Es gibt rund 50 Millionen Blogs auf der Welt, und es müsste mit dem Teufel zugehen, wären keine brillanten darunter. Deutschland steuert zur Gesamtstatistik circa 200 000 Blogger bei, und die Qualitätsvermutung gilt natürlich auch hier.
Buchverlage haben dieses kreative Potenzial bisher weitgehend ignoriert – ein Fehler, wie die in 13 thematische Blöcke aufgeteilte Bloganthologie „Berlin oder so“ beweist, für die Selberblogger André einfach mal so einen Verlag gründete. Und warum auch nicht: Auch viele Blogtexte werden ja von jetzt auf gleich aus der Hüfte geschossen.
Neun Webschreiber sind vertreten in dieser Sammlung, und natürlich enthält sie nur Texte, die überhaupt verpflanzbar sind in die Welt der Druckerschwärze, also solche ohne unverzichtbare Hyperlinks oder selbstreferenzielle Spielereien. (Nur manch durchgestrichene Passage blieb übrig, in Blogs eine grinsende Selbstenttarnung des Wirklichgedachten.)
Diese Kurzgeschichten und Alltagsbetrachtungen, die sich keineswegs nur mit Berlin beschäftigen, funktionieren in beiden Sphären; was sie auszeichnet, ist vor allem ihre zwanglose Entstehung, die keinen Verwertbarkeitserwägungen folgte. Diese Texte genügen sich selbst, die Blogger hofften auf nichts als vielleicht ein paar Klicks mehr. Und weil diese Prosa keinen Vorbedingungen unterworfen war, trägt sie auch keine Fesseln.
Ihre Sujets und Formen sind so willkürlich wie ihre Umsetzung individuell, und die sich als gemeinsames Element durchziehende Selbstironie, ihr amüsierter Blick auf die Welt von heute, ist nur der editorischen Auswahl des Herausgebers geschuldet, nicht aber einer wie immer gearteten Normiertheit der (letztlich fiktiven) Gattung Blogprosa.
Doch auch innerhalb der Auswahl ist das Spektrum groß. Wir stoßen auf die persiflierte Hypochondrie von Parka Lewis, den Sarkasmus von Pe („Mit der Routine wächst meine Freude an den Besuchen der Unfallpraxis.“) oder die (etwas überrepräsentierten) Dialoge in Berliner Schnauze von Erasmus von Meppen.
In diesen Blogtexten wird der Zeitgeist durch den Fleischwolf gedreht, mit subversivem Unernst werden Bürokratie und Institutionen unterminiert. Das den Absurditäten des Alltags ausgelieferte Blogger-Ich rettet sich auf die einsame Insel der Sprachspielerei – oftmals getreu dem Motto: veräppeln kann ich mich auch selber. So holt es sich live und unter den Augen der Blogosphäre die Souveränität über sein Leben zurück.
Etwas Essenzielles aber fehlt diesem Sammelband zwangsläufig, denn es ist nicht extrahierbar aus dem Virtuellen: die Reaktionen der Leser. Im Web ergeben erst die Kommentare das große Ganze, der Blogtext selbst ist nur Brennstoff einer Diskussion, die bisweilen wochenlang weiterglost und deren Niveau ein Spiegelbild ist für das Niveau des Bloggers – Musterbeispiel: der Stuttgarter poodlepop, den in der Blogroll zu beherbergen ich schon seit vielen Monden die Ehre habe.
Seine witzigen und geschliffen formulierten Misanthropien liefern die Höhepunkte des Bandes. Poodlepops Kunst ist eine durchaus literarische, seine Abstürze von ironisch gezierter Hochsprache in Mode- und Alltagssprech (und zurück) zeugen von ausgereifter und vollkontrollierter Virtuosität.
Dass indes auch Blogtexte altern, sofern sie erst einmal gedruckt sind, sieht man an den Berliner Zoogeschichten des Erasmus von Meppen. Während er sich im Buch auf ewig mit dem „sagenumwobenen Zwergplumplori“ beschäftigen muss, ist die Welt praktisch schon wieder über Knut hinaus. In seinem Blog aber hat Erasmus natürlich mühelos Schritt gehalten, darauf wette ich meinen kompletten Hyperlinkvorrat (und surfe jetzt sofort mal verifizierend bei ihm vorbei).
Fast alle Texte aus „Berlin oder so“ liegen natürlich längst und weiterhin offen herum in den Weiten des Webs. Man muss sie nur suchen wollen, und dieses Buch ermuntert dazu – vor allem jene, die bisher noch kein Visum für Kleinbloggersdorf hatten.
Mein lieber Scholli. Damit können Sie ja direkt bei der »Zeit« vorsprechen, oder bei »Literaturen«. Man merkt eben doch, dass Sie was Rechtes gelernt haben. Davon mal ganz abgesehen hat mir bislang noch keiner so schön erklärt, was ich angeblich mache.
AntwortenLöschenWollt auch grad fragen: wird der Text noch wo anders veröffentlicht? Klingt sehr professionell.
AntwortenLöschenWas ich Ihnen da erzählt habe, sollten Sie auch gleich wieder vergessen, verehrter Herr Poodle, sonst funktioniert es vielleicht nicht mehr.
AntwortenLöschenmspro, vielleicht nimmt ja mein Kollege aus der Literaturredaktion eine Kurzfassung. So endlos rumsabladern geht ja in der Printosphäre leider nicht – es sei denn, man arbeitet für die Zeit oder Literaturen … ;-)
Interessant...ein Blogger-Buch. Ich muss allerdings gestehen, dass mein Interesse unverhältnismäßig höher ausgefallen wäre, wenn sich unter den Autoren ein gewisser Matt aufhalten würde...
AntwortenLöschenSo kann man es natürlich auch sagen.
AntwortenLöschenGaba, wenn diese Blogger nicht durchweg bessere Texte schreiben würden als ich, dann hätte man mich doch auch gefragt, oder nicht? Also ran an den fremden Speck! ;-)
AntwortenLöschenMatt. Ich glaube angesichts des Titels "Berlin und so" kann man sich durchaus noch andere Gründe vorstellen, warum ein Reeperbahnblogger nicht dabi bist.
AntwortenLöschen(um jetzt mal nicht auf matts billigem fishing for compliments reinzufallen)
Mist, ich bin durchschaut … ;-/
AntwortenLöschenWarum brauchen Blogger Bücher? Ist das nicht redundant?`
AntwortenLöschen@ mspro:
AntwortenLöschenSie Kleingeist. Der mir persönlich bekannte und hochgeschätzte Herausgeber und Verlagsinhaber ist in Südafrika geboren, in Farmsen aufgewachsen und hat nur aus Ermangelung eine Hamburger Elite Uni and der Humboldt zu Berlin studiert.
Herr Tripelund ist exklusiver Ehrengast des Café Sperrmüll, viele bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse entstammen unserer Kooperative.
Redundant oder nicht, Herr Joshuatree, so ein Buch, das ist doch gleich ganz was anderes, nicht? Das können Sie auch mal mit aufs Klo nehmen oder ins Bett und auf der Wiese herumliegen damit. Und wenn Sie Kaffee drüberschütten, macht das auch fast nichts. Sicher gilt das alles auch fürs Laptop, aber mit Laptop wirkt man doch immer eher wie ein Hanswurst, der sich wichtigmacht, während so ein Buch nach wie vor suggeriert, oho, ein belesener Mensch kommt des Weges, feinstes Bildungsbürgertum allerersten Zuschnitts! Schon deshalb rate ich dringend zum Erwerb und zur Benutzung wenigstens eines einzigen Buches. Es muss keineswegs zwingend das besprochene sein, wobei es sich besonders gut eignet, weil sein blau sich eigentlich mit den meisten Einrichtungsstilen verträgt – Bauhaus, Shaker, Empire, alles denkbar, selbst Gelsenkirchener Barock steckt es locker weg.
AntwortenLöschenDem kann ich nur beipflichten. Zumal Herr Poodle in typisch schwäbischer Bescheidenheit weitere sehr nützliche Funktionen des Buches unterschlug.
AntwortenLöschenZum Beispiel kann es, auf eine dampfende Tasse Tees oder Kaffees gelegt, den Erkaltungsverlauf des Heißgetränks deutlich verzögern. Auch das Erschlagen von Stechmücken funktioniert passabel, wobei das Buch einer Boulevardzeitung im Tabloidformat unterlegen ist.
Und wenn man es in Form eines Daumenkinos gebraucht, kann es an heißen Sommertagen, die dank des Klimawandels sonder Zahl auf uns einprasseln werden, eine erfrischende Brise erzeugen.
Ich hoffe, ich konnte Sie mit diesen Ausführungen von Zweck und Nutzen eines Erwerbs endgültig überzeugen, Herr Joshuatree.
@poodle: Danke für die fabelhafte PR für das Buch an sich, die ich zu gerne mit Ihnen teile. Aber nur deswegen, weil Hesse, Goethe oder ähnliche geschätzte Verfasser nicht blogg(t)en. Und Elke Heidenreich erst gar nicht bloggt. Gibt es das Buch auch in Blogform? Also, so "frei" erhältlich"?
AntwortenLöschen@Matt: Wir sollten uns tatsächlich siezen. Ich spüre förmlich, es ist Ihnen ein Wunsch ;-).
Respekt. Eine Buchbesprechung, die mir genau sagt, ob es sich lohnt, das Ding zu kaufen/zu lesen oder nicht. Das können die wenigsten Feuilletonisten in dieser klaren Weise. Danke.
AntwortenLöschen@Matt
AntwortenLöschenIch wollte Ihnen ja nur ein bisschen was zum Ergänzen übrig lassen, es wirkt einfach vertrauensbildender, wenn die Pros gleichmäßig verteilt sind.
@Joshuatree
Das Buch in Blogform gibt es nicht. Meines Wissens steht aber der überwiegende Teil in den Blogs der beteiligten Autoren zur Verfügung. Ist halt eine Plackerei, bis das alles gefunden ist.
@Thilo Baum
Was uns jetzt noch brennend interessieren würde, ist, wie Ihre Entscheidung ausfällt: Kaufen Sie oder kaufen Sie nicht?
Stimmt, das hat der sardonische Herr Baum perfiderweise offengelassen. Dabei gibt es nichts Interessanteres für Rezensierte wie für Rezensenten als Rezipientenverhalten.
AntwortenLöschenBis jetzt hab ich's nicht gekauft. Die Rezension ist trotzdem gut. Man kann schließlich auch Buchkritiken schreiben, wenn man nur den Klappentext gelesen hat ;-)
AntwortenLöschenHey, ich hoffe, das ist keine böswillige Unterstellung … ;-)
AntwortenLöschenGuten Tag,
AntwortenLöschenich wäre interessiert an einem Linktausch mit ihrem Blog. Sie können sich gerne über meinen informieren unter http://www.markenkult.com
Über eine kurze Nachricht an webmaster [at] markenkult.com würde ich mich sehr freuen.
Mit freundlichem gruß
N.R.