an der völligen Abwesenheit derselben – im Gegenteil: Es versteckten sich derart zahlreiche in den bisherigen Blogeinträgen, dass ich zu dem Schluss kam, sie verdienten eine eigene Rubrik.

Beginnen wir also diesen hoffentlich langen und fruchtbaren Strang, und zwar mit einer relativ harmlosen: Wenn ich S- oder U-Bahn fahre und nichts zu lesen dabei habe, beginne ich mich nach einer gefühlten Nanosekunde entsetzlich zu langweilen – was ich sofort gierig damit überbrücke, Wörter von den Werbeschildern im Wagon in alle nur denkbaren deutschen Teilwörter zu zerlegen. Innerlich natürlich, nicht öffentlich.

Nehmen wir als Beispiel das nur scheinbar spröde, unergiebige Wort „Postbank“. Zurzeit deliriert es noch unschuldig auf einem dieser Schilder vor sich hin, doch schon in wenigen Sekunden wird es sachgerecht entbeint. Postbank, da stecken drin: natürlich „Post“ und „Bank“ (letztere gleich zweimal, einmal zum Sitzen, einmal zum Überfallen), „an“, „ost“, „Po“ und „post!“ (als – ähem – Befehlsform an Poser); auch die „Ostbank“ lässt sich bilden, und zusammen mit dem Ausgangswort, was natürlich mitgezählt wird (ich spiele nach meinen Regeln!), kommen wir auf recht formidable neun Wörter.

Nicht schlecht für einen Begriff, der aus lediglich acht Buchstaben besteht, wovon nur zwei sich des Vorzugs erfreuen dürfen, ein klangvolles Leben als Vokale führen zu dürfen.

Ja, und schon fahre ich in St. Pauli ein und habe mich nur mäßig gelangweilt. Dafür nehme ich es auch gern in Kauf, als Beherberger von Macken zu gelten. Im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten, deren charmanteste es ist zu glauben, sie hätten keine. Pah.

22 April 2007

In eigener Sache

Auch meine Bloggersoftware bietet nun endlich die Möglichkeit, Einträge mit Schlagworten zu versehen. Natürlich eine ganz feine Sache, denn wer hat nicht schon immer mal davon geträumt, etwa die komplette Frankensaga in einem Rutsch runterlesen zu können? Ich auf jeden Fall …

Deshalb werde ich von nun an nach und nach alle rund 550 Einträge entsprechend
„taggen“. Jene, die dieses Blog als RSS-Feed abonniert haben, muss ich also vorsorglich warnen: Sie erhalten die alten Einträge noch mal, ergänzt um die entsprechenden Schlagworte.

Ich hoffe, dass wir trotz dieser temporären Unbill weiterhin so traulich kuscheln wie die zwei auf dem Werbeplakat am Spielbudenplatz. Im übertragenen Sinne.

21 April 2007

David Gilmour oder Zu früh ist auch zu spät

Gestern mit Andreas in der sanktpaulianischen Kneipenlandschaft versackt. Auf die genaueren Umstände kann ich erst später näher eingehen, doch hier schon mal zwei Geschichten über den Pink-Floyd-Gitarristen David Gilmour, die sich im gestrigen Kneipendialog als verblüffende ungleiche Zwillinge entpuppten. 

Meine Story geht so: Vergangenes Jahr schwelgte ich in zitternder Vorfreude aufs Konzert von Gilmour im CCH. Es sollte meine erste leibhaftige Begegnung mit einem Mitglied von Pink Floyd werden und war aus biografischen Gründen von ganz immenser Bedeutung. Denn als Teenager schlief ich jahrelang ein zu „Dark side of the moon“, nachdem ich mir das Album auf Cassette gezogen und vorher das elendige Weckerklingeln von „Time“ rausgeschnipselt hatte. 

Jedenfalls traf ich in der Stadt damals zufällig einen Kollegen und fragte ihn, ob ich denn morgen Abend die Freude hätte, auch ihn beim Gilmour-Konzert anzutreffen. „Morgen?“, fragte er und runzelte auf unheilverkündende Weise die Stirn, „das Konzert war doch gestern …“ Nun, er hatte Recht. Und ich einen mächtigen Hals. 

Viele Jahre vorher, nämlich 1989, traf Andreas in der Bar Centrale in St. Pauli mal auf David Gilmour, der anlässlich eines Pink-Floyd-Konzertes in Hamburg weilte und damals offenbar nichts dabei fand, sich ins Kieznachtleben zu stürzen wie jeder normale Mensch auch, zum Beispiel Andreas. Letzterer, zwar kein ausgewiesener Floyd-Fan, doch zeitlebens dem Kontakt mit musikalischer Prominenz zugeneigt, trat tapfer an Gilmour heran und fragte wenig originell (wie er selbst zugibt): 

„Mr. Gilmour, how was the concert tonight?“ 

Gilmour, der begnadete Schöpfer solch elegischer Gitarrensoli wie in „Shine on you crazy diamond“ oder „Comfortably numb“, blickte auf. Dann erwiderte er: 

„The concert tomorrow was brilliant.“ 

So haben sich unsere beiden Geschichten gleichsam ausgeglichen. In der einen kam Andreas zu früh, in der anderen ich zu spät. Ergibt quasi ein 1:1 – was aber nichts an der Tatsache ändert, dass weder Andreas noch ich je ein Konzert von David Gilmour gesehen haben. 

Soviel zur Aussagekraft von Statistiken. 

Im Aidadivawahn

Es ist ein Witz. Hunderttausende strömen an die Landungsbrücken, drängen sich an den Weinstöcken am Stintfang, treten sich am Fuß des Hafenhotels auf die Füße, und alle haben nur ein Ziel: 68 500 Bruttoregistertonnen namens Aidadiva beim trägen Elbabwärtsfahren zuzusehen.

Was wollen diese Menschen hier? Interessiert sie die Lasershow? Das Feuerwerk? Oder wirklich nur das monströs dicke Schiff, das ihrer wildesten Träume verkörpert von Müßiggang und Fernweh?

Es ist ein Witz. Und ich bin mittendrin.

20 April 2007

Wer brüllt, hat Unrecht

Zunächst muss ich GP im Aurel auslösen. Er hat – da als Erster eingetroffen – bereits für uns beide Bier bestellt, welches direkt am Tresen zu bezahlen ist; allerdings verfügt er zurzeit über keinen Cent Bargeld. Jetzt sitzt er da, wohlbeschirmt vom Argwohn der Barfrau. Schöner Anblick.

Eine sardonische Sekunde lang überlege ich, jede Bekanntschaft mit ihm entrüstet abzustreiten, doch die Zeit drängt: Wir müssen hoch in die Color Line Arena, wo Roger Waters uns auf einen monströsen Trip in die Vergangenheit schicken will. Und siehe da: Der alte Haudegen ist fast genauso gut wie die Pink-Floyd-Coverband, die ich vor einigen Jahren in der Großen Freiheit sah.

GP sitzt die ganze Zeit ruhig im psychedelischen Pathosdonner, während ich ihm zwischen den Stücken unnützes Fachwissen zubrülle. „Der Song war auf der ersten Floyd-Platte!“, schreie ich, „noch von Syd Barrett geschrieben!“

Er stiert mich an, als spräche ich hyperboräisch, und ich verfluche innerlich diesen ewigen Drang, der mich immer dann überkommt, wenn ich mich auf einem bestimmten Gebiet sachkundiger wähne. Auch Ms. Columbo sieht sich oftmals solchen Attacken ausgesetzt, erträgt sie allerdings mit einer Engelsgeduld, die ich als Liebesbeweis werten muss.

„Achtung, gleich kommt ein toller Solopart der Sängerin!“, brülle ich GP während „The great gig in the sky“ ins oropaxlose Ohr, und schon kommt ein toller Solopart der Sängerin. Nach der letzten Zugabe spricht GP von „einem der großartigsten Konzerte überhaupt“, was mich erfreut, aber auch wundert, denn zuvor hatte er keinerlei Anhaltspunkte für diese Einschätzung geliefert.

Er klärt mich auf: Allein die Tatsache, dass er nicht vorzeitig gegangen sei, müsse ich bereits als überschäumende Begeisterung werten. Ich entschuldige mich dafür, ihn während „Comfortably numb“ mit der gebrüllten Info erschreckt zu haben, dies sei schon immer mein Lieblingssong vom Album „The wall“ gewesen.

Insgesamt also ein toller Abend – wozu auch ein grauhaariges Waters-Groupie vor der Bühne beiträgt, das vor unseren Augen eine Ton-Bild-Schere aufführt. Die sehr rüstige Dame hüpft auf und ab und singt dabei lauthals: „We don’t need no education – teachers: leave us kids alone!“ Und das Merkwürdigste: Ihr scheint das alles überhaupt nicht merkwürdig vorzukommen.

Übrigens war der oben erwähnte Song gar nicht auf der ersten, sondern der zweiten Floyd-Platte, wie ich zu Hause feststelle, und Syd Barrett war auch nicht der Autor.


GP darf das nie erfahren.

18 April 2007

Der Himmel über St. Pauli

Manchmal laufe ich durch die Stadt wie ein Aborigine, dann ist alles voller kartierter Erinnerungen.

Das Bankhochhaus am Bahnhof Altona mit dem einst zerbrochenen Fenster unterm Dach, durch das der Einbrecher in den Tod sprang. Das Zeisekino, auf ewig verbunden mit dem ersten Sehen von „Fargo" (mit Frances McDormand, die den North-Dakota-Ausruf „Jesus!“ immer verkürzt herauszischt, als spräche sie von Käse: „Cheese!“).

Die Sonne, die sich im Winter durch die schwarzen Wolken wühlt, um einen Blick auf die Hafenkräne zu werfen. Oder jener nicht fixierbare, doch ideale Ort mitten auf der Elbe, wo unser Ausflugsschiff lag, als das Feuerwerk überm Hafen losging.

Ja, wie ein Aborigine, der uralten Songlines folgt, laufe ich manchmal durch die Stadt, und sie erzählt mir hundert Geschichten im konspirativen Timbre persönlicher Erinnerungen. Und wenn ich Glück habe, kommt jede Woche eine neue Geschichte, ein neues Bild hinzu.

Eins davon sehen wir fast jeden Abend: wie die Illumination St. Paulis die über uns hinwegziehenden Abendwolken einfärbt. Das Rotlichtviertel, das sich im Himmel spiegelt: ein schönes, melancholisches Bild für den Trost, den auch eine entmystifizierte Welt zu spenden vermag.

Islamisten werden das nie verstehen.

17 April 2007

And the winner is …

Ich nahm zwei Würfel und warf sie. Pasch 4. Die Quersumme ist 8.

Als nächstes ermittelte ich die Quersummen aller Uhrzeiten, zu denen der Beitrag von gestern kommentiert wurde. Denn der erste Kommentar mit der Quersumme 8 sollte den Gewinner der ausgelobten CD von Laura Veirs identifizieren.

Ganz einfach und völlig fair. Dachte ich. Doch herauskam – ich selbst … Künstlerpech.

Also neu würfeln: Pasch 1, Quersumme 2. Und diesmal klappte es – es gewann rainerhi, der Mann also, der sonst nie kommentiert! Ich bitte um deine Adresse per Mail, und die CD geht auf den Weg – natürlich versandkostenfrei.

Kommentiert werden darf übrigens trotzdem weiter. Ja, schlimmer noch: Wer ab jetzt nichts mehr sagt, gerät in Verdacht, nur aus merkantilen Erwägungen den Mund aufgemacht zu haben.

Und das will ja wohl keiner.