Alkoholismus ist mit Sicherheit auf St. Pauli verbreiteter als – sagen wir – in Altötting. Als Bewohner gewöhnt man sich an Kollateralschäden dieses Phänomens recht schnell, und über die am Sonntagmorgen ubiquitär herumliegenden Schnapsleichen steigt man routiniert hinweg. Keine von ihnen ist wirklich tot, und wenn, dann soll es bitte ein anderer merken; ich habe mich zu oft blamiert beim panischen Herbeirufen von Ordnungs- oder Rettungskräften, die es aber zum Glück bei mitleidigen Blicken beließen, statt über Regressforderungen nachzudenken.
Nein, wer sich gelähmt vom Suff gar nicht mehr bewegen kann, ist auf St. Pauli das kleinere Problem. Ein kaum größeres war jener Mann, der vorm U-Bahnhof St. Pauli (nicht fern von der abgebildeten Taubenstraße) mein Freund werden wollte. Er war vielleicht Mitte 50 und kein Zufallsbetrunkener wie viele der Partyterroristen, die uns allwochenendlich heimsuchen wie Wespenschwärme eine Freiluftausstellung von Sahnetorten. Aber er war auch kein Obdachloser, dazu war er nicht schmutzig genug.
Er war irgendetwas dazwischen, eine kleine grauhaarige Gestalt mit schroffen Furchen im Gesicht und abgetragenen Jeans. Früher oder später wird sich unerbittlich entscheiden, in welche Richtung das Pendel seines Lebens ausschlägt. „Prekär“ nennt man heutzutage wohl eine solche Situation.
Sein linkes Auge war blind; es sah aus, als hätte ihm jemand Kondensmilch in den Augapfel injiziert. Er schwenkte eine Flasche Astra, morgens um 9 an der Haltestelle, und die Afrikanerin, die mit ihrem Kinderwagen neben mir auf den Bus wartete, entfernte sich wortlos zwei Meter, als er wankend versuchte, ihr Baby auf eine Weise anzustammeln, die er in einem früheren Leben wohl als onkelhaft kennengelernt hatte.
Ich entschloss mich, ihn von Mutter und Kind fernzuhalten, sofern er die Verfolgung aufnehmen sollte. Doch das war unnötig, denn er wandte sich sowieso mir zu, mit einem irrlichternden Grinsen, das aussah nach dem verzweifelten Glück des Betrunkenen. „Was hörsten da?“, fragte er mit Blick auf meine Ohrhörer. „George Michael“, sagte ich. „Komm“, fuchtelte er mit seiner freien, astrafreien Rechten vor meinem Gesicht herum, „lass ma hörn!“
Er machte eine Bewegung Richtung Ohrhörer, als wollte er ihn mir vom Kopf nehmen und sich anschließend einführen, doch ich wehrte ab. „Ah“, machte er, und sein funktionierendes Auge weitete sich ein wenig, „ich verstehe!“
Dann steckte er sich seinen schrundigen Zeigefinger tief ins rechte Ohr, drehte, grub und bohrte darin herum, holte Unsagbares heraus, wischte dann den Finger mit großer Geste ab an seiner Jeans, die aussah, als hätte sie solches schon oft erdulden müssen – und glaubte, nun sei die Sache geregelt, nun dürfe er George Michael hören.
Ich musste ihn enttäuschen, und dann kam auch schon der Bus.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs übers Saufen
1. „The piano has been drinkin’“ von Tom Waits
2. „One bourbon, one scotch, one beer“ von John Lee Hooker
3. „Drunk“ von Vic Chesnutt
beim thema saufen sollte mindestens ein pogues song in den top 3 sein...
AntwortenLöschenVon mir gibt es bald den Jahreskalender der Alkleichen auf unserer Wiese:
AntwortenLöschenhttp://www.elbebass.com/2006/08/19/unsere-schone-wiese-iii/
George Michael? Wirklich?
AntwortenLöschen@ stefan: Völlig richtig. Beim nächsten Mal.
AntwortenLöschen@ daiko: Besonders schön finde ich, wie sich die wechselnden Jahreszeiten auf der Wiese widerspiegeln. Was machen die Delirierenden eigentlich im Winter?
@ michael: Klar! Der Mann ist ein Großer. Hör dir mal „Older“ an - das ist Jazzpop von göttlichen Gnaden. Oder seine Version des U2-Songs „Miss Sarajewo“: weit besser als das von Pararotti verhunzte Original. (Aber ich muss zugeben, dass ich einst auch Vorbehalte gegen den Ex-Boypopper hatte. Zum Glück lernt man nie aus.)
Ts, ts: Die besten Songs übers Saufen - und dann ist kein einziger Countrysong dabei? Das geht so nicht, deshalb hier stellvertretend für mindestens eine Million meist treffender Country-Beiträge zum Thema die folgenden drei Songs:
AntwortenLöschen1. "Tonight The Bottle Let Me Down" von Merle Haggard
2. "What's Made Milwaukee Famous (Has Made a Loser Out of Me)" von Jerry Lee Lewis
3. "Don't Come Home A-Drinkin (With Lovin' On your Mind)" von Loretta Lynn
Bei diesem Thema hätte ich wohl eher eine Top 30 verkünd(ig)en sollen. Das Thema wird aber bestimmt immer mal wieder aufs Tapet kommen; dann lege ich nach – mit euren Anregungen.
AntwortenLöschensei froh, dass es nur ums thema saufen geht...stell dir mal die diskussion vor wenn du deine top 3 love-songs veröffentlich hättest!
AntwortenLöschenDiese Top 3 kommen bald, das droh ich schon mal an. Und dann will ich hier das Hauen und Stechen um die Liebe sehen!
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