04 Mai 2007

Die Verrückte

Heute sah ich sie wieder, die Verrückte. Sie irrt oft durch St. Pauli, manchmal trifft man sie auch in der U-Bahn.

Es handelt sich um ein hageres, sozial enthemmtes, oft sturzbesoffenes Wesen mit Kurzhaarschnitt und Männerklamotten, das äußerlich an Martin Semmelrogge erinnert. Unablässig spricht es Leute an und bestreitet diese ausnahmslos einseitige Kommunikation mit den wirrsten Inhalten.

Meist handelt es sich dabei um Beleidigungen, oft aber auch um räsonierende Weltbetrachtungen, wobei die dazugehörige Welt erst noch erfunden werden muss. Das Erstaunlichste dabei ist die Mimik dieser Frau: Sie würde reichen für eine Schauspielkarriere.


Die Verrückte vermag nämlich jeden einzelnen Gesichtsmuskel beliebig zu bewegen. Zwischen den Verzerrungen der Wut und aasigem Grinsen vergeht keine Nanosekunde, und schon in der nächsten ist ihre in jede denkbare Richtung verbiegbare Gesichtstopografie bei Abscheu und Verachtung angelangt.

Welch ein Talent! Und welch eine tragische Verschwendung davon. Denn ihr Gehirn, das all diese Möglichkeiten steuert, schießt seine Befehle wahllos ab auf die Nervenenden und Muskelfasern, und deshalb läuft die Frau durch St. Pauli und gilt als verrückt.

Ihr Geschlecht übrigens war mir nie völlig klar, bis heute morgen. Sie stand hüftabwärts nackt und breitbeinig vor World of Sex auf der Reeperbahn neben einem Müllcontainer, ihre Männerhose hatte sie ausgezogen, und sie ließ sich die Pisse zwischen die Füße pladdern, während sie einem verstörten Passanten, der einen Bogen um sie schlug, auf Hamburgisch über einen unverständlichen Sachverhalt informierte: „Das war ein Fransosee!“, schnarrte sie.

Seit heute also kann ich das Geschlecht der Verrückten genauer bestimmen. Ich verzichtete auf ein Foto ihrer Rückseite (stattdessen die Satellitenperspektive), das problemlos möglich gewesen wäre, und schlug einen großen Bogen um sie. Als ich an der Bushaltestelle stand, sah ich sie die Davidwache betreten. Arme Bullen.


Dann kam ein Cockerspaniel vorbei und pinkelte neben mir an einen Stromkasten.

5 Kommentare:

  1. Lieber Matt, Du wurdest Zeuge, was passiert, wenn der wichtigste Teil unseres Körpers schwerwiegende Ausfälle und Fehlfunktionen produziert. Wenn das gleiche bei einem Computer passieren würde, könnte man wenigstens ein neues System aufspielen. Beim menschlichen "System" ist das ungleich schwieriger. Leider passiert es aufgrund schwieriger Lebensumstände immer häufiger, dass derartige Ausfälle in menschlichen Systemen auftreten. Aber frei "rumlaufen" dürfen sie wahrscheinlich nur auf der Reeperbahn. Ich hoffe, dass die Ordnungshüter auf der Davidswache die Not sehen konnten und der Dame weiter helfen, anstatt sie einfach wegzusperren.

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  2. Gabaretha, Sie meinen also, die Dame lief unter Windows?

    Matt: Ich kann mir die Kommentare vorstellen, die Sie bekommen hätten, wenn Sie diesen Beitrag in Ihrem Sternblog veröffentlicht hätten, Sie auch?

    Wen aber meinte die Dame als Fransosee bezeichnen zu müssen? Doch nicht etwa Sie, oder?

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  3. Ja, das Sternblogpublikum hätte mich aus Pisi-Gründen in der Luft zerrissen, ganz klar.

    Sie meinte nicht mich, sondern den mir entgegenkommenden Passanten. Mich hat sie ignoriert. Und ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment oder als Beleidigung auffassen soll.

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  4. Gaba, ich bin mir sicher, die Davidwachenpolizisten kennen diese Dame schon zur Genüge. Und ob sie ihr helfen können, weiß ich nicht. Aber wegsperren ist bestimmt auch keine Option. Obwohl ihr unverhohlenes Pinkeln zumindest unter den Tatbestand „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ fällt. Doch wo kein Kläger, da kein Richter. Und die Reeperbahnbewohner und -passanten nehmen öffentliches Pinkeln sowieso eher stoisch als anzeigenerstattend zur Kenntnis.

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  5. Die hat aber ein größeres "Revier" ich habe sie auch schon 2x im Lidl Markt im Altonaer Bahnhof gesehen.

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