29 September 2006

Unter Weltrevolutionären

Ein Paket auf der Post abzuholen, ist für mich ein Klacks; schließlich residiert die nicht unumstrittene Filiale in Sichtweite unserer Wohnung. Angebote wie die sogenannte Packstation (Eigenwerbung: „Ihr neuer Immer-Offen-Paketschalter“) kommen mir daher so nützlich vor wie einem Eskimo Schneekanonen – zumal diese Stationen zur Störrischkeit neigen sollen.

Am letzten Werktag des Monats gerät der Besuch meiner Postfiliale allerdings stets aufwendig. Wie heute. Als ich gegen 14 Uhr vorm Gebäude eintreffe, wächst ihm eine Menschenschlange aus der Tür, als gäbe es dort etwas umsonst. Und das ist ja auch so, denn Hamburgs Hartz-IV-Armee erhält heute ihren jämmerlichen Monatsobolus.

Ich mache kehrt und versuche es eine Stunde später noch einmal. Mir präsentiert sich allerdings das gleiche Bild, und das wird heute wohl nicht mehr anders werden. Seufzend stelle ich mich also hinten an und bin unversehens Bestandteil des Subproletariats – jenes Menschenschlags also, dem Karl Marx einst die Weltrevolution zutraute und den Wladímir Iljítsch Uljánow alias Lenin noch lange irrtümlich als geschichtliche Avantgarde pries.

Von Wehrhaftigkeit und Wut, von umstürzlerischem Eifer gegen Diedaoben ist indes nichts zu spüren. Man will seine paar Kröten, und gut is. Der Verwendungszweck der letzten Auszahlung ist manchem Schlangensteher deutlich anzumerken; ein Typ mit Deutschlandmütze zum Beispiel liefert eine rein körperliche Neudefinition des Wortes „Schwankungsbreite“.

Gut, dass überall herumstehende Aufsteller („Tagesgeldkonto mit 3 Prozent Verzinsung! Kostenloses Girokonto bei einem ständigen Guthaben von mindestens 1200 Euro!“) einen gewissen Halt offerieren, den Mütze gern annimmt.

Jetzt kommt ein Kumpel von ihm raus, der sein Geld schon hat. „So’n Schiet“, lallt Mütze ihn an, „hier schdehdmanja ne ganse Schdunde!“ Sein Kumpel sieht aus, wie man nur auf dem Kiez aussehen kann, ohne sich der Gefahr sozialer Ächtung ausgesetzt zu sehen, und dafür liebe ich den Kiez. Er ist vielleicht Mitte 50, aber ausstaffiert wie ein 30-jähriger Mix aus Harley-Davidson-Freak, Lude und Späthippie: Jeansanzug, graue Strähnen bis zum Schlüsselbein, ein Bart wie DJ-Ötzi, schwarzgepunktete Bandana um den Kopf mit fünf Buttons dran, dazu eine lila Brille mit gelben Bügeln.

„Haldie Schdellung!“, muntert der bunte Vogel Mütze auf, den diese Kommunikation sichtbar anstrengt, weshalb er seinen hageren Körper matt gegen den Türrahmen sacken lässt. Ansonsten herrscht Stille in der Schlange. Es ist die fade Stille der Resignation und Duldsamkeit. Nur die Hoffnung ist ja eine Plappertasche, und die lebt hier schon lang nicht mehr.

Quälend langsam schiebt sich die Schlange in den Schlund der Postfiliale. Mütze wankt und schwankt, nach rechts muss er sich jetzt abstützen und rutscht mit dem Ellenbogen in ein knapp meterhohes Drahtgestell mit Notizblöcken und Timern drin. Rumms macht es, er zerdellt einen Spiralblock, schafft es aber, den aufrechten Stand halbwegs wieder herzustellen, ohne dem Interieur der Postfiliale größeren Schaden zuzufügen.

Am Schalter schließlich stützt er sich mit beiden Armen auf, seine Nase ist nur Zentimeter entfernt von den Scheinen, die ihm der Postmann hinblättert. „Dangesch’n“, sagt Mütze artig, „n schönes Woch’nnde.“ Und dann wankt er fast unfallfrei hinaus.

Das Schwarzrotgelb auf seinem Kopf leuchtet nicht mehr. Es ist verblasst von diesem traumhaften Sommer, der so viele Sonnenstunden hatte wie noch keiner vor ihm.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Postdienstleistungen
1. „The letter“ von The Box Tops
2. „Telegram Sam“ von T. Rex
3. „Please Mr. postman“ von The Beatles


4 Kommentare:

  1. "Nur die Hoffnung ist ja eine Plappertasche"
    Danke! Immer nur wieder Danke für solche Sätze.

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  2. Revolutionen sind leider auch nicht mehr das, was sie früher mal waren. Bereits mein ebenfalls von Rheuma geplagter poetischer Dithmarscher Kollege Friedrich Hebbel meinte ja seinerzeit: Selbst im Fall einer Revolution würden die Deutschen sich nur Steuerfreiheit, nie Gedankenfreiheit zu erkämpfen suchen.

    Auch wenn das besonders im Hinblick auf seinen vollgefressenen und versoffenen Zeitgenossen Adalbert Stifter gemünzt gewesen sein sollte, es ist was Wahres dran. Vielleicht um "Reisefreiheit" ergänzt.

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  3. @opa: Laut wikiquote wird dieses Zitat Hebbel "nur" zugeschrieben. Hast Du eine Originalquelle?

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  4. @ Joshuatree:

    Die von mir verwendeten Zitate stammen alle aus der Bibel.

    Mein Bibel heißt:

    Das zynische Wörterbuch , ein Alphabet harter Wahrheiten zugemutet von Jörg Drews & Co. Diogenes Zürich 1978.

    Drews, geboren 1938 lehrt als Professor für Literatur an der Universität Bielefeld. Wahrscheinlich ein Kumpel von Rudolf August Oetker :-)

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