Auf Dienstreise in Berlin, Popkomm. Einer, den man mit Fug und Recht als Männchen bezeichnen kann, streunt am Busbahnhof Zoo herum. Er hat einen unfassbar horizontalen Buckel, auf dem man mühelos ein Tablett abstellen könnte. Und er ist alt. Seine Haare sind grau, er trägt schlammfarbene Hosen samt Träger, die in den 40ern mal en vogue gewesen sein müssen. Und jetzt stellt er sich frontal vor mich. Abstand: halber Meter.
Er mustert mich aufmerksam, sein trauriger dunkelbrauner Blick wandert von meinen Augen hinunter Richtung Nabel, wo mein Popkomm-Ausweis im Spätsommerwind baumelt. Ich nehme die Situation als Bewährungsprobe. Einfach so tun, als sei er nicht da. Einfach mal sehen, wie cool ich sein kann, ob ich diese Verletzung der sozialen Distanz aushalte und wie lange. Mal testen, wer zuerst zuckt.
Mir fällt das allerdings schwer, ehrlich gesagt. Mein wie zufällig über Busse und Bäume wandernder Blick wirkt sicherlich auf bemühte Weise unbeteiligt; manchmal schaue ich ihn auch direkt an, um Lockerheit auszustrahlen, die ich gleichwohl nur spiele. Denn das Männchen steht unmittelbar vor mir, und das macht man nicht, zumindest dann nicht, wenn man nichts zu sagen, sondern nur zu gucken hat.
Und zu gucken hat es offenbar viel. Inzwischen ruht sein Blick starr auf meinem Bauch, ganz kurz nur zuckt er manchmal musternd hoch und sucht meine Augen. Was will der Mann? Was fasziniert ihn so?
Natürlich sind das Fragen, die früher oder später aus mir herausbrechen werden; lange halte ich die Situation nämlich nicht mehr durch, die ich mir vorschnell als Selbsttest auferlegt habe. Aber jetzt, jetzt sagt er was. Es ist eine Frage, und sie lautet: „Ist das dein Gestapo-Ausweis?“
Ich sage: „Wie bitte?“, und er sagt es noch mal: „Ist das dein Gestapo-Ausweis?“
Dieser Frage wohnt ein solches Überraschungsmoment inne, dass ich nichts erwidern, sondern nur mit einem mimischen Mix darauf reagieren kann. Würde ich mich in dieser Sekunde im Spiegel sehen oder durch die Augen des Männchens, dann müsste ich diesen Mix als Komposition aus Verblüffung, Ärger und Empörung beschreiben.
Und das ist wohl auch seine Interpretation. Es dreht sich weg und huscht behende davon, ein buckliges graues Etwas mit jahrzehntealten Hosenträgern, das keine Antwort erwartet auf eine solche Frage, aber froh ist, sie gestellt zu haben.
Ich ahne schlagartig den Schleier einer ganzen Lebensgeschichte. Sie muss irgendwann in den 20ern oder 30ern begonnen haben; und das, was damals mit ihm und seiner Familie geschah, muss über Dekaden hinweg weitergeschwärt haben wie ein Fluch, der sich heute, am Berliner Bahnhof Zoo, als absurde Frage an einen Wildfremden wieder einmal kurz materialisiert.
Meinen Popkomm-Ausweis habe ich heute Abend übrigens weggeworfen.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit geschichtlichem Bezug
1. „The history of rain" von Paul K. & The Weathermen
2. „In Germany before the war“ von Randy Newman
3. „Ohio“ von Neil Young
Foto: Bahnhof Messe Nord, Berlin (Am Zoo war ich zu konsterniert zum Knipsen.)
PS: Heute steht in der taz ein Artikel über Blogger aus Altona und St. Pauli, in dem auch „Die Rückseite der Reeperbahn“ freundliche Erwähnung findet. Allerdings zitiert mich Frau Bigalke falsch. Ich würde nur unterm Einfluss von Drogen „der“ Blog sagen. In Wahrheit sagte ich „das“ Blog. Obwohl natürlich inzwischen beides geht, laut Duden.
Ich will eigentlich die ganze Zeit schreiben, dass ich mich geehrt fühle in einem Artikel mit meinen beiden Lieblingsblogs zu stehen, aber das das ist mir zu anbiedernd.
AntwortenLöschenbetreffes der der/das Frage ist mir auch aufgefallen, das der Artikel recht inkonsequent mit dem Geschlecht des Blogs umgeht. Ich hab mal nachgezählt und es wird (inkl. deinem "der") zweimal männlich und dreimal sächlich bezeichnet. Viermal ist die Wahl nicht zu erkennen.
Eine merkwürdige, denkwürdige Begegnung.
AntwortenLöschenWill ja nicht immer nur klugscheißen - aber das Photo zeigt m.E. die Fußgängerunterführung der Kreuzung Messedamm/ Neue Kantstr., die allerdings immerhin in unmittelbarer Nähe des erwähnten Bahnhofs vor sich hin modert.
AntwortenLöschensternburg, du hast bestimmt Recht. Ich bin Messe Nord ausgestiegen und dann noch etwas gelaufen; wahrscheinlich nahm ich an, das gehört irgendwie zur Station dazu.
AntwortenLöschenKennst du vielleicht auch das bucklige Männchen vom Bahnhof Zoo ...?
Also, in die Top 3 gehört ganz oben "The Night They Drove Old Dixie Down" rein. Finde ich zumindest.
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