25 Oktober 2009

Fundstücke (61): Über Gott und die Welt



1. Wie betrüblich es um die monotheistischen Religionen bestellt ist, dokumentiert u. a. die beschämende Followerzahl von Gott bei Twitter: lediglich 116 Schäfchen wollen Sein Wort hören. Doch auch Er leidet unter Weltekel und interessiert sich nur noch für 49 seiner Geschöpfe. Konsequenterweise hat Er seit einem Monat nichts mehr getwittert. Ja, es ist ein Elend.

2. Budnikowsky bietet eins der hartnäckigsten Nester von Deppenleerzeichen auf ganz St. Pauli. Da müsste mal der Deppenleerzeichenkammerjäger durchmarodieren; ein Job, für den ich keineswegs unterqualifiziert wäre. „Dieser Bereich ist Kamera“, heißt es etwa kryptisch auf einem Schild über der Kasse. In einer weiteren Zeile hält uns das Schild dann ein unmotiviertes „überwacht“ vor die Nase, und man ahnt, was die Budnikowskys semantisch im Sinn hatten, als sie dem Schildermacher diesen debilen Auftrag erteilten. Die Deppenleerzeichenmarotte erstreckt sich sogar bis aufs Sortiment. Im Alnatura-Regal zum Beispiel findet sich ein „Berg Linsen“. Immerhin lässt das den Kilopreis von 3,98 Euro nicht gerade überteuert wirken.



3. „Pizza, ital. Art“ klingt wie „Eulen nach Vogelart“, jedenfalls betäubend tautologisch. Dafür sind aber immerhin weder Gott noch Budnikowsky verantwortlich, sondern ganz allein Würzburg.


24 Oktober 2009

Kahl und Kähler

Als ersten aus der legendären Ur-Titanic-Mannschaft lernte ich einst Ernst Kahl kennen. Und heute, als zweiten, Richard Kähler (Foto), mit dem ich im Miller zusammensaß bei Espresso, Spaghetti und Maracujasaft.

Kahl und Kähler: Das klingt nach einer ausnehmend logischen Abfolge.

Für Satirezeitschriften zu arbeiten scheint – so ein erstes, frühes Fazit, das freilich noch einer hoffentlich bald verbreiterbaren empirischen Basis bedarf – ernste Auswirkungen auf die Persönlichkeitsbildung zu haben; diese Leute sind nämlich alle verteufelt sympathisch, gebildet, eloquent und durchweg liebenswert.

Könnte Mahmoud Ahmadinedschad nicht auch mal bei einer Satirezeitschrift anheuern, wenigstens als Praktikant?

Aber das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert, sonst wäre zum Beispiel auch Klaus Kinski noch gar nicht tot, sondern hätte gerade seinen 83. Geburtstag gefeiert – und dieser listige Schlenker gibt mir die willkommene Gelegenheit, noch mal die Umstände meines Erwerbs einer wertvollen Devotionalie in Erinnerung zu rufen.

Dieser Text ist eine Linkhölle, ich weiß. Und das Foto bei Kähler stibitzt.


22 Oktober 2009

„Ich bin ein Nichts“



Wenn Gunter Gabriel Radiohead covert, sollte man eigentlich ergriffen oder erschüttert schweigen, je nachdem. Doch ich sollte vorher noch schnell erwähnen, dass heute Abend auch die Schauspielerin, Totschlägerin und Dschungelkönigin Ingrid van Bergen beim Konzert im Knust auftauchte.

Die Gute ist 78, verfügt aber noch über eine gleichsam mädchenhafte Beweglichkeit, und wenn auch ihrem Gesicht bereits jedes der 78 Jahre brutalstmöglich imprägniert ist, so versteht es die Bergen doch virtuos, ihr ungebrochen kregles Wesen auch outfitmäßig perfekt überzubetonen.

Sie lief auf mit Rockerlederjacke und strohdummblonden Haaren, ihre Pumps waren spitz wie ein Brieföffner, und an ihren kurzen 78-jährigen Fingern trug sie silberne Ringe von jener speziellen Wuchtigkeit, wie sie Türsteher auf dem Kiez zum versonnenen Seufzen bringt.

So, und jetzt Gabriel hören, ergriffen oder erschüttert, je nachdem.



Fundstücke (60): Versiegt



Irgendetwas sagt mir, ich hätte diesen Gutschein früher einlösen sollen.



20 Oktober 2009

Der lachende Afrikaner

Stieß gestern in Ottensen in der Nähe des Aurel (Foto) mit einem anderen Radfahrer zusammen, einem Afrikaner.

Ich wollte gerade auf die Bahrenfelder Straße einbiegen, als er unversehens hinter einem parkenden Auto auftauchte, und zwar auf seiner linken Seite. Unmöglich zu bremsen, ich rasselte ihm heftig ins Vorderrad, doch der Notarzt musste nicht anrücken.

Er: „Sorry, sorry!“ Ich: „Puh!“ Und dann begann der Afrikaner laut aufzulachen.

Ich muss derart perplex geguckt haben, dass er nicht anders konnte. Sein Lachen ließ mich freilich noch perplexer gucken, was es weiter steigerte. Ähnlich verläuft wohl eine atomare Reaktion.

Gerne hätte ich ihn an dieser Stelle darauf verwiesen, dass wir hier nicht in England seien, wo man die Straßen nicht nur links befahren darf, sondern muss, doch sein inzwischen am Rande des Krampfartigen angelangter Lachanfall ließ mich davon Abstand nehmen. Die semantische Vermittlung der Botschaft schien mir angesichts seiner mangelnden Rezeptionsbereitschaft schlicht zu ungewiss.

Als ich weiterfuhr, verklang sein Lachen nur sehr allmählich im Gewirr der Ottenser Gassen.

Irgendwie schon ganz andere Menschen, diese Afrikaner.


Fundstücke (59): Die Wurst, der Durst und der Tod



Auf dem Weg nach Wandsbek kamen wir am Omnibusbahnhof vorbei. Dort verheißt das Bistro „Wurst & Durst“ den parallelen Verkauf a) eines Nahrungsmittels und b) einer Mangelerscheinung. Bestimmt eine super Marktlücke.

Später auf der Wandsbeker Chaussee sollte sich das Thema teilweise wiederholen, doch der Laden „Flachs-Wurst“ wurde von seinem Nachbarn noch weit übertroffen.

Wie wir zu unserem namenlosen Erschrecken (und Amüsement) feststellen mussten, möchte man nun sogar im postmortalen Segment einen locker-flockigen Kalauerton anschlagen.

Der „Sarg Shop Good-buy“ ist jedenfalls so cool, wie eine Leiche niemals werden kann.

Die Fotoqualität ist übrigens der von Hast und Hektik geprägten Knipssituation geschuldet: aus einem fahrenden Bus heraus ins Gegenlicht. Doch es hat sich gelohnt, oh ja.


19 Oktober 2009

Alten Leuten über die Straße helfen

Der Rollstuhlopa trägt Glasbausteinbrille und Schiebermütze, er ist schlecht rasiert und – wohl nach einem Schlaganfall – des Sprechens nicht mehr mächtig, nur noch des Sabberns.

Neulich trafen wir ihn in hilflosem Zustand in der Bernstorffstraße an. Er hatte sich an einem Poller festgefahren und kam nicht mehr vor noch zurück. Wir versuchten herauszufinden, wo er hinwollte. Trotz der erschwerten Kommunikationsgesamtlage gelang es ihm, uns seinen Richtungswunsch mitzuteilen.

Stakkatisch stieß er gutturale Laute aus und kombinierte sie mit ruckartigem Armgeschlenker; so dirigierte er uns durchs Viertel, bis wir schließlich eine Seniorenwohnanlage erreichten, wo wir ihn zu seiner gutturalen Zufriedenheit vorm Aufzug abstellten.

Wir nutzten noch schnell die Heimtoiletten und trollten uns – im Bewusstsein, das Tagesquantum einer guten Pfadfindertat bereits mittags erfüllt zu haben und uns für die restlichen Stunden nun ungehemmter Niedertracht hingeben zu dürfen. Ein schönes Gefühl.

Das war vor einigen Wochen. Heute standen Ms. Columbo und ich an der Reeperbahn gegenüber vom Beatlemania-Museum, wo das Bild des weinenden Ringo hängt, und warteten auf den Bus, als ich am Fußgängerüberweg Nobistor den Rollstuhlopa entdeckte. Und zwar in bedenklicher Entfernung vom Seniorenwohnheim.

Als die Ampel grün wurde, bewegte er sich molluskenhaft langsam vorwärts auf die vierspurige Reeperbahn, blieb allerdings bereits in der kleinen Senke hängen, die Gehweg und Straße verbindet. Er stand nun halb auf der Reeperbahn, die Autos konnten nicht vorbei. Entgegenkommende Passanten telefonierten selbstvergessen und schauten blöde, aber halfen nicht.

Zeit also für das nächste Tagesquantum einer guten Pfadfindertat, die den Freibrief liefern würde für ungehemmte Niedertracht am Rest des Tages. Ich zog ihn erst einmal zurück, was mir der Reeperbahnverkehr mit warmem Lächeln dankte.

Ob der Rollstuhlopa, den ich enthusiastisch an unsere erste Begegnung zu erinnern versuchte, mich noch erkannte, war letztlich schwer zu beurteilen, denn er war weiterhin nur in der Lage, einsilbige Grunzlaute hervorzubringen. Seine Gestik allerdings lieferte zusammen mit seinem gescheiterten Bestreben, die Reeperbahn überqueren zu wollen, eine Richtungsvorgabe.

Ja, er wollte eindeutig auf die andere Straßenseite, und so joggte ich mit ihm bei der nächsten Grünphase über die vier Spuren der Amüsiermeile, während ich aus dem Augenwinkel schon unseren Bus herannahen sah – den ich dann auch noch gerade so erwischte.

Diesmal entfiel also unser Eskortservice. Doch das Ganze wirft Fragen auf. Dieser hilflose alte apoplektische Herr ist a) kräftemäßig keineswegs mehr in der Lage, seinen Rollstuhl auch nur noch einen Zentimeter zu bewegen, sobald die klitzekleinste Steigung droht, und b) unfähig, Zunge und Kehlkopf sinnvoll zu koordinieren – also was um Albert Schweitzers Willen macht er alleine auf dem Kiez? Wieso kriegt er keinen Elektrorolli – oder wenigstens einen Zivi, der ihn herumkarrt?


Kurz: Warum müssen wir ihn immer retten, obwohl der Istzustand unseres Karmas doch bereits weitgehend deckungsgleich ist mit dem Sollzustand?

Natürlich, der letzte Satz ist geprägt von Hybris, Eitelkeit und Selbstüberschätzung, doch er ändert ja nichts an der fürs „Senioren Centrum Altona“ unbequemen Frage.

Ich glaube, ich maile sie ihm einfach mal.


17 Oktober 2009

Mälzers brutale Wahrheit

Die meisten Restaurants, zumal die teuren, tun so, als sei das Essen im 21. Jahrhundert ein durchweg kultureller Akt. Alles, was diese Ästhetisierung eines existenziellen Triebs atmosphärisch trüben könnte, wird verborgen und versteckt.

Diese totale Verbrämung beginnt bei der verschleiernden Lyrik der Speisekarten (Christian Rachs Tafelhaus etwa offeriert gerade „Panaché von Meeresfischen“) und endet mit bisweilen hochdekorativen Arrangements auf dem Teller, die man versucht ist fotografisch zu verewigen (was ich in der Tat bereits getan habe).

Promikoch Tim Mälzer allerdings spielt dieses Spiel nicht mit. In seiner Bullerei in der Schanzenstraße wird man im Flur zwischen Restaurant, Bistro und Klo mit der brutalen Wahrheit hinter all dem Getue um die Ästhetik des Essens konfrontiert.

Dort hängen zwei original Tierhälften in einem grell ausgeleuchteten Innenschaufenster. Echte Leichen. Konservierte Todesangst. Tragödie, Panik, Untergang.

Das Rot des Fleisches scheint auf den ersten Blick zu rot zu sein, das Weiß von Sehnen, Fett und Rippen zu leuchtend – hat hier etwa der Präparator Gunther von Hagens unselig gewirkt?

Das könnte man denken, doch dann fällt der großäugige Blick auf den Boden unter der zerteilten Tierleiche. Da steht ein Metallbottich mit ausgelegter Alufolie, und dort hinein tropft Tropfen für Tropfen das restliche Tierhälftenblut.

Dieses makabre Arrangement holt dich augenblicks zurück auf den Boden der kulinarischen Tatsachen. Und wer danach seine Rinderhüfte mit Senf-Kräuterkruste noch guten Appetits verputzen kann, muss sich gewiss nicht mehr – zum Beispiel von Vegetariern – als Heuchler oder Eskapist beschimpfen lassen.

Wir haben übrigens heute Nachmittag bei Mälzer nur zwei Espresso getrunken. Aber es hingen ja auch nirgends grell ausgeleuchtete tote Arabicabohnen herum, aus denen irgendeine Restflüssigkeit tropfte, zugegeben.


16 Oktober 2009

Blanker Hass

Mancher Dinge kann man sich kaum noch mit dem eigentlich probaten Mittel der Ironie erwehren, weil sie in ihrer Häufung möglichweise keine Koinzidenz mehr sind, sondern etwas Düsteres, Schlimmes symbolisieren, mit dem die Luft, die uns umgibt, derart gesättigt ist, dass eine Explosion unweigerlich wird, vielleicht bald nicht mehr nur verbal.

Soweit die Theorie, empirsch abgeleitet. Die folgenden Ereignisse finden innerhalb einer Minute statt.

Als ich heute Abend auf der Radfahrt nach Hause an der Baracke vorbeikomme, wo täglich Nonnen die Armen mit Speisen versorgen, steht wie üblich eine Gruppe abgerissener Männer (es sind immer Männer) vor dem flachen roten Gebäude.

Sie stehen nicht auf dem Radweg wie sonst oft und gerne, sondern auf dem Bürgersteig. Ich muss also nicht klingeln wie sonst oft und ungerne, sondern kann einfach vorüberfahren. Als ich auf Höhe des Trios bin, dreht sich plötzlich einer um zu mir und brüllt mit der ganzen brachialen Kraft seiner Raucherlunge:


„FICK DICH, DU ARSCHLOCH!“

Diese Äußerung kommt in jeder Hinsicht derart überraschend, dass sie keine Reaktion ermöglicht außer der einer stoischen Weiterfahrt, mit der ich ein souveränes Michnichtgemeintfühlen signalisiere – der einzige schale und zudem geheuchelte Triumph, der in dieser Situation bleibt.

Noch unterm Eindruck dieses grundlosen Aggressionsausbruchs erreiche ich die Große Freiheit. Von rechts kommt eine Frau mit Hund, etwa 30 Meter weiter auf dem Gehweg sehe ich eine weitere Frau mit Hund. Der allerdings kläfft. Als ich vorbeifahre, kreischt die Frau aus der Großen Freiheit plötzlich:


„HALT DIE FRESSE, DU SCHEISSKÖTER!“

Innerhalb einer Minute, auf einer Strecke von kaum 100 Metern: zwei Hassausbrüche von derart sonischer Vehemenz, dass es einem kalt den Rücken hinunterläuft.

Was werden diese Menschen tun, wenn ihnen wirklich mal jemand Grund zum Hassen gibt? Welche beängstigende emotionale Textur liegt über diesem Land – konkretisiere: St. Pauli –, wenn man an jeder Ecke auf komplett abgebaute Beißhemmungen stößt?

Das kann ja eigentlich noch nicht an Schwarz-Gelb liegen.


15 Oktober 2009

Keine engen Räume

Als gnadenlos konsequenter Trainingskursnichtverpasser versäume ich das Länderspiel Deutschland-Finnland und muss mich nach Abpfiff von Ms. Columbo informieren lassen.

Schließlich gleicht das Geschehen auf dem Rasen einem unendlichen Antizipationspingpong in lauter Mikroduellen, und das will sachkundig analysiert und kommentiert sein.

Ungläubig erfahre ich nach meiner Rückkehr von einem mäßigen 1:1. „Sie waren nicht gut organisiert“, rezitiert Ms. Columbo Dellingnetzer. „Und das Spiel nach vorne?“, giere ich bang nach weiteren Details. „Schlecht“, bescheidet sie knapp.

„Haben sie denn wenigstens“, rufe ich entrüstet aus, „die Räume eng gemacht?!“ Ms. Columbo schüttelt bedauernd den Kopf: „Auch das nicht.“

Der gnadenlos konsequente Trainingskursnichtverpasser fällt enttäuscht in den Freischwinger – und hat keine Ahnung, wie er diesen Blogeintrag irgendwie pointiert zu Ende bringen kann.

Foto: Anton (rp)/GNU Free Documentation License



13 Oktober 2009

Die Verrückte

Sie tobte, aber ganz für sich, drüben auf der anderen Seite der Reeperbahn, vor Lukullus.

Eine Afrikanerin, hager und klein, sie trug eine Mütze mit herunterhängenden Ohrschützern, das sah alpin aus. Natürlich bin ich kein Psychiater, aber so, wie sie mit sich selber schrie und schimpfte, musste sie unter einer Psychose leiden. Vielleicht war sie verrückt.

Oje, dachte ich deshalb, als sie die Reeperbahn überquerte. In einer fremden Sprache zeternd kam sie näher. Sie schlurfte. Ihr Blick ging ins Nichts. Oder besser: nach innen. Hinter mir blieb sie stehen. Sie wühlte fluchend in ihrer großen Handtasche, holte einen Zettel heraus und pfefferte ihn weg mit herrischer Geste.

Es handelte sich, wie ich später herausfand, um einen Fahrschein für 1,30 Euro, abgestempelt an der S-Bahnstation Holstenstraße.

Noch immer durchwühlte sie zornig und schimpfend ihre Handtasche, und wieder warf sie etwas weg, ohne hinzusehen, doch mit theatralischem Pathos. Es war eine blauweiße Zahnbürste, eine mit kräftigen starren unbeschmutzten Borsten.

Nachdem die Afrikanerin wütend weitergetrottet war Richtung Pennymarkt, fotografierte ich die Bürste.

Zwei Typen kamen streitend vorbei und blieben stehen, weil die Intensität ihres Streites jene Beiläufigkeit nicht mehr zuließ, die das Spazierengehen gemeinhin mit sich bringt. Plötzlich verstummte der eine und blickte zu Boden. Er zog sein Handy hervor und fotografierte die Zahnbürste.

Dann gingen beide weiter, als hätten sie sich nie gestritten.


Unbedingt fürs nächste Mal merken (1–3)

1. Nicht einfach blind in einen Bus springen, nur weil er die richtige Liniennummer hat und loszufahren droht. Seine Fahrtrichtung ist auch nicht ganz unwichtig. (18:06 Uhr)

2. Beim Hochnehmen der Jacke von der Sitzbank im Schummerrestaurant darauf achten, sie am Kragen zu fassen, nicht am unteren Saum. Zu schwierig, im Kerzenlicht Kamera, Börse und Handy unter Tischen und Stühlen wiederzufinden. Zumal Bedienung und Gäste komisch gucken. Dito Ms. Columbo. (21:16 Uhr)

3. Die elektrische 3-D-Zahnbürste mit den 30 000 Umdrehungen pro Minute unbedingt erst dann anstellen, nachdem ich sie in die Mundhöhle eingeführt habe. (00:34 Uhr)

11 Oktober 2009

Ohne Worte (59): Stimmt (hoffentlich)



Entdeckt im S-Bahnhof Reeperbahn


Die fatalen Folgen von Pfefferminztee auf polnische Kracherblondinen

Ms. Columbo, German Psycho, Pat Bateman, Cinema Noir und ich haben den besten Platz in der schlauchförmigen Bar Gazoline in Ottensen, nämlich direkt am einzigen Fenster mit freiem Blick auf die Bahrenfelder Straße.

Dort passiert zwar nix, aber trotzdem. Könnte ja.

Nach einem mäßigen Bioriesling und einem erheblich passableren Grauburgunder haue ich bereits Thesen raus, die die Welt noch nie gehört hat und deshalb dringend braucht. Zum Beispiel die, dass es bei Frauen auf die inneren Werte ankäme.

„Und auf Doppel-D!“, plärrt GP, was ich mit dem Argument auskontere, das von Doppel-D bergend und stützend Umschlossene zähle ja wohl ebenfalls zu den inneren Werten, denn es sei ja gerade durch die segensreiche Wirkung von Doppel-D nicht sichtbar. Und so weiter.

Später in der Nacht landen wir in der bekanntlich schlimmen Kiezspelunke Windjammer in der Davidstraße. Dort ruft Ms. Columbos argloser Getränkewunsch bei der so polnischen wie tiefdekolletierten Kracherblondine, die hier gemeinsam mit ihrer Schwester als Tresendame fungiert, eine beeindruckende Reaktion hervor.

„Haben Sie Pfefferminztee?“, fragt Ms. Columbo nämlich.

Die polnische Kracherblondine bricht augenblicks mit vors Gesicht geschlagenen Händen auf dem Tresen zusammen und beginnt fassungslos zu gackern, während sie ihre Blondmähne derart schüttelt, als wolle sie damit den nicht vorhandenen Ventilator vertreten.

Ein Ventilator wäre übrigens bitter nötig, denn hier wird geraucht. Vor allem Zigarillos, die Pat Bateman generös verteilt, sogar an ausgewählte andere merkwürdige Menschen, die es aus unerfindlichen Gründen ebenfalls heute Nacht in den Windjammer gezogen hat.

Also kein Pfefferminztee, entnehmen wir der Reaktion hinterm Tresen.


Los geht eine mühselige Suche nach Ersatz. Neben den zwölfhundertvierundachtzig Sorten Alk, die Windjammer-Chef Fred aus durchweg durchsichtigen Erwägungen offeriert, gibt es immerhin auch ein Getränk ganz ohne Umdrehungen, nämlich – tätä – Apfelsaft (links unten).

Und das muss man an dieser Stelle einfach mal so stehenlassen.


09 Oktober 2009

Als Krönung die Gröner

Wir waren im Toten Salon, einer Lesereihe von Gerhard Henschel und Richard Christian Kähler, die als Gastgeber heute den Stargast Frank Schulz umrahmten.

Henschel zitierte irgendwann einen bunten Strauß im Web zusammengekehrter Zungenbrecher aus diversen deutschen Dialekten, und ich wunderte mich nicht schlecht, als ich plötzlich aus seinem Munde meine verbloggte hessische „Haa hi ho“-Sentenz vernahm.

Geschmeichelt redete ich mir unwiderlegbar ein, er möge sie in meinem Blog entdeckt haben, und sonnte mich behaglich in diesem für alle anderen außer Ms. Columbo unsichtbaren Ruhm.

Später fingen die drei an zu „singen“, und zwar ein Stück von Leonard Cohen. Ich könnte viel Geld vor allem von Henschel (r.) erpressenbitten für die Bereitschaft, meinen Mitschnitt davon (Szenenfoto) nicht auf YouTube zu veröffentlichen.

Am 10. Dezember, dem übernächsten Toten Salon, wird übrigens Stargast Anke Gröner von Henschel und Kähler umrahmt, was ihnen eventuell noch mehr Spaß macht als mit Schulz.

08 Oktober 2009

Ein Killerclaim



In der S-Bahn wirbt der Familienfachdienst PFIFF dafür, „ältere Kinder und Jugendliche“ in Pflege zu nehmen.

Ob der Spruch „Mit denen können Sie was erleben“ allerdings ein Killerclaim ist, der die Bevölkerung dazu bringt, PFIFF die Racker nur so aus den Händen zu reißen, wage ich zu bezweifeln.


In meinen Ohren klingt er eher nach einer Drohung.

Insofern ist die Platzierung dieser Reklame von geradezu bezirzender Hintersinnigkeit: Sie klebt direkt neben dem Notruf.

07 Oktober 2009

Auf der Reeperbahn morgens um 9

Bushaltestelle Davidwache an der Reeperbahn.

Der linke Arm des Schläfers rutscht immer wieder vom Oberschenkel, doch er wacht davon nicht auf. Zwischen seinen Beinen steht ein Tetrapack Sangria Il Tinto.

Eigentlich sollte eine Packung, auf der „Il Tinto“ steht, dunkelrot sein. Aber nein, sie ist gelb; homogenes Produktdesign sieht anders aus.

Der Bus hat Verspätung, elende Linie 37.

Der linke Arm des Schläfers rutscht wieder vom Oberschenkel. Er baumelt steif über der undefinierbaren eingetrockneten Lache. Im Dreiviertelschlaf wuchtet er den Arm wieder hoch.

Wo bleibt bloß der Bus? Im Sexshop hinterm Wartehäuschen gibt es kaum etwas Neues im Sortiment. Höchstens die knetbaren künstlichen Brüste.

Ein Mann mit Hund kommt und setzt sich neben den Schläfer auf die Bank. Umstandslos greift er nach dem Tetrapack Sangria Il Tinto, schraubt ihn auf, setzt ihn an die Lippen, säuft ihn leer und wirft ihn weg.

Dann steht er auf, geht zum Sexshopschaufenster und zündet sich eine Kippe an. Der Hund ist hinter ihm hergetrottet. Er schaut zu ihm auf.

Dann kommt der Bus, endlich.


06 Oktober 2009

Die untergewichtigen Nudeln

Unlängst wurde hier an dieser Stelle ein Lebensmittelskandal empörenden Ausmaßes aufgedeckt.

Im Mittelpunkt stand Brokkoli von Edeka: Er wog deutlich zu viel bzw. kostete zu wenig. Seit gestern ist die Welt aber wieder ein bisschen in Ordnung. Denn spaßeshalber wogen wir die Ein-Pfund-„Gut & Günstig“-Tüte Penne Rigate einmal nach und ermittelten inklusive Folienhülle ein beruhigendes Untergewicht: knappe 490 Gramm.

Die B-Probe mithilfe einer eilends herbeigeholten Zweitpackung verlief zu unserer namenlosen Erleichterung fast identisch. Allerdings – und das ist der Vorbehalt – handelt es sich bei unserer Waage (Foto) um ein prähistorisches Gerät, das seit Isaac Newton nicht mehr geeicht wurde und komplett ohne digitalen Kram und so was auskommt.

Sie funktioniert rein MECHANISCH; die Älteren unter uns werden sich mühsam erinnern. Möglicherweise misst sie daher Gewichte nicht genau so exakt wie eine Atomuhr die Zeit; von daher wird demnächst von Sherlock Matt und Frau Watson vor Ort eine heimliche C-Probe vorgenommen.

Bis dahin hat Edeka weiterhin als unschuldig zu gelten, allerdings nur in der Penne-Rigate-Sache. Bei der Brokkoliaffäre ist der Laden definitiv aufgeflogen, aber so was von.

Übrigens sind kernlose Trauben gleichsam die Ochsen der Flora. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.


04 Oktober 2009

Fundstücke (58): Sonderpreis für Westerwähler



14,7 Prozent aller Flohmarktbesucher auf dem Schlachthof mussten am Tag der Deutschen Einheit innerlich abwägen: Stillschweigend einfach zweifünfzig für die Wurst hinblättern – oder sich trotzigstolz als Westerwellewähler outen und 50 Cent mehr berappen?

Wahrscheinlich wurden jedoch viel weniger Wurstkunden in diese innere Zerreißprobe gestürzt als im Bundesschnitt. In den beiden Wahlkreisen Eimsbüttel und Hamburg-Mitte, auf die St. Pauli sich verteilt, kam die gelbe Gefahr nämlich nur auf rund 8 Prozent. Und hier am Wurststand, ganz nah an der Schanze also, höchstens auf 3.

Das ist in Euro genau der Preis, den einen FDP-Wähler die Wurst gekostet hätte. So fügt sich alles wieder mal auf wundersame Weise zu einem harmonischen Ganzen.

03 Oktober 2009

Kein Abend auf dem Kutterchen

Wir wollen zu irgendeinem hippen event cooking in die Hafencity.

„Was erwartet uns denn?“, fragt Ms. Columbo mehr bang als neugierig. „Wahrscheinlich müssen wir eigenhändg Seeigel töten“, deliriere ich.

„Das wäre kein Problem“, erwidert sie, „Hauptsache, kein Ziegenkäse.“

Als wir vor dem cooking-Kutter stehen, sinkt unsere Begeisterung ähnlich stark wie seit Wochenbeginn das Thermometer.

Am Kai steht ein verschiffungsbereiter Campingkocher und daneben eine große abgedeckte Schüssel. Menschen schleppen Getränkekisten auf den Kutter, der – von seinen Ausmaßen her eher ein Kutterchen – sardonisch im Takt des ersten scharfen Herbstwindes auf den Hafencitywellen herumschaukelt.


Plötzlich scheint Ungemach zu drohen, nämlich Erbsensupp’ in der Kajüte, verschärft durch abendfüllendes Schlingern und Schwappen und die Eventualität fragwürdiger sanitärer Anlagen.

Wir verdrücken uns unverzehrter Dinge. Zu Hause gibt es definitiv keinen Ziegenkäse (was ich bedaure). Und wenn, dann würde er nicht schlingern, was ein Wert an sich ist.


02 Oktober 2009

Nur der Hund ist stubenrein

Wir sind zurück auf St. Pauli, dafür gibt es auch äußere Indizien. Zum Beispiel die Tatsache, dass es in der Postfiliale an der Ecke nach Urin riecht.

Nicht vor, in der Fililale. Es ist wohl besser, die näheren Ursachen dieses Umstandes nicht zu kennen.


Drinnen herrscht der üblich raue Ton, jeder motzt und meckert, auch und gerade die Leute hinterm Tresen, und die olfaktorischen Basisbedingungen tragen nicht gerade dazu bei, die allgemeine Stimmung ins Karnevaleske kippen zu lassen.

Eine Kundin beklagt sich in gebrochenem Deutsch, ihre Post käme nicht mehr an. Wie sich herausstellt (in der Schlange bleibt kein Problem geheim), hat sie es nach ihrem Umzug versäumt, ein Klingelschild anzubringen.

„Sie müssen ein Klingelschild anbringen“, belehrt sie daher die blonde Postbrillenschlange mit der Hannelore-Kohl-Gedächtnisfrisur, „und zwar mit Ihrem Namen drauf. Verstehen Sie? Nur dann kann der Zusteller die Post in den richtigen Kasten werfen.“

Die Kundin schaut verdattert. Nur peu à peu scheint sie zu begreifen, dass die heutigen Zusteller sie nicht mehr telepathisch orten können; dazu werden sie einfach zu schlecht bezahlt.

Zu Füßen der Kundin zerrt schwanzwedelnd ein Zauselhund mit gelblich verfärbtem Fell an der Leine. Zum Glück bellt er nicht. Auch scheint er stubenrein zu sein und demnach nicht verantwortlich für den Uringeruch, der hinsichtlich seiner Aromastruktur sowieso deutlich auf humanoide Herkunft verweist.


In dieser Filiale zu arbeiten ist gewiss nicht der feuchte Traum eines jeden Postangestellten, gerade am Monatsanfang nicht, wenn die Hartz-IV-Armada dank wochenlangen Darbens in besonders derangiertem Zustand den Tresen bestürmt, um ihren kärglichen Obolus abzuheben, der wiederum nur bis maximal Mitte des Monats reicht, was sie für die restlichen zwei Wochen einer progressiven Derangierung aussetzt, die hier am nächsten Monatsanfang erneut zu einem verzweifelten Ansturm samt eventueller Duftmarkensetzung in der Filiale führt.

Wenn man länger in der Schlange steht, gewöhnt man sich übrigens ganz gut an den Geruch. Und irgendwan riecht man gar nichts mehr.

29 September 2009

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (11)




Höchstens noch in Mexiko oder Österreich geht man ähnlich fröhlich-makaber mit Todesallegorien um wie auf St. Pauli. Hier allerdings verbindet sich das manchmal auch noch aufs Trefflichste mit der Lieblingsbeschäftigung der meisten Kiezianer: dem Trinken.

Das Dekor auf dem Spielbudenplatz entstand jedenfalls in sorgsamer Kleinarbeit aus lauter Kronkorken. Um das zu erkennen, muss man allerdings so nah rangehen, dass der Totenschädel sich verflüchtigt; stattdessen tritt dann auf wundersame Weise das Astra-Logo zutage.
 

 
Und das ist nichts weniger als höchst gefickt eingeschädelt (um aus sehr gerechtfertigtem Anlass noch mal einen gloriosen „Samstagnacht“-Kalauer zu reanimieren).

28 September 2009

Vom aufopferungsvollen Trinken

„Ist es denn schicklich, wenn man seiner überforderten Tischdame beim Leeren ihrer diversen Weingläser behilflich ist?“, fragte ich heute Abend aus sehr gutem Grund den Stilpapst Uwe Fenner, bei dem Ms. Columbo und ich ein Etiketteseminar absolvierten.

„Es ist nicht nur schicklich“, rief daraufhin der Grandseigneur mit formvollendeter Verve aus, „es ist sogar das Gebot der Stunde!“

So konnte ich also die Vorgabe der Altruzentrik, die laut Fenner den guten Umgangsformen das theoretische Fundament liefert, mit einem erfreulich hohen Anteil Hedonismus garnieren. Eine Win-win-Situation in höchster Vollendung.

Hicks.

27 September 2009

Was macht eigentlich …?

„Nirgendwo in der EU“, las ich neulich im Spiegel, „sind die Nachbarschaftsbeziehungen so schlecht wie zwischen Bratislava und Budapest.“

Auf unserer Flusskreuzfahrt über die Donau verschlug es uns (u. a.) genau dorthin: nach Bratislava und Budapest. Die Sonne brannte über beiden allerdings gleich heiß, darüber sollten sie mal nachdenken.

In der hübschen Fußgängerzone der Bratislaver Altstadt lugte eine Metallfigur aus dem Gully – um den Frauen unter die Röcke zu schauen, wie unsere Reiseführerin erklärte. Zu sehen gibt es durchaus einiges, denn die Slowaken sind überwiegend rank und schlank, obwohl sie sich als Nationalgericht eine deftige Nockerlnspezialität mit Speck verordnet haben und mit verführerisch preiswertem Bier versorgt werden.

Themen- und Städtewechsel: Angesichts des Niedergangs der hiesigen Sozialdemokratie fragt sich vielleicht mancher, was eigentlich die hessische Sozisargnagelschmiedin Andra Ypsilanti inzwischen so macht. Nun, sie betreibt anscheinend ein Schuhgeschäft in der Budapester Pàrizsi utca, das ist mitten im Zentrum (Beweisfoto).

Um die Ecke von Ypsilantis neuem Lebensmittelpunkt stießen wir auf ein Lederwarengeschäft, das die eh ins lächerlich Lockvogelige lappende Rabattitis der jüngsten Zeit („Sale!“) ins vollkommen Absurde übergeigte.

Die dort von einer gelangweilten kugelförmigen Ungarin, der in Bratislava nicht mal eine Gullyfigur unter den Rock hätte gucken wollen, für 52 Euro offerierten Lederjacken sollten nämlich laut grellrotem Preisschild mal 29.900 Euro gekostet haben.

„Du meinst Forint“, versuchte Ms. Columbo ihre Ungläubigkeit mir anzulasten, doch nein: Der alte Forintpreis stand daneben, und der betrug mehrere Millionen. Für 52 Euro waren die Jacken nicht mal schlecht, doch die überwältigende Dimension des Rabattschmuhs führte bei uns zu einem intuitiven Kaufmoratorium. Beim Rest der Budapester Flaneure wohl auch, denn der Laden blieb trotz seiner wahrhaft sensationellen Offerten und draußen herumwuselnden Promotern gähnend leer.

Apropos Gähnen: Nach zweimaligem Aufstehen um 6 Uhr früh in Folge heißt es jetzt erst mal ausschlafen. Hoffentlich ohne Ypsilantiträume.

25 September 2009

Bitte um Hilfe bei meiner Wahlentscheidung (4): Dr. Guido Westerwelle, FPD

Vorvorgestern habe ich an dieser Stelle meine Mail an die Bundesvorsitzenden von sieben Parteien dokumentiert. Meine Kernfragen waren glasklar gestellt. Sie lauteten:

1) Werden Sie einen Koalitionsvertrag akzeptieren, der die Vorratsdatenspeicherung nicht explizit abschaffen will?

2) Werden Sie einen Koalitionsvertrag unterschreiben, der sich nicht ausdrücklich gegen Netzsperren ausspricht?

3) Werden Sie einen Koalitionsvertrag akzeptieren, der die Verletzung der Privatsphäre mithilfe staatlicher Spionagesoftware nicht explizit ausschließt?

Meine Mail ging natürlich auch an FDP-Chef Dr. Guido Westerwelle (Foto: Dirk Vorderstraße). Er brauchte eine ganze Weile für die Antwort, doch schickte wenigstens eine (im Gegensatz zu CDU, Grüne, Linke und NPD), und zwar von seinem eigenen Account. Hier der Text:

Sehr geehrter Herr Wagner,

haben Sie vielen Dank für Ihre Nachricht vom 25. August 2009 und für Ihr Interesse an liberaler Programmatik. Darüber habe ich mich gefreut.

Seien Sie versichert, dass die Freien Demokraten und ich ganz persönlich auch in Zukunft konsequent unseren Kurs für mehr Respekt vor den Bürgerrechten halten werden. Das Internet ist kein rechtsfreier Raum – aber wir wenden uns entschieden gegen Maßnahmen, mit denen man keine Straftaten bekämpft, sondern eine Zensur durch die Hintertür einführt.

Zum Thema Internetzensur haben wir Liberale auf unserem Bundesparteitag in Hannover einen eindeutigen Beschluss gefasst. Mit meiner Antwort übersende (ich) (fehlte in der Originalmail, mw) Ihnen den Link zu diesem Beschluss (http://60.parteitag.fdp.de/files/3607/B-60BPT-D2.pdf). Den Kurs, den Sie darin erkennen, werden wir Freie Demokraten auch in Zukunft konsequent verfolgen.

Wie viel wir von unserer liberalen Programmatik für Deutschland umsetzen können, hängt zu allererst von unserer eigenen Stärke ab. Darum kämpfe ich für eine starke FDP in den Ländern und im Bund. Denn je mehr Wählerinnen und Wähler unsere liberale Programmatik unterstützen, desto kraftvoller können wir diese dann auch vertreten. Deshalb werbe ich um Ihr Vertrauen und bitte Sie um Ihre Stimmen für die FDP.

Nochmals vielen Dank für Ihre Zuschrift. Ihnen persönlich alles Gute.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Guido Westerwelle, MdB
Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion
Bundesvorsitzender der FDP

Vom Abarbeiten meiner drei Fragen kann bei Westerwelle keine Rede sein; er äußert sich eher allgemein und scheut auch Phrasen nicht („Das Internet ist kein rechtsfreier Raum“). Der Verweis auf ein PDF-Dokument ist zudem unschön.

Hübsch hintersinnig ist die Passage, in der „von unserer eigenen Stärke“ die Rede ist, von der Westerwelle die Umsetzung liberaler Positionen in einer Koalition abhängig macht. Sie bedeutet im Klartext: Wenn ich die FDP nicht wähle, kann sie zwar möglicherweise trotzdem koalieren, ist aber zu kraftlos, um gegenüber dem Koalitionspartner liberale Positionen durchsetzen zu können.

Ich wäre also schuld, wenn trotz FDP-Regierungsbeteiligung Vorratsdatenspeicherungen, Netzsperren und Bundestrojaner nicht abgeschafft würden. Eine rhetorische Volte Westerwelles, vor der ich nur den Hut ziehen kann.

Und jetzt, meine Damen und Herren, wünsche ich am Sonntag gute Unterhaltung. Ich habe mich bereits entschieden.

24 September 2009

Bitte um Hilfe bei meiner Wahlentscheidung (3): Steffen Buchholz, SPD

Vorgestern habe ich an dieser Stelle meine Mail an die Bundesvorsitzenden von sieben Parteien dokumentiert. Meine Kernfragen waren glasklar gestellt. Sie lauteten:
1) Werden Sie einen Koalitionsvertrag akzeptieren, der die Vorratsdatenspeicherung nicht explizit abschaffen will?

2) Werden Sie einen Koalitionsvertrag unterschreiben, der sich nicht ausdrücklich gegen Netzsperren ausspricht?

3) Werden Sie einen Koalitionsvertrag akzeptieren, der die Verletzung der Privatsphäre mithilfe staatlicher Spionagesoftware nicht explizit ausschließt?
Meine Mail an die SPD ging an Franz Müntefering, doch geantwortet hat Steffen Buchholz (Foto
), Mitglied des SPD-Parteivorstandes und zuständig für den Bürgerservice. Seine Mail ist von Anfang an bemerkenswert, denn er verwechselt mich mit seinem eigenen Parteivorsitzenden, wie man bereits der Anrede entnehmen kann …:
Sehr geehrter Herr Müntefering,

vielen Dank für Ihre E-Mail, die uns am 25.08.2009 erreicht hat.


Gerne nehmen wir zum Gesetz zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen, das am 18. Juni 2009 vom Bundestag beschlossen wurde (Drucksache 16/12850) Stellung.


Wir müssen ein wenig ausholen, um die doch recht komplexen Zusammenhänge zu diesem sensiblen Thema deutlich machen zu können.
Wir sind überzeugt, dass alle einen effektiven Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung wollen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat dazu mit einem Anfang Mai beschlossenen 10-Punkte-Plan ein umfassendes Konzept mit konkreten zusätzlichen Maßnahmen vorgelegt. Eine der Kernforderungen lautete, dass die Strafverfolgungsbehörden dauerhaft personell und technisch gut ausgestattet sind und die internationale Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden weiter gestärkt wird.

In den vergangenen Jahren haben wir zudem bereits das Herstellen, die Verbreitung und den Besitz von Kinderpornografie lückenlos unter Strafe gestellt.


Der Kampf gegen Kinderpornografie hat viele Facetten, die sich ergänzen und nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten. Unabhängig von der Frage, ob der Missbrauch von Kindern selbst zugenommen hat, stellt sich zunehmend das Problem der Verbreitung von kinderpornografischen Inhalten im Internet. Dies liegt an den Besonderheiten des Internets, in dem auch rechtswidrige Inhalte schnell verbreitet und anonym sowie ohne soziale Kontrolle konsumiert werden können.


Die Bekämpfung der Verbreitung von Kinderpornografie im Internet ist deshalb ein wichtiges Thema. Das dürfte weitgehend unbestritten sein. Auch ist das Internet kein rechtsfreier Raum. Ein rechtswidriges Verhalten dort kann selbstverständlich strafbar sein oder zivilrechtlich verfolgt werden.


Fraglich ist letztlich, mit welchen Maßnahmen die Verbreitung kinderpornografischer Inhalte im Internet angemessen, rechtsstaatlich sauber und möglichst effektiv verhindert oder zumindest erschwert werden kann.


Bereits nach heutiger Rechtslage werden Kinderpornografie-Seiten, die sich auf deutschen Servern befinden, von den Internetprovidern heruntergenommen. Ein solcher direkter Zugriff ist im Ausland nicht möglich. Nur deshalb stellt sich die Frage nach Zugangssperren. Es geht hierbei aber nicht um eine Internetzensur,– es geht um die Bekämpfung krimineller Handlungen in einem ganz besonders gelagerten Fall.


Mit dem Gesetz wird das Ziel verfolgt, den Zugang zu kinderpornografischen Inhalten zu erschweren. Uns ist bekannt, dass versierte Nutzer diese Sperrung technisch umgehen können. Es kommt aber auch darauf an, die Hemmschwelle, die an dieser Stelle in den letzten Jahren deutlich gesunken ist, wieder signifikant zu erhöhen. Dem dient neben der Sperrung einzelner Seiten die Umleitung auf eine Stoppseite mit entsprechenden Informationen.


Mit dem nun beschlossenen Gesetz wurde der ursprüngliche Gesetzentwurf ganz wesentlich überarbeitet und verbessert, wobei die SPD-Bundestagsfraktion ihre wichtigsten Änderungsvorschläge in den Verhandlungen mit der Unionsfraktion durchsetzen konnte. Wir haben damit auch die wesentlichen Kritikpunkte, die sich aus der Bundestagsanhörung und der Stellungnahme des Bundesrates ergeben haben, positiv aufgegriffen.


Der endgültige Beschluss hat insbesondere folgende Änderungen gebracht.


1. „Löschen vor Sperren“: Die Regelung kodifiziert den Grundsatz „Löschen vor Sperren“. Danach kommt eine Sperrung durch die nicht verantwortlichen Internet-Zugangsvermittler nur dann in Betracht, wenn eine Verhinderung der Verbreitung der kinderpornografischen Inhalte durch Maßnahmen gegenüber dem Verantwortlichen nicht möglich oder nicht in angemessener Zeit Erfolg versprechend ist.


2. Kontrolle der BKA-Liste: Die Neuregelung nimmt den Wunsch nach mehr Transparenz auf und etabliert ein unabhängiges Expertengremium beim Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit. Mit Blick auf die vornehmlich juristischen Aufgaben, nämlich zu bewerten, ob Inhalte die Voraussetzungen des § 184 b StGB erfüllen, muss die Mehrheit der Mitglieder des fünfköpfigen Gremiums die Befähigung zum Richteramt haben. Die Mitglieder sind berechtigt, die Sperrliste jederzeit einzusehen und zu überprüfen. Mindestens einmal im Quartal erfolgt zudem zusätzlich auf der Basis einer relevanten Anzahl von Stichproben eine Prüfung, ob die Einträge auf der Sperrliste den Voraussetzungen des Paragraphen 1 Satz 1 erfüllen. Sollte die Mehrheit des Gremiums zu der Auffassung kommen, dies sei nicht der Fall, hat das Bundeskriminalamt den Eintrag bei der nächsten Aktualisierung von der Liste zu streichen. Das Expertengremium wird vom Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit für die Dauer der Geltung des Gesetzes (31. Dezember 2012) bestellt.


3. Datenschutz: Das Gesetz dient ausschließlich der Prävention. Verkehrs- und Nutzungsdaten, die aufgrund der Zugangserschwerung bei der Umleitung auf die Stopp-Meldung anfallen, dürfen nicht für Zwecke der Strafverfolgung verwendet werden. Damit wird auch ausgeschlossen, dass sich durch Spam-Mails fehlgeleitete Nutzer/innen einem Ermittlungsverfahren ausgesetzt sehen könnten. Zudem ist keine Speicherung personenbezogener Daten bei den Internetprovidern mehr vorgesehen.


4. Spezialgesetzliche Regelung: Die im Gesetzentwurf bisher für das Telemediengesetz vorgeschlagenen Regelungen zur Zugangserschwerung werden in eine spezialgesetzliche Regelung überführt. Ausschließliches Ziel des Gesetzes ist die Erschwerung des Internetzugangs zu kinderpornografischen Inhalten. Mit dem neuen Regelungsstandort in einem besonderen Gesetz soll noch deutlicher werden, dass eine Zugangserschwerung auf weitere Inhalte ausgeschlossen bleiben soll. Der Änderungsantrag geht damit auf die vielfach geäußerten Befürchtungen ein, die Zugangserschwerung könnte mittelfristig weiter ausgedehnt werden.


5. Befristung: Die Geltungsdauer des Gesetzes ist bis zum 31.12.2012 befristet. Auf der Grundlage der nach zwei Jahren vorzunehmenden Evaluierung wird der Gesetzgeber in die Lage versetzt, zu prüfen und zu bewerten, ob die Maßnahme erfolgreich war, um endgültig zu entscheiden.


Mit der neuen gesetzlichen Regelung bekämpfen wir nicht nur die Verbreitung kinderpornografischer Inhalte im Internet, sondern schützen zugleich Internetnutzer, sichern rechtsstaatliche Grundsätze und ermöglichen ein transparentes Verfahren.


Freundliche Grüße


Steffen Buchholz

SPD Parteivorstand

Partei- und Bürgerservice

mailto: parteivorstand@spd.de
Ganz offensichtlich handelt es sich bei Buchholz’ Mail um einen üppigen Textbaustein, eine Sprachregelung, die allgemein verbreitet wird, ohne auf konkrete Anliegen einzugehen.

Meine drei Fragen spielen im Einzelnen keine Rolle; alles dreht sich um Kinderpornografie, hängt also irgendwie mit Frage 2 zusammen. Die erbetenen „unmissverständlichen Antworten ohne offenstehende Hintertür“ sind dem Text nicht zu entnehmen. Wichtigste Erkenntnis: Die Handschrift der Sozialdemokraten beim Zensursula-Gesetz ist nach eigenem Eingeständnis klar zu erkennen, denn „die SPD-Bundestagsfraktion (konnte) ihre wichtigsten Änderungsvorschläge in den Verhandlungen mit der Unionsfraktion durchsetzen“.


Wie tückisch es sein kann, Bürgeranfragen Textbausteine entgegenzuhalten, zeigt der Fauxpas mit der falschen Anrede. Ich bin nicht Müntefering – und nicht nur deswegen unzufrieden mit Herrn Buchholz’ kümmerlichem Kommunikationsversuch.


Morgen folgt zum Abschluss FDP-Chef Westerwelle, der zweite Bundesvorsitzende, der persönlich geantwortet hat – und mir gleich doppelt für die Mail dankt …

23 September 2009

Bitte um Hilfe bei meiner Wahlentscheidung (2): Jens Seipenbusch, Piratenpartei

Gestern habe ich an dieser Stelle meine Mail an die Bundesvorsitzenden von sieben Parteien dokumentiert. Meine Kernfragen waren glasklar gestellt. Sie lauteten:

1) Werden Sie einen Koalitionsvertrag akzeptieren, der die Vorratsdatenspeicherung nicht explizit abschaffen will?

2) Werden Sie einen Koalitionsvertrag unterschreiben, der sich nicht ausdrücklich gegen Netzsperren ausspricht?

3) Werden Sie einen Koalitionsvertrag akzeptieren, der die Verletzung der Privatsphäre mithilfe staatlicher Spionagesoftware nicht explizit ausschließt?

Als erster antwortete der Parteivorsitzende der Piraten, Jens Seipenbusch (Foto: Rainer Klute). Hier seine Mail:

Sehr geehrter Herr Wagner,

vielen Dank für Ihre Fragen, Ihr Blog ist mir übrigens schon mal empfohlen worden von einem Freund aus Hamburg :-)

Hinsichtlich Ihrer Fragen kann ich klarstellen:

Wir werden unter meiner Leitung nur Koalitionsverträge akzeptieren, die auch folgende Ziele enthalten:
– Abschaffung der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland (also keine verdachtsunabhängige und anlasslose Aufzeichnung der Verbindungsdatenvon Telekommunikation). Die entsprechende Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Recht ist zurückzunehmen.

– keine Einführung von sog. Netzsperren, Rücknahme des Zensursula-Gesetzes, kein Aufbau von Zensurinfrastruktur für das Internet
– Verbot (bzw. keine Erlaubnis) des sog. Bundestrojaners (staatlich entwickelte Malware zum Zwecke des unbemerkten Eindringens in private Computer durch ihren Internetanschluss).

Zur Erklärung: Die Abschaffung der Vorratsdatenspeicherung ist eines der wesentlichen Kernziele der Piratenpartei. Viele PIRATEN arbeiten auch im Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung mit und insofern gibt es keinen Zweifel, dass wir keine Koalition eingehen können und wollen, die nicht die Abschaffung dieser aus unserer Sicht auch verfassungswidrigen Massnahme anstrebt.

Das einer Zensur im Internet Vorschub leistende sogenannte Zugangserschwerungsgesetz kann getrost als rotes Tuch der Netzgemeinde bezeichnet werden, da es in bisher einzigartiger Weise all das in sich vereint, wogegen die PIRATEN angetreten sind zu kämpfen:

– Die Missachtung von Grundgesetz und Bürgerrechten, wenn es den Regierenden nützlich erscheint.
– Das totale Unverständnis gegenüber dem neuartigen Medium Internet und der Versuch, es durch Zensierung u. ä. solange einzuschränken, bis es sich nicht mehr von den alten (undemokratischeren und unfreieren) Medien unterscheidet.
– Der unerträgliche Populismus, der nicht nur begleitend auftritt, sondern hier sogar jegliches rationale Argument ersetzt und die zahlreichen, sachlich fundierten Gegenargumente schlicht übertünchen soll.

Der Bundestrojaner reiht sich als Massnahme in zwei äußerst bedenkliche Entwicklungen ein, zu deren Bekämpfung die PIRATEN angetreten sind:
1) 'jeder ist verdächtig' – Die Grundhaltung, man müsse alle seine Bürger nach Möglichkeit umfassend überwachen (können), ist der Keim eines Überwachungsstaates. Diese Grundhaltung gilt es zu revidieren.
2) 'der Zweck heiligt die Mittel' – Seit Einführung des großen Lauschangriffs und besonders nach den Anschlägen des 11.9.2001 hat auch der deutsche Staat immer weniger Hemmungen, Mittel einzusetzen, die nicht mit unserer Demokratie vereinbar sind. Hausdurchsuchungen im Falle von polizeilichen Ermittlungen finden ja aus gutem Grunde nicht heimlich statt – entsprechendes muss auch für Durchsuchungen von Computern u. ä. gelten, jegliche Heimlichtuerei passt nicht zur Ausübung staatlicher Gewalt. Die Vermischung von Polizei und Geheimdiensten ist unter allen Umständen zu vermeiden bzw. rückgängig zu machen.

Wir als Piratenpartei können diese Standpunkte übrigens u. a. deshalb glaubwürdig zusichern, weil wir uns ja programmatisch auf wenige Kernthemen beschränkt haben. In einer eventuellen Koalitionsvereinbarung wird es daher insbesondere bei der Verteidigung der Bürgerrechte und der Privatsphäre kein Zurückweichen geben. In diesem Punkte habe ich auch keinen Zweifel, dass ich unseren Mitgliedern aus dem Herzen spreche.

Beste Grüße,
Jens Seipenbusch
Vorsitzender Piratenpartei Deutschland
E-Mail: js/at/piratenpartei.de
Es war zu erwarten, dass ich bei den Piraten offene Türen einrennen würde. Trotzdem finde ich es erfreulich, wie strukturiert Seipenbusch meine drei Fragen abarbeitet. Er hat sie gelesen! Und konkret beantwortet!

Uns werden in den kommenden Tagen andere Beispiele begegnen. Morgen zum Beispiel die SPD, oh weh …



22 September 2009

Bitte um Hilfe bei meiner Wahlentscheidung (1): Der Brief an alle

Vor einigen Wochen schrieb ich an die Bundesvorsitzenden der Parteien CDU, SPD, FDP, Linke, Grüne, Piraten und – jawoll – NPD eine Mail mit dem Betreff „Bitte um Hilfe bei meiner Wahlentscheidung“. Der Text ging so:
Von: Matthias Wagner
Datum: 25. August 2009 22:14:47 MESZ

Sehr geehrte/r Frau/Herr ?,

in jüngster Zeit gibt es in Deutschland politische Entwicklungen, die mich sehr beunruhigen. Es wurden, wie mir scheint, Freiheits- und Bürgerrechte in einem Ausmaß eingeschränkt, wie es in der Geschichte der Bundesrepublik bisher nie der Fall war, zumindest nicht systematisch.

Beispiele: Vorratsdatenspeicherung, Netzsperren oder auch das staatliche Hacken privater Computer („Bundestrojaner“).

Als Netzbürger ist für mich die Haltung der Parteien zu diesen Punkten von wahlentscheidender Bedeutung. Daher möchte ich von Ihnen wissen, welche Positionen Sie im Fall einer möglichen Regierungsbeteiligung in den unweigerlichen Koalitionsverhandlungen vertreten werden und was mit Ihnen keinesfalls zu machen ist.

Daher möchte ich Sie um Antworten auf folgende drei Fragen bitten:

1) Werden Sie einen Koalitionsvertrag akzeptieren, der die Vorratsdatenspeicherung nicht explizit abschaffen will?

2) Werden Sie einen Koalitionsvertrag unterschreiben, der sich nicht ausdrücklich gegen Netzsperren ausspricht?

3) Werden Sie einen Koalitionsvertrag akzeptieren, der die Verletzung der Privatsphäre mithilfe staatlicher Spionagesoftware nicht explizit ausschließt?

Für unmissverständliche Antworten ohne offenstehende Hintertür, die mir eine klare Wahlentscheidung ermöglichten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.

Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass ich Ihre Antworten in meinem Blog „Die Rückseite der Reeperbahn“ (http://www.mattwagner.de/blog.htm) veröffentlichen werde. Bitte antworten Sie nicht, wenn Ihnen das nicht recht ist.

Im vergangenen Monat verzeichnete mein Blog 44.171 Besucher und 67.483 Seitenaufrufe.

Vielen Dank für Ihre Mühe.

Mit freundlichen Grüßen

Matthias Wagner

Geantwortet haben drei (in chronologischer Reihenfolge): Jens Seipenbusch (Piraten), Steffen Buchholz (SPD-Bundesvorstand; statt Münte) und Dr. Guido Westerwelle (FDP). Merkel (CDU), Lafontaine (Linke), Roth (Grüne) und Voigt (NPD) wussten keine Antwort, oder Blogger sind ihnen egal (möglicherweise auch nur einer: ich).

Hier im Blog dokumentiere ich ab morgen die Antworten, auf dass nicht nur mir geholfen werde bei meiner Wahlentscheidung, sondern auch dem Rest der (Netz-)Welt.

Los geht es mit Jens Seipenbusch von den Piraten.

21 September 2009

Passau per pedes



Aus leidvoller Erfahrung mit Denglischmüll dachte ich doch wahrhaftig, es stecke irgendein Sinn hinter „oile ten am Dom“.
Vielleicht nannte sich so ja ein besonders originell denkendes Passauer Olivenölgeschäft, welches die europaweit zehn besten nativ gepressten Kreszenzen im Angebot hatte. Doch in Wahrheit hatten subtile Vandalen einfach zwei Buchstaben aus dem Wort „Toiletten“ rückstandlos entfernt.

Ein paar Straßen weiter stießen wir auf den abgebildeten Schokobusen und den angemeldeten Bedarf an weiteren Modellen. Mein drängender Vorschlag, Ms. Columbo möge sich unbedingt zur Verfügung stellen, stieß nicht auf Begeisterung. Auch meine Versicherung, ich würde danach selbstverständlich die Schokoladenreplikation käuflich erwerben, vermochte sie nicht umzustimmen.

Also hieß es weiterziehen. Der bald entdeckte Hinweis auf ein Weinfest fesselte mich sofort. Und bei der mir selbst gestellten Frage, ob ich mich lieber am Tropfen eines Winzers namens Pichler laben würde oder an dem eines Miesbauern, fiel die Entscheidung eindeutig aus.

Feuerlöscher werde ich übrigens auch künftig nicht bei Herrn Wiesgickl aus Oberkotzau kaufen. Obwohl eigentlich überhaupt nichts dagegenspricht.

20 September 2009

Schweinebraten auf Beinen

So, so, das ist also dieses Bayern, von dem man so viel hört.

Wir waren ja praktisch noch nie hier, außer in München, und das ist SPD-regiert, zählt also nicht. Wir jedenfalls sind in Passau und gehen direkt mal in einen sog. „Biergarten“.

Er heißt Bayerischer Löwe, die Tischdecke ist weißblau kariert unter einem Baldachin aus wurffreudigen Kastanien, das Bier saubillig und extrem wohlschmeckend, zumindest das Innstädter Extra Schwarze. Mehr habe ich noch nicht probiert, das kommt aber noch.

Auf der Speisekarte stehen tausend tote Tiere – und skurrilerweise „Bayerische Antipasti“, bestehend u. a. aus „Obatzda“ und „Rindfleischsalat“. Wir ordern knusprigen Schweinebraten und Spanferkel mit Knödeln.

Feine Sache, nur die Kümmelkörner im Krautsalat machen mich verrückt. Gegen Kümmel hege ich eine gewiss pränatal bedingte Abneigung, die ins Phobische lappt, doch dafür können ja die Bayern nix. Kein Vorwurf also.

Das Bedienungspersonal trägt durchweg schwarze T-Shirts. Auf dem Rücken stehen die Namen ihrer Träger sowie ein Spruch, den sie sich wohl jeweils selbst ausgesucht haben.

Anders ist Markus’ Satz „Für Bier würd I sogar arbeiten“ kaum zu erklären. Elisabeth schaut missmutig drein, punktet aber mit „Leistung die begeistert“, während sich Kerstin „Schweinebraten auf Beinen“ erkor, wobei ich einerseits ihren Mut zur Selbstkritik belobigenswert finde und andererseits, dass sie so schlimm nun auch wieder nicht aussieht – ehe ich feststelle, dass ich mich verlesen habe und sie sich in Wahrheit für den T-Shirt-Spruch „Gaumenfreuden auf bayerisch“ entschieden hat.

Als Kiezianer exegiere ich das sofort als ortsspezifische Anspielung auf Oralsex, doch Ms. Columbo rät ab.

Der erste Hund, der uns begegnet, heißt übrigens Wastl.