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04 September 2010
Abfackeln ja – aber erst ab 50 Mille!
So, heute findet mal wieder unser lustiges und daher bundesweit bekanntes Schanzenfest statt.
In den letzten Tagen sollen Autonome im Viertel ein aufs Fest einstimmendes Flugblatt verteilt haben, in dem angeblich steht, das begleitende Abfackeln herumstehender Autos sei durchaus genehm – allerdings nur, sofern das Zielobjekt mindestens 50.000 Euro gekostet habe.
Wie kommen die Jungs und Mädels auf diesen Betrag? Klar, sie sind AUTOnome, also müssen sie was von Autos verstehen, aber die Berechnungsbasis würde mich schon auch en detail interessieren. Dürfte man als Autobesitzer zum Beispiel die Abwrackprämie gegenrechnen? Das sind so Fragen.
Wie auch immer: Jeder, der im Rahmen des Schanzenfestes Autos verbrennen möchte, sollte tunlichst eine Preisliste aktueller Modelle mit sich führen, damit ihm kein Fehler unterläuft. Sonst verdächtigt er vielleicht versehentlich einen völlig unschuldigen Mercedes E 250 CDI (204 PS, 6-Gang) der Abfackelbarkeit – dabei kriegt man den im Web schon für 49.861 Euro; ich habe recherchiert.
Es ist halt wie bei der Steuerprogression: Hast du irgendwann auch nur einen lausigen Euro zu viel, schnappt die Falle zu – wie zum Beispiel beim abgebildeten VW Touareg 3.0 V6 TDI (239 PS, 8-Gang-Automatik; Foto: VW) mit dem aber auch wirklich saudummen Listenpreis von 50.700 Euro.
Autonome sind also gewissermaßen wie das Finanzamt – und in ihrer strammen Orientierung an Grenzwerten sehr deutsch. Beruhigend, irgendwie.
03 September 2010
02 September 2010
Fundstücke (99): Darauf muss man erst mal kommen
Ein Laden in der Weidenallee offeriert Do-it-yourself-Särge.
Man muss sie zwar nicht selbst aus dem Baum hauen und dann zusammenzimmern, kann sie aber beliebig bemalen oder beschriften. Am besten natürlich noch zu Lebzeiten (ausgenommen Leute wie Lazarus sowie Zombies und Vampire).
„Wenn Sie Ihren eigenen Sarg gestalten“, erläutert gutgelaunt die kitabunte Infotafel, „kann Sie das stark in Ihr eigenes Zentrum führen.“ Mit allen Risiken und Nebenwirkungen wohlgemerkt, die manchermanns Zentrum zu bieten hat. Doch das verschweigt die Infotafel pietätvoll.
Gleichwohl ist das Ganze eine hübsche Idee. Man sollte sie aber allein schon aus aufwandsökonomischen Gründen nicht mit einer Feuerbestattung kombinieren.
01 September 2010
Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (33): Das verwaiste Freilufthotel
An der Westseite der Endoklinik nahm im vergangenen Jahr der Pole Arkadiusz Kossar eine Weile lang das „Obdachlos Hotel“ in Besitz. Genau genommen hatte er die Brache mit Ruinenresten selbst so getauft.
Es war ziemlich nett dort, mit Blumenvase, Tisch und Sesseln – also fast wie im gutbürgerlichen Wohnzimmer, nur halt draußen. Irgendwann musste er weg, der Arkadiusz, doch die Endoklinik hat sein „Obdachlos Hotel“ seither praktisch im Urzustand belassen. Die halbherzigen Bemühungen führten bislang nur zu einem Bauzaun, und auch der hat schon wieder gelitten unterm stummen Vandalismus des Prekariats – oder unter besoffenen BMW-Fahrern, die den Zaun als externe Bremse zweckentfremdeten.
Ein melancholischer Ort jedenfalls, den Arkadiusz Kossar sicher gern noch ein Jährchen länger in Beschlag genommen hätte, um von dort aus täglich gewissenhaft seiner Pfandflaschensammelleidenschaft nachzugehen.
Immerhin sind seine Aufschriften übriggeblieben, natürlich auch – direkt unter dem Wort „Hotel“ – ein „Ave Maria“. Das musste sein, ob obdachlos oder nicht. Schließlich ist er Pole, die teilen nun mal alle ein christliches Gen, nicht wahr.
31 August 2010
Das Kreuz mit dem Kreuzchen
Die SPD will nach ihrer erneuten Machtergreifung das Ehegattensplitting für Kinderlose abschaffen, was sie für uns zwei Kinderlose schlagartig aus dem Wählbarkeitsuniversum hinauskatapultiert.
„Diese Idee der SPD ist nichts weiter als eine Strafsteuer für Reproduktionsverweigerer! Eine Gebärprämie durch die Hintertür!“, rege ich mich auf, und nicht mal künstlich. „Ausgerechnet jetzt, wo Andrea Nahles schwanger ist“, analysiert Ms. Columbo bestechend hellsichtig, „das kann kein Zufall sein.“
Damit hat sie natürlich völlig recht – und unsereins allmählich überhaupt keine Wahlalternative mehr. Denn gehen wir sie doch mal spaßeshalber einzeln durch:
Merkel hat mit Westerwelle koaliert, das disqualifiziert die CDU noch mal weit über das sowieso übliche Maß hinaus; Künast glaubt an Homöopathie, und so eine darf man nicht mal in die Nähe irgendeines Schalthebels lassen, schon gar nicht den der Macht; die Linke ist ein sich selbst zerfleischendes Chaotentrüppchen ohne Konzept, aber erschwerenderweise mit Lafontaine – und die Rechten eh jenseits jeglicher Diskussion.
Bleibt also im Grunde doch nur wieder die Partei DIE PARTEI. Oder gründet jemand schnell vor den nächsten Neuwahlen noch was Wählbares, vielleicht mit einer sympathischen Hauptforderung, wie ich sie unlängst – und zwar hocherfreut, obwohl ich Wein bevorzuge – auf einer Wand in der Bernhard-Nocht-Straße entdeckte?
Wir sind echt für jeden Scheiß dankbar.
30 August 2010
Gesabbel
Der Gebrauch von Schirmen ist in Hamburg eine recht zwiespältige Sache. Einerseits werden sie manchmal benötigt, weil es hie und da, selten, ab und zu, eigentlich so gut wie nie: regnet.
Oftmals aber geht dieser superseltene Regen auch noch mit Wind erklecklicher Stärke einher, und das behagt den hiesigen Schirmen überhaupt nicht. Dann schmollen und bocken sie, klappen um, knicken ein, brechen zusammen, entscheiden sich also für eine dauerhafte Dysfunktion und wollen entsorgt werden. Und das erledigt der zivilisierte Hamburger zum Glück fast nie über den Rinnstein, sondern über die gerne mal kalauernden Mülleimer.
Was ich eigentlich damit sagen will, ist ziemlich unklar, doch wenigstens liefert dieses Gesabbel eine Rechtertigung fürs heutige Foto.
Oftmals aber geht dieser superseltene Regen auch noch mit Wind erklecklicher Stärke einher, und das behagt den hiesigen Schirmen überhaupt nicht. Dann schmollen und bocken sie, klappen um, knicken ein, brechen zusammen, entscheiden sich also für eine dauerhafte Dysfunktion und wollen entsorgt werden. Und das erledigt der zivilisierte Hamburger zum Glück fast nie über den Rinnstein, sondern über die gerne mal kalauernden Mülleimer.
Was ich eigentlich damit sagen will, ist ziemlich unklar, doch wenigstens liefert dieses Gesabbel eine Rechtertigung fürs heutige Foto.
29 August 2010
28 August 2010
Die Unaussteigbaren
Unfall im Elbtunnel (35 km Stau!), Kabelbrand in der U-Bahn, die unterbrochene Linie U3, Bauarbeiten auf der Ost-West-Straße, Dauerregen: All das machte es heute nicht gerade zu einem Vergnügen, in der Stadt unterwegs zu sein – vor allem nicht per Bus.
„Momentan“, informierte uns irgendwann eine gebrochene Stimme aus der Leitstelle, „haben manche Linien 70 Minuten Verspätung.“ Dabei wollte ich doch nur vom Zahnarzt in der Neustadt nach Hause, nichts wie nach Hause; stattdessen stand ich nun klitschnass in der Mitte eines 37er-Schnellbusses, der alles daran setzte, seinen Beinamen zu widerlegen, und zwar mit überwältigendem Erfolg.
Ich war eingequetscht zwischen denen, die von der Vordertür aus herandrängten, und jenen, die ebendies über die mittlere Tür versuchten. Eine bebrillte Resolute in Fahrernähe rief in kompletter Unkenntnis der Gesamtsituation über Köpfe und Schultern hinweg nach hinten: „Gehen Sie doch ein Stückchen weiter! Wenn jeder noch zwei Zentimeter schafft, ist schon viel gewonnen!“
Doch Theorie und Praxis sind tödlich verfeindete Geschwister, sie meiden sich tunlichst, vor allem in einer Sardinenbüchse der Linie 37. Und deshalb ließen wir die gute Frau, die der irrigen Auffassung war, mitten in der Krise an sich Führungseigenschaften festgestellt zu haben, einfach plappern.
An der Michaeliskirche wollte die ebenfalls sehr redselige Rollstuhlfahrerin hinter mir hinausrollen, was hier, in der Busmitte, mit allgemeiner, indes stillschweigender Erleichterung zur Kenntnis genommen wurde. Damit sie sich in Bewegung setzten konnte, musste allerdings die Rampe ausgeklappt werden, und das ist in einem vollen Bus problematisch, denn viele Leute stehen auf dieser Rampe und bewegen sich nur höchst ungern dort weg.
Es ist ein merkwürdiges, doch gerichtsfest nachweisbares Massenphänomen in Hamburg, dass sich der moderne Nutzer des ÖPNV, der an der aktuellen Haltestelle noch nicht aussteigen möchte, störrisch weigert, den Bus kurz zu verlassen, um das geordnete Aussteigen anderer zu ermöglichen.
Stattdessen balanciert er lieber waghalsig auf der Treppenkante, quetscht sich ungeachtet ästhetischer Erwägungen an den ebenso störrischen Drinbleiber neben ihm, presst sich verzweifelt an die Rückseiten der Sitzlehnen, zieht ängstlich Bauch und Knie ein – all das, um ja nicht für fünf Sekunden den Bus verlassen zu müssen.
Die Rollstuhlfahrerin hat es trotzdem irgendwann geschafft, und wir, die Zurückgebliebenen und neu Hinzugequetschten, schlichen weiter durch den Regen gen St. Pauli – in einem rund 70 Minuten verspäteten Bus, der allerdings, wie ich mich behaglich erinnerte, am Rathausmarkt in ebenjener Sekunde vorgefahren war, als ich die Haltestelle erreichte.
Alles eben eine Frage des Timings, auch an Regenchaostagen wie diesem.
27 August 2010
Das beste Bier der Welt
Es gibt übrigens unpeinlichere Gespräche als das mit einer zuckersüßen Arzthelferin, die dir den Gebrauch eines Spatels zur Stuhlentnahme erläutert – und das auch noch übertrieben detailreich.
Zu den angenehmeren Gesprächen jedenfalls gehören jene mit German Psycho, ramses101 und Cinema_noir, wie ich heute (wieder mal) hocherfreut feststellen durfte, und zwar im Herz von St. Pauli auf dem Spielbudenplatz (Foto).
Von der Gottesfrage über das beste Bier der Welt („Rebellion“ laut ramses101, was unbeweisbar ist, weil diese britischen Brauer sich – wohlweislich? – weigern, es in Flaschen abzufüllen) bis zu Hanekes Metaansatz war alles dabei, natürlich auch eine Diskussion über die (überschätzte?) Relevanz der 80er, alles begleitet und befeuert von Moselriesling (für mich) und Astra (für den Rest).
Leider hat dieser spezielle Sprit auch dazu geführt, dass der funkelnde Esprit unserer Gespräche meiner Erinnerung nur noch verschwommen und somit nicht zitabel zugänglich ist. Am deutlichsten haften blieb lediglich eine erneute Verabredung, und zwar für heute, also Freitagabend im Café Mexico, wo die mexikanisch-amerikanische Sängerin Tish Hinojosa auftreten wird.
Ab halb 9 werden wir dort herumlungern (bis auf ramses101, der nach London fährt, um dort Rebellion zu trinken), und wer nicht kommt, der wird bei Twitter entfolgt, und zwar standrechtlich.
26 August 2010
25 August 2010
Ein doppeltes „Das geht nicht“
Warum bloß vergrätzen uns Gastronomie und Einzelhandel bisweilen lieber mit Prinzipienreiterei, anstatt uns zum Segen künftiger Gewinne lieber mit ein bisschen Flexibilität bei der Stange zu halten?
Gleich zwei Beispiele von heute lassen mich ratlos diese systemkritische Frage stellen. Beispiel 1: das Café Leinpfad, eine höchst idyllisch am Alsteranleger gelegene Gaststätte. Wir wollten zwei Gutscheine über je ein großes Frühstück dort einlösen, die wir im Internet erworben hatten. Allerdings erbat Ms. Columbo einen Orangensaft statt Sekt, und ich wünschte mir statt des offerierten Fleischsalats lieber etwas mehr Käse. Das war alles; eigentlich keine Herausforderung für die deutsche Gastronomie im 21. Jahrhundert.
„Das geht leider nicht“, beschied uns allerdings die Kellnerin. „Nur genauso, wie es im Internet stand.“
Dabei wäre das Café Leinpfad mit O-Saft sogar billiger weggekommen als mit Sekt, es hätte also ein Geschäft gemacht. Wir diskutierten und argumentierten, doch die Haltung der Dame erwies sich als ebenso verfestigt wie inzwischen unser stillschweigender Entschluss, das Café Leinpfad hinfort nie mehr freiwillig aufzusuchen – dabei sollte diese Gutscheinaktion im Internet doch neue Kunden werben.
Auch wenn die sture Dame später wortlos doch zugunsten von etwas mehr Käse den Fleischsalat wegließ: Das Café Leinpfad ist künftig tabu. Die können ihren Fleischsalat gerne selber mümmeln.
Auf der Tabuliste steht seit heute auch der Applehändler Gravis in der Innenstadt, das Beispiel Nummer 2. Ich war mit meinem 2007 dort gekauften MacBook vorstellig geworden, weil dessen Verschluss defekt war; das Chassis musste auf Garantie ausgetauscht werden, mehr nicht. Deswegen wollte ich aber meinen Rechner nicht tagelang bei Gravis herumstehen lassen und schlug vor, nach dem Eintreffen des Ersatzteils vorbeizukommen, den Austausch abzuwarten und den Rechner gleich wieder mitzunehmen.
„Das geht nicht“, beschied mir die Dame bei der Reparaturannahme, als sei sie die eineiige Schwester derer vom Leinpfad.
Der Rechner, führte sie weiter aus, müsse dableiben, weil es nämlich schon vorgekommen sei, dass Kunden Ersatzteile nicht abgeholt hätten, die somit zurückgeschickt werden mussten.
Für mich klang das alles wie Klingonisch. Vor drei Jahren hatte ich zweieinhalbtausend Euro dort gelassen, und jetzt wollten sie meinen Computer tagelang konfiszieren wegen eines Ersatzteils, das in weniger als einer Viertelstunde ausgetauscht werden konnte?
„Okay“, sagte ich, vom Leinpfadvormittag noch etwas erschöpft, „dann verpflichte ich mich gern schriftlich, das Ersatzteil trotz Garantie zu bezahlen, wenn ich aus irgendwelchen absurden Gründen mit dem MacBook nicht mehr vorbeikommen sollte. Wo kann ich unterschreiben?“
Die Gravisfrau bat um Geduld, sie müsse nachfragen. Dann ging sie fort und kehrte kurz darauf wieder mit der niederschmetternden Botschaft: „Das geht leider wirklich nicht.“
Inzwischen hatte sich bei mir längst der stillschweigende Entschluss verfestigt, nie mehr irgendwas bei Gravis zu kaufen, vor allen Dingen nicht das nächste zweieinhalbtausend Euro teure MacBook, dessen Update etwa 2011 ansteht.
Stattdessen werde ich mit diesem Anliegen in die Schanze gehen, und zwar zu Arndt und Bleibohm, die eh mein Blog mögen, immer mal wieder Einträge in ihr Kundenmagazin übernehmen und mir den Rechner vielleicht sogar ein bisschen billiger überlassen.
Warum also vergrätzen uns Gastronomie und Einzelhandel bisweilen lieber mit Prinzipienreiterei, anstatt uns zum Segen künftiger Gewinne lieber mit ein bisschen Flexibilität bei der Stange zu halten? Bin ich etwa zu empfindlich – oder werden die allmählich so kundenfreundlich wie Seinfelds Soup Nazi?
Wer jetzt augenrollend kommentieren möchte, dieser Beitrag sei (mal wieder) ein bedrückendes Beispiel für viel Lärm um fast nichts in diesem Blog, der kann sich das sparen.
Das weiß ich nämlich selber. Und zwar am besten.
24 August 2010
„Nehmt Geld dafür!“
Trotz des Katastrophensommers mit ausgefallenen ICE-Klimaanlagen, missglückten Abschleppversuchen und allgemeiner Unzufriedenheit fühlt die Bahn sich bereits wieder stark, selbstbewusst und öffentlich-rechtlich genug, um ihre Kunden zu düpieren – Durchsage am Wochenende auf der Fahrt von Kiel nach Hamburg:
„Wir bedanken uns bei den Fahrgästen, die sich im Türbereich aufgehalten haben; dadurch haben wir jetzt eine Verspätung von sechs Minuten.“
Auch auf der Reeperbahn (Foto) geht es natürlich manchmal sarkastisch zu, aber noch häufiger pragmatisch:
„Lasst euch nicht ansprechen“, hörte ich unlängst einen verdienten Kiezianer einem Passantenpaar hinterherrufen, „und wenn doch, dann nehmt Geld dafür!“
Hach, schon schön, wieder zu Hause zu sein.
23 August 2010
Eine blitzartige Erkenntnis
Wenn man von einer Kreuzfahrt zurückkehrt und feststellen muss, dass während unserer Abwesenheit …
… a) dank eines statistisch praktisch ausgeschlossenen Blitzes das Haus brannte,
… b) die Feuerwehr stundenlang löschen musste,
… c) unsere Mitbewohner evakuiert wurden und
… d) das Ganze sogar im Fernsehen übertragen wurde, dann muss man sagen:
Das ist ein weiteres starkes Argument für eine Kreuzfahrt.
Zumal Festplattenrekorder und Antennenbuchse den Blitz auch dann nicht überstanden hätten, wenn wir zu Hause geblieben wären.
22 August 2010
Auf Kreuzfahrt (7): Ziemlich amüsant, aber …
Mitten auf dem Meer: Internet! WiFi über Satellit! Ein Traum – aber nicht ganz billig.
Ich buchte gleich am ersten Tag drei Stunden Zugang, was sich in harschen 24 Euro auf der Rechnung niederschlug. Der Webjunkie (= ich) zitterte dennoch vor Freude; der Dealer (= Costa) erst recht. Drei Stunden für neun Tage, das macht umgerechnet 20 Minuten pro Tag – und fühlte sich an wie ein ziemlich harter Entzug.
Blogeinträge bereitete ich abends also offline vor und lud sie mit fahriger Ungeduld über die tempotechnich keineswegs mit DSL vergleichbare Verbindung hoch. Darüberhinaus reichte es nur noch für einen flüchtigen Blick auf die Mailliste, interessante Artikel speicherte ich in einem Wettlauf gegen die Zeit auf der Festplatte ab und las sie später, dann ohne den obligaten Schweißfilm auf der Stirn. Für die Beantwortung von Blogkommentaren reichte die knappe Zeit natürlich nicht, vielleicht hole ich das noch nach.
Nicht nur ich, auch einige andere an Bord waren mit Laptops unterwegs. Ein paar Scans ergaben über 20 Rechner, deren WLAN-Wolken durchs Schiff waberten und sich in der Seitenleiste als kryptische Liste (Foto) niederschlugen. Einer der Laptopbesitzer lagerte seine Fotos sogar im öffentlichen Ordner; jeder der anderen hätte sie sich einfach so auf seinen Rechner ziehen können, sofern er ein durchtriebener, charakterloser Intimsphärenverletzer gewesen wäre – oder Google-Mitarbeiter.
Wenn man kein WiFi-Web gebucht hatte, konnte man eine einzige Internetseite trotzdem besuchen: die der Reederei. Dort bewirbt sie ihre Kreuzfahrtdienste u. a. mit folgenden Worten: „Die Wellnessbereiche sind das Highlight der Costa Schiffe, insbesondere auf der Costa Concordia mit dem Samsara Spa – einem der größten Spaß, das je auf einem Kreuzfahrtschiff realisiert wurde.“
Eine herrlich missglückte Pluralbildung von Spa – der mitgemeinte Subtext schlägt sich auf geradezu freudianische Weise in der Orthografie nieder. Das hätte gewiss auch David Foster Wallace grinsend goutiert, der in seinem Buch „Ziemlich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“ die Absurditäten einer Kreuzfahrt urkomisch aufs Korn nimmt.
Unser Fazit ist ähnlich und doch ganz anders: ziemlich amüsant, aber in Zukunft … vielleicht doch noch mal mit uns.
Ich buchte gleich am ersten Tag drei Stunden Zugang, was sich in harschen 24 Euro auf der Rechnung niederschlug. Der Webjunkie (= ich) zitterte dennoch vor Freude; der Dealer (= Costa) erst recht. Drei Stunden für neun Tage, das macht umgerechnet 20 Minuten pro Tag – und fühlte sich an wie ein ziemlich harter Entzug.
Blogeinträge bereitete ich abends also offline vor und lud sie mit fahriger Ungeduld über die tempotechnich keineswegs mit DSL vergleichbare Verbindung hoch. Darüberhinaus reichte es nur noch für einen flüchtigen Blick auf die Mailliste, interessante Artikel speicherte ich in einem Wettlauf gegen die Zeit auf der Festplatte ab und las sie später, dann ohne den obligaten Schweißfilm auf der Stirn. Für die Beantwortung von Blogkommentaren reichte die knappe Zeit natürlich nicht, vielleicht hole ich das noch nach.
Nicht nur ich, auch einige andere an Bord waren mit Laptops unterwegs. Ein paar Scans ergaben über 20 Rechner, deren WLAN-Wolken durchs Schiff waberten und sich in der Seitenleiste als kryptische Liste (Foto) niederschlugen. Einer der Laptopbesitzer lagerte seine Fotos sogar im öffentlichen Ordner; jeder der anderen hätte sie sich einfach so auf seinen Rechner ziehen können, sofern er ein durchtriebener, charakterloser Intimsphärenverletzer gewesen wäre – oder Google-Mitarbeiter.
Wenn man kein WiFi-Web gebucht hatte, konnte man eine einzige Internetseite trotzdem besuchen: die der Reederei. Dort bewirbt sie ihre Kreuzfahrtdienste u. a. mit folgenden Worten: „Die Wellnessbereiche sind das Highlight der Costa Schiffe, insbesondere auf der Costa Concordia mit dem Samsara Spa – einem der größten Spaß, das je auf einem Kreuzfahrtschiff realisiert wurde.“
Eine herrlich missglückte Pluralbildung von Spa – der mitgemeinte Subtext schlägt sich auf geradezu freudianische Weise in der Orthografie nieder. Das hätte gewiss auch David Foster Wallace grinsend goutiert, der in seinem Buch „Ziemlich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“ die Absurditäten einer Kreuzfahrt urkomisch aufs Korn nimmt.
Unser Fazit ist ähnlich und doch ganz anders: ziemlich amüsant, aber in Zukunft … vielleicht doch noch mal mit uns.
21 August 2010
Auf Kreuzfahrt (6): Auf zu Sadam!
Uns plagt der Shiplag. Auf der Fahrt nach Russland mussten wir die Uhr binnen eines Tages zweimal um eine Stunde vorstellen.
Mit Folgen: Das Wecken zum Landgang in St. Petersburg lag nach Hamburger Zeit um 4:15 Uhr. Ergo torkelte ich – trotz einer beherzten Koffeinüberdosis zum Frühstück – durch die Eremitage wie ein volltrunkener Bonobo. Inzwischen sind wir bereits wieder beim Zurückstellen der Uhren. Ein erheblich angenehmerer Job; trotzdem gerät alles immer mehr durcheinander.
Auf der ganzen Reise kam ich bisher übrigens nur ein einziges Mal in Kontakt mit der Ostsee – als ich am Hafenufer von Tallinn auf einem glitschigen Algenfilm (Foto oben) ausglitt und mit dem rechten Schuh ins Wasser musste, um einen Sturz abzufangen und die Kamera zu retten. Will sagen: Wir sind in Estland.
Gestern holten die USA ihre letzten Kampftruppen aus dem Irak, heute mussten wir zu Sadam – so heißt nämlich Hafen auf Estisch. Und Estisch ist keineswegs ein Küchenmöbel mit Tippfehler, sondern die hiesige Sprache, eine Verwandte des Finnungarischen und deshalb hochgradig seltsam.
Die Esten waren in den vergangenen fast tausend Jahren nur lächerliche 40 nicht besetzt, die beiden Dekaden seit 1990 machen also die Hälfte der estischen Freiheit aus. Entsprechend gut sind sie drauf, sogar die Uniformträger.
Heute wollten wir in einer Tallinner Mall aufs Klo, welches sich als kostenpflichtig entpuppte, doch wir hatten keine hiesigen Münzen parat. Zwei Sicherheitsleute bekamen das mit, einer zückte seine Chipkarte, öffnete damit die Schranke und sagte: „Today it’s free for you.“
Zum ersten Mal im Leben haben wir also einen original Klobesuch spendiert bekommen: welch ein Tag. „Have a happy hour!“, riefen uns die Wachmänner fröhlich hinterher. Hatten wir; auch wenn sie nur fünf Minuten dauerte.
Tallinn verfügt übrigens über eine grandiose gotische Altstadt, die komplett zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Überall Kopfsteinpflaster, windschiefe Steinhäuser, Zwiebelturmkirchen und bunte Paläste, manche davon 800 Jahre alt. Die Gebäude säumen und formen krumme Gässchen, in denen zauberhafte Estinnen in Landestracht Stadtpläne oder glasierte Mandeln verticken – und sich manchmal einfach unbesorgt von der Augustsonne die Lider wärmen lassen, als käme bis in alle Ewigkeit keiner mehr, um dieses kleine Land wieder zu unterjochen.
An einem Tag wie diesem möchte man fast dran glauben, Historie hin oder her.
20 August 2010
Auf Kreuzfahrt (5): In „St. Petersburg“
Ankunft in Leningrad, welches sich vor 20 Jahren in einer Anwandlung neomonarchistischer Romantik in „St. Petersburg“ zurücktaufte. Weicheier!
Zum Glück ist dennoch weiterhin kein Mangel an handfesten stalinistischen Plattenbauten – gut so, denn was kann einen Sonnenuntergang zauberhafter widerspiegeln als Glanzstücke proletarischer Wohnkloarchitektur? Reiseleiterin Irina allerdings erwähnt diese bahnbrechenden Gebäude mit keinem Wort, stattdessen geleitet sie uns mit dem umflorten Blick Rolf Seelmann-Eggebrechts durch den eklen Prunk des Palastes der Adelsfamilie Yussupow.
Sie schwärmt von den „schönen, begabten, steinreichen“ Mitgliedern dieses degenerierten Geschlechts – und verschweigt, wie die Mischpoke einst jene Fantastilliarden erräuberte, ohne die sie niemals ihre Tapeten mit Blattgold hätte durchwirken können. Abstoßend!
Immerhin können die Yussupows auf die verdienstvolle Massakrierung des durchgeknallten Esofreaks Rasputin verweisen – und zwar hier im Keller, unter unseren Füßen, nur ein paar Meter weit weg vom Tapetenblattgold.
Nur auf der Kanalrundfahrt hatte die schwärmerische Irina kurz ihre stramme UdSSR-Sozialisation aufblitzen lassen. „Äs war nicht alläs schlächt in Sowjetzeit“, sagte sie, „abgäsähän von Stalin vielleicht, aber heute auch ist nicht alläs gutt!“ Eine wohltuende präventive Relativierung all dessen, was später an Seelmanneggebrechteskem aus der guten Frau herausbrechen sollte.
Die Leningrader … na gut: Petersburger Jugend frönt übrigens einem merkwürdigen Brauch, dessen Ursprung sich selbst die ansonsten allwissende Irina nicht erklären kann: Sie befestigt Schlösser an den zahlreichen Brückengeländern, die das sog. Venedig des Nordens zieren, welches am Stadtrand eher als Bitterfeld des Ostens durchgeht.
Nach dem Anbringen der Schlösser entsorgt die Jugend die Schlüssel, wahrscheinlich der Einfachheit halber in der Newa. Irgendwann war die verweichlichte Stadtverwaltung so verzweifelt über diese Unsitte, dass sie – anstatt die Jugend nach gutem alten, leider etwas in Vergessenheit geratenem Brauch en tout nach Sibirien zu expedieren – an allen Brücken quaderförmige Gitterkäfige aufstellte.
Damit verband sie die Hoffnung, die Jugend möge ablassen von den historischen Geländern und sich stattdessen den Käfigen zuwenden. Einen Honigtopf in die Zimmerecke zu stellen, um Wespen vom Kuchen wegzulocken, folgt ähnlichen taktischen Überlegungen.
Das Irre an der Petersburger Aktion: Die verweichlichte, neomonarchistische Jugend fiel darauf rein! Seitdem kettet sie ihre Schlösser nicht mehr an Brücken, sondern brav an die Gitterkonstrukte. Versteh einer die russische Seele!
Hätte die Stadtverwaltung stattdessen alle Brücken abgerissen und dort handfeste Plattenbauten hingestellt, die abends den Sonnenuntergang zauberhaft widerspiegeln, wäre dieser romantische Spuk ebenfalls von heute auf morgen vorbei gewesen.
Unter Stalin, so viel ist sicher, wäre das nicht passiert.
19 August 2010
Auf Kreuzfahrt (4): Von der natürlichen Schönheit der Finn(inn)en
Wir besichtigten Helsinki, eine Stadt mit Stadtteilen namens „Töölö“ und auch sonst von überschaubarem Liebreiz. In ihrem straßenbahnveredelten Jugendstil ist sie gleichwohl ohne jede Anfälligkeit für ein naheliegendes böses Wortspiel mit Doppel-l.
Die Sonne brannte zunächst auf eine Weise, wie ich es so weit im Norden niemals vermutet hätte, ehe es sich ordnungsgemäß zuzog und leicht zu tröpfeln begann.
Ms. Columbo wies mich beim Stadtbummel auf die hohe Anzahl teiggesichtiger Frauen mit auffälliger Kopfbreite hin. Bis dahin war mir einfach nur zur sprichwörtlichen natürlichen Schönheit der hiesigen Bewohnerinnen das entsprechende Sprichwort nicht mehr eingefallen, doch nun, da ich einmal darauf hingewiesen worden war, begegneten mir an allen Ecken Helsinkis ausgesprochene Musterexemplare breitgesichtiger Teigigkeit.
Viele Männer hingegen (das Foto zeigt zwei Hafenarbeiter, auf die alle nun folgenden Erläuterungen nicht zutreffen) schienen direkt aus Aki Kaurismäkis Castingbüro zu kommen. Die Aufgedunsenheit ihrer Torsi, welche durch bedauerlich passgenaue T-Shirts gut sichtbar herausgearbeitet wurde, versuchten viele zu übertünchen, indem sie sich Fusselbärte stehen ließen und einen allgemeinen Eindruck von Zerzaustheit herzustellen versuchten.
Doch ob Menschen anderer Kulturen in unseren Augen schön sind oder nicht, ist letztlich egal. Nein, die Mitglieder einer territorialen Gemeinschaft müssen sich vor allem untereinander in ausreichendem Maße sexuell anziehend finden; dann hat diese Gemeinschaft eine gute Chance, bis in alle Ewigkeit teiggesichtige, aufgedunsene und zerzauste kleine Scheißer zu zeugen.
Wie es allerdings um das innerfinnische Attraktivitätsempfinden wirklich bestellt ist, vermag ich nicht zu sagen. Die geringste Reproduktionsquote hat meines Wissens jedenfalls nicht Finnland, sondern Italien, und egal, was man gegen die Nachfahren der Römer ins Feld führen kann: breitgesichtige Teigigkeit etc. pp. gehört nicht zu ihren hervorstechenden körperlichen Attributen.
Ab jetzt wird es übrigens richtig spannend auf dieser Kreuzfahrt: Es geht in die Stadt Dostojewskis. Schalten Sie nicht um!
18 August 2010
Auf Kreuzfahrt (3): Wo sind Rolf und Hilde?
Der Tag in Stockholm endete dramatisch, denn ein deutsches Ehepaar blieb bis zur geplanten Abfahrt verschwunden.
Es war vom Landausflug nicht mehr zurückgekehrt. Am Ende, nach zwei Dutzend dringlichen, doch durchweg erfolglosen Suchdurchsagen über Bordlautsprecher, musste unser Schiff ohne Rolf und Hilde weiterfahren; schließlich ist das Ganze hier ist ein Millionenunternehmen, saumselige deutsche Ehepaare müssen im Zweifelsfall selbst sehen, wie sie zurecht- und nach Helsinki kommen.
Die nunmehr verwaiste Kabine der beiden Verschwundenen liegt auf Deck 8. Beim Abendessen fehlten überraschenderweise erstmals auch unsere festen Tischnachbarn, deren Namen wir zwar nicht kennen, aber ihre Decknummer: 8 …
Ist das nun Koinzidenz oder Korrelation? Das blieb bis zum nächsten Morgen erregend ungewiss, bis wir die Nachbarn putzmunter auf Deck 4 antrafen. Rolf und Hilde: Wo seid ihr?!
Apropos Stockholm: Die dortigen Islamisten haben – siehe Foto – offensichtlich eine Rechtschreibschwäche. Oder kein u auf der Tastatur.
17 August 2010
Auf Kreuzfahrt (2): Verlorene Seelen
Als Passagier auf einem Kreuzfahrtschiff huldigt man dem brutalstmöglichen Eskapismus. Alles hier ist falsch, aber es ist großartig falsch.
Ein Kreuzfahrtschiff der gehobenen Klasse erfüllt die essenziellen Bedürfnisse des westlichen Menschen auf engstem Raum (wenn man 272 Meter Länge, 36 Meter Breite und eine Höhe von 14 Decks als „eng“ bezeichnen will).
Der westliche Mensch kann auf bestens präparierten Terrassen in der Sonne braten, so lange er möchte, er kann sich mitten auf dem Meer über eine vielfach gewundene Rutsche (Foto) ins beheizte Schwimmbad stürzen, er kann Fitnesstraining betreiben, bis der Arzt kommt (was Dottore sich mit 60 Euro pro Kabinenbesuch entlohnen lässt), er kann sich in unzähligen Clubs seine westlichen Depressionen schöntrinken, Bingo, Basketball, Roulette oder Tischtennis spielen – und vor allem: essen, essen, essen.
Die gebratenen Tauben, wie man so schön sagt, fliegen dir den ganzen Tag ins Maul, während Pakistan ertrinkt und Russland erstickt, und die Selbstkasteiung, Espresso, Wein und Whiskey extra bezahlen zu müssen, bringt dich kein Stück weiter auf dem Weg zur Rettung deiner Seele.
Vielleicht würde es helfen, die abendliche sog. Heilige Messe zu besuchen (immer um 17:15 Uhr, wir sind auf einem italienischen Schiff), doch wer’s nicht glaubt, wird halt auch nicht selig.
Weil das alles nun mal unwandelbar so ist, wie es ist, genieße ich mit nur maßvoll schlechtem Gewissen einen brutalsteskapistischen Nachmittag im Whirlpool. Über uns ist der Himmel makellos blau, während unendlich lange die an Rügen erinnernden Klippen von Gotland vorüberziehen.
Abends beim Dinner, als uns wieder gebratene Tauben ins Maul fliegen (respektive Ente bei Ms. Columbo und Knurrhahn bei mir – u. v. m. natürlich, das Dinner hat fünf Gänge, man hätte aber auch neun ordern können), konstatieren wir einen Wechsel in der Besetzung des Kellners gegenüber gestern (s. letzten Blogeintrag).
Der vibrierende Brasilianer hat erstaunlicherweise – obwohl sein Namensschild noch immer auf Tisch 42 steht – heute Abend bereits wieder frei. Oder er sitzt alternativ im Gefängnistrakt unter Deck, weil er sich gestern Abend, als wir längst aufgebrochen waren Richtung Mitternachtspizza im Büffetrestaurant, doch noch wild brüllend durch die übriggebliebenen Passagiere tranchierte, was die Kreuzfahrtleitung aber bislang peinlichst zu verheimlichen wusste.
So, mal schauen, was die Landgänge bringen.
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16 August 2010
Auf Kreuzfahrt (1): Der Kellner
Im Restaurant sitzen wir großartigerweise an Tisch 42 (remember Douglas Adams), doch der brasilianische Kellner scheint uns (und alle unsere Nachbarn) vom ersten Augenblick an zu verachten. Nicht uns als Menschen, sondern in unserer Inkarnation als Kreuzfahrtpassagiere.
Er verachtet uns, weil er scheißfreundlich sein muss und weil es unter seiner Würde ist, Teller abzuräumen, auf denen noch Garnelenreste liegen. Beim Bücken legt er den Kopf schief, eine verkrampfte Geste erpressten Devotseins, für die er seiner Meinung nach bei weitem zu lausig bezahlt wird.
Er ist ein stämmiger Einsneunzigmann mit licht werdendem Haar, das er streng zurückgegelt hat, und er verachtet uns auch deshalb, weil er seine Verachtung nicht zeigen darf.
Stattdessen knipst er sein Lächeln an wie eine 7-Volt Energiesparlampe und sagt mit italienischem Akzent laut „Entschuldigen, Madame!“, ehe er den Teller ruckartig hochnimmt und mit der Kante nur um Zentimeter die Schläfe einer Frau an unserem Tisch verfehlt.
„Entschuldigen, Madame!“, ruft er mit erpresstem, viel zu lausig bezahltem Energiesparlampenlächeln, doch in seinen Träumen zertrümmert er brüllend und mit geblecktem Gebiss sämtliches Porzellan auf unseren Köpfen und tranchiert uns mit allen acht Besteckteilen, die links und rechts neben dem Teller in genau jener Reihenfolge von außen nach innen aufgereiht sind, wie er es in der Kellnerschule gelernt hat.
Ich mag ihn nicht, aber ich kann ihn verstehen. Ich wäre genauso.
Er verachtet uns, weil er scheißfreundlich sein muss und weil es unter seiner Würde ist, Teller abzuräumen, auf denen noch Garnelenreste liegen. Beim Bücken legt er den Kopf schief, eine verkrampfte Geste erpressten Devotseins, für die er seiner Meinung nach bei weitem zu lausig bezahlt wird.
Er ist ein stämmiger Einsneunzigmann mit licht werdendem Haar, das er streng zurückgegelt hat, und er verachtet uns auch deshalb, weil er seine Verachtung nicht zeigen darf.
Stattdessen knipst er sein Lächeln an wie eine 7-Volt Energiesparlampe und sagt mit italienischem Akzent laut „Entschuldigen, Madame!“, ehe er den Teller ruckartig hochnimmt und mit der Kante nur um Zentimeter die Schläfe einer Frau an unserem Tisch verfehlt.
„Entschuldigen, Madame!“, ruft er mit erpresstem, viel zu lausig bezahltem Energiesparlampenlächeln, doch in seinen Träumen zertrümmert er brüllend und mit geblecktem Gebiss sämtliches Porzellan auf unseren Köpfen und tranchiert uns mit allen acht Besteckteilen, die links und rechts neben dem Teller in genau jener Reihenfolge von außen nach innen aufgereiht sind, wie er es in der Kellnerschule gelernt hat.
Ich mag ihn nicht, aber ich kann ihn verstehen. Ich wäre genauso.
15 August 2010
Fundstücke (97)
Aus dem Fundus des legendären Kiezfotografen Günter Zint.
Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.
14 August 2010
Natürlich neunundsechzig
Das still vor sich hin bröckelnde Haus in der Bernhard-Nocht-Straße, in dem uns früher das Erotic Art Museum hochinteressante Schweinereien als Kunst verkaufte, trägt ausgerechnet die Hausnummer 69.
Vielleicht war diese Hausnummer damals fürs Erotic Art Museum sogar ein Killerargument für den Einzug. Denn selbst die 66 wäre, wie mir scheint, weniger anzüglich rübergekommen.
Die breitestbeinig auftrumpfende 666 hingegen hätte trotz aller Bemühungen völlig andere Assoziationen geweckt – ganz davon abgesehen, dass die Bernhard-Nocht-Straße gottfroh wäre und sich vor Freude auf die bröckelnden Fassaden klopfte, wenn sie auch nur annähernd so viele Hausnummern aufzuweisen hätte.
Seit zwei Jahren jedenfalls ist der Sex weg, doch die 69 immer noch da. So funktionslos und inhaltsleer, wie es hier zwischen den Zeilen nahegelegt wird, muss sich die vom Erotic Art Museum verlassene Nummer aber trotzdem nicht unbedingt fühlen.
Schließlich wohnen dort Leute. Alles ist denkbar.
13 August 2010
Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (32)
Die Grenze zwischen St. Pauli und Altona bewacht so trutzig wie trist der Frischemarkt Gökpinar.
Irgendetwas an der Gesamtoptik seiner Fassade scheint zu signalisieren, dass es mit der Frische bei dem ein oder anderen Gemüse nicht gar so weit her sein kann, wie es der Ladenname behauptet, doch dafür gibt es keinerlei Beweise.
Schließlich sehen Biopaprika, nicht wahr, auch immer fahler und fleckiger aus als die gespritzten spanischen Glanzbomben. Vielleicht sollte ich mich also doch mal reintrauen in den Frischemarkt Gökpinar.
Und sei es nur, um mir einen Schwinger einzufangen für die despektierliche Vermutung von oben.
12 August 2010
Das ikonografische Frühstück
Auf den Landungsbrücken unten am Hafen gibt es wiederum Brücken, von denen aus man das Elbpanorama umso besser genießen kann.
Wenn man mal nicht in die Ferne schaut, sondern direkt unter sich, von der Brücke auf die Brücke sozusagen, dann kann man die rausgestellten Tische und Stühle der Touristennepper in Augenschein nehmen. Dort bot sich mir unlängst ein geradezu ikonografisches Arrangement deutscher Frühstückskultur des mittleren 20. Jahrhunderts.
Verantwortlich für diese beispielhafte, historisch verblüffend authentische Kompilation aus weißen Brötchen mit Räuchersalami, Gurkenscheibe, Scheiblettenkäse sowie Frühstücksei plus Kaffee und allzeit bereitstehenden Sahnedöschen war (natürlich) ein Rentnerpaar.
Aschenbecher und Bierdeckelständer komplettierten sorgsam dieses paradigmatische Ensemble aus einer untergegangenen Epoche, welche gleichwohl von der Generation 60plus unverdrossen glorifiziert wird, unter anderem kulinarisch, wie man sieht.
Die beiden ließen es sich munter schmecken, als gäbe es kein Morgen, sondern nur das Gestern, und zwar für immer und ewig.
Meine Lust auf Vollkornbrötchen wuchs auf dem Heimweg ins Animalische.
11 August 2010
10 August 2010
Altes Geld
Eine junge Berliner Kollegin, die ich bei einem Einladungskonzert mit vorgeschaltetem Fernsehkochdinner treffe, erzählt mir beim Essen von den ganzen Trendläden, die sie unablässig abgrast in der armen sexy Stadt.
Hier eine schicke Butike, da ein Sushiladen (der aus irgendeinem bescheuert coolen Grund „Cantina“ heißt), drüben in Neukölln-Nord der Szeneclub Kinski. Alles super jedenfalls, alles obertrendy, alles Geheimtipps.
Und während sie das erzählt, fällt mir ihr olivgrünes T-Shirt ins Auge. In großen eierschalenfarbenen Brüllbuchstaben steht da „REVOLUTION“ drauf, und rechts oben über dem Schriftzug prangt ein Kreis mit umgekehrtem Ypsilon drin, das Friedenszeichen. Wahrscheinlich hat sie das Shirt in einer schicken Butike gekauft, zwischen Sashimi in der Cantina und einer Kirschsaftschorle im Kinski.
Ich weiß nicht, ob Karl Marx einst an Leute wie die Berliner Kollegin dachte, als er die Proletarier aller Länder zur Revolution aufrief, aber ich glaube fast nicht. Hamburg, sagt sie irgendwann, sei tot, dort habe sie mal gelebt, aber das könne sie nicht mehr, sogar Daniel Richter sei ja jetzt nach Berlin gegangen, in Hamburg nämlich „sitzt das alte Geld.“
Aber einen hübschen Funkturm haben wir, vor allem vom Innenhof des Fernsehkochrestaurants aus gesehen.
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09 August 2010
Fundstücke (96): Pseudokunst
Manchmal passiert es monatelang nicht. Und dann stolpert man über gleich mehrere Pseudokunstexponate an einem Nachmitag.
Heute etwa stießen wir in St. Georg und in der Innenstadt auf diverse ästhetisch reizvolle Zufallsmotive, mit denen man jederzeit eine bestimmte Klientel zu exegetischen Überlegungen bringen könnte – ähnlich wie damals die pittoresken Fahrspuren von Palettenwagen.
Wenn die klassische Beuys-These noch immer stimmt und jedermann ein Künstler ist (weil Kunst nämlich in der Moderne erst durch die Wechselwirkung mit dem Betrachter entsteht), dann gilt das wohl auch für eine Reinigungskraft, die daran scheiterte, Plakatreste komplett zu entfernen (Foto oben) – und ebenso für die gemeine Grünalge in einem Hamburger Fleet:
07 August 2010
Begegnung mit einem Vampir (oder Zombie)
Ein Tag der Merkwürdigkeiten – wobei die unvermittelte Ergänzung zur Anweisung des Hausarztes nicht mal die größte darstellte.
Denn am merkwürdigsten wurde es abends im indischen Restaurant Zala in der Rothenbaumchaussee. Ich erhielt als Wechselgeld Münzen – und die waren erschreckenderweise eiskalt.
Der Kellner verließ freundlich lächelnd den Tisch, während ich die Münzen rasch in der Hosentasche verwschwinden ließ, wo sie mir allerdings sofort durch den Stoff Gefrierbrandflecken in den Oberschenkel stanzten. Derweil ratterten mir die wichtigsten Fragen durch den Kopf, die dieser Vorfall aufwarf:
Lagern sie hier im Zala die Münzen etwa in der Tiefkühltruhe, bevor sie sie rausgeben? Oder war es die Hand des Kellners, die den Temperatursturz des Metalls bewirkte – und was bedeutete das für die Einordnung des Mannes in die Fauna?
Vielleicht gibt es ja doch Wesen, die menschlich wirken und doch keine Warmblüter sind. Seit dem Zala-Besuch scheint mir die Existenz von Vampiren und Zombies wieder deutlich plausibler.
Die Münzen habe ich heute an zwei obdachlose Russen im Brauquartier verschenkt. Sicher ist sicher.
06 August 2010
Fundstücke (95)
05 August 2010
In der potenziellen Hubba-Bubba-Arena
Auf Fremdschämtour beim HSV.
Das Stadion der sogenannten Rothosen, malerisch an der Müllverbrennungsanlage gelegen, hat mal wieder einen neuen Namen. Plötzlich muss man es Imtech-Arena nennen, sonst wird man standrechtlich zu einem AOL-Account verdonnert.
Imtech berappt 25 Millionen Euro dafür. Und die treuen HSV-Fanschäfchen machen das ein ums andere Jahr mit, trotten stillergeben mal in die AOL-, dann in die HSH-Nordbank-, jetzt halt in die Imtech- und irgendwann wahrscheinlich auch in die Hubba-Bubba-Arena. Eine fremde und seltsame Welt, vor allem für St.-Pauli-Fans.
In der Halbzeit des Testspiels gegen den englischen Meister Chelsea (Didier Drogba war der Hauptgrund meiner Anwesenheit) wurde der Chef des neuen Stadionsponsors interviewt. Zwar interessierte das kein Schwein, selbst die stillergebenen HSV-Fans nicht, doch wat mutt, dat mutt, schließlich berappt er 25 Millionen.
Also salbaderte der gute Imtech-Mann etwas von „Wir als Nummer eins in Deutschland und Europa …“, und ruckartig war ich hellwach, denn den HSV konnte er damit ja kaum meinen, doch dann kam der beruhigende Abschluss: „… in Gebäudetechnik“.
In Gebäudetechnik also. Die Fans begannen dann, ihren Fansong zu singen, und auch hier beschlich mich schnell das nicht mal dumpfe, sondern sehr präsente Gefühl, sie sängen von einem ganz anderen Verein.
„Hier weiß jedes Kind/Dass wir Champions sind“ – wer? Der HSV? Und in welcher Sportart? Groß allerdings die Zeile: „Wir sind Hamburg/Wir sind immer da“. Sie erinnerte Kramer zu Recht an den genialisch mit wahlentscheidender Semantik aufgeladenen Slogan der Partei Die Partei zur vorletzten Bundestagswahl.
Er lautete: „Hamburg – Stadt im Norden“.
Ja, das sind ewige Wahrheiten! Genau wie die, dass dieses Stadion immer jenes an der Müllverbrennungsanlage bleiben wird, egal mit wievielen aus Gebäudetechnik generierten Millionen jemand daherkommt.
Drogba blieb übrigens – obzwar Ivorer – blass.
Das Stadion der sogenannten Rothosen, malerisch an der Müllverbrennungsanlage gelegen, hat mal wieder einen neuen Namen. Plötzlich muss man es Imtech-Arena nennen, sonst wird man standrechtlich zu einem AOL-Account verdonnert.
Imtech berappt 25 Millionen Euro dafür. Und die treuen HSV-Fanschäfchen machen das ein ums andere Jahr mit, trotten stillergeben mal in die AOL-, dann in die HSH-Nordbank-, jetzt halt in die Imtech- und irgendwann wahrscheinlich auch in die Hubba-Bubba-Arena. Eine fremde und seltsame Welt, vor allem für St.-Pauli-Fans.
In der Halbzeit des Testspiels gegen den englischen Meister Chelsea (Didier Drogba war der Hauptgrund meiner Anwesenheit) wurde der Chef des neuen Stadionsponsors interviewt. Zwar interessierte das kein Schwein, selbst die stillergebenen HSV-Fans nicht, doch wat mutt, dat mutt, schließlich berappt er 25 Millionen.
Also salbaderte der gute Imtech-Mann etwas von „Wir als Nummer eins in Deutschland und Europa …“, und ruckartig war ich hellwach, denn den HSV konnte er damit ja kaum meinen, doch dann kam der beruhigende Abschluss: „… in Gebäudetechnik“.
In Gebäudetechnik also. Die Fans begannen dann, ihren Fansong zu singen, und auch hier beschlich mich schnell das nicht mal dumpfe, sondern sehr präsente Gefühl, sie sängen von einem ganz anderen Verein.
„Hier weiß jedes Kind/Dass wir Champions sind“ – wer? Der HSV? Und in welcher Sportart? Groß allerdings die Zeile: „Wir sind Hamburg/Wir sind immer da“. Sie erinnerte Kramer zu Recht an den genialisch mit wahlentscheidender Semantik aufgeladenen Slogan der Partei Die Partei zur vorletzten Bundestagswahl.
Er lautete: „Hamburg – Stadt im Norden“.
Ja, das sind ewige Wahrheiten! Genau wie die, dass dieses Stadion immer jenes an der Müllverbrennungsanlage bleiben wird, egal mit wievielen aus Gebäudetechnik generierten Millionen jemand daherkommt.
Drogba blieb übrigens – obzwar Ivorer – blass.
04 August 2010
Man muss Prioritäten setzen, immer
Mann, war das Licht heute Abend im Hafen saftig! Man hätte es vom Himmel klauben und kneten können und dann in Marmeladengläsern verwahren, für den Winter, der viel zu bald kommen wird.
Doch leider hatten A., der Franke und ich beim Biertrinken unter den Palmen am Pinnasberg kaum ein Auge dafür, weil wir aus irgendeinem idiotischen Grund, der mir, wenn ich ihn noch wüsste, total peinlich wäre, verzweifelt nach dem Namen eines Fußballers suchten, der mal eine klägliche Saison beim FC Bayern verbracht hatte und später nach Hannover geflohen war.
„Ich denke immer an Djorkaeff“, sinnierte A., „aber der war’s nicht.“
„Er fängt mit F an“, sagte ich.
„Nein, mit D“, beharrte A.
Derweil navigierte sich der Franke, der als Bayernfan diesen blöden Namen eigentlich am ehesten hätte wissen müssen, mit seinem Webhandy durch die kicker.de-Seite, blieb aber ständig an nebensächlichen Meldungen wie „Robben fällt für zwei Monate aus“ hängen.
„Forsthoff?“, warf ich hoffnungslos ein. Natürlich nicht. Inzwischen hatte auch A. sein archaisches Webhandy gestartet. „Es lädt“, murmelte er, „bin schon bei 6 Prozent.“ Allmählich leckte das letzte Glitzern des saftigen knetbaren Hafenlichts über die Spitzen der höchsten Kräne, aber ich hatte eh kein Marmeladenglas dabei.
„Elf Prozent“, sagte A.
Am Geländer hatte ein Mann Aufstellung genommen, der eine Gruppe Jugendlicher anschrie. „Eure Statistiken sind das Letzte!“, brüllte er. „Ihr werdet untergehen, alle!“ Uns kümmerte das alles nicht, es gab Wichtigeres auf der Welt, nämlich einen Namen, der uns auf der Zunge lag, aber nicht rauswollte, verdammt.
„Ich hab’s“, sagte A. in einem Tonfall, der nicht triumphal klingen sollte, obwohl er’s war. „Schlaudraff. Es war Schlaudraff.“
Schlagartig entwich dem Abend die Spannung, es wurde dunkel, und bald trieb uns die Augustkälte nach Hause. Schlaudraff. Ich hatte es gewusst: Irgendwas mit F.
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03 August 2010
Eine Betrugsanleitung – nicht zu Hause nachmachen!
So, hier kommt ein Geschäftsmodell für Skrupellose, dem ich neulich zum Opfer gefallen zu sein glaube, ohne die Kraft und die Unmoral zu haben, es meinerseits anwenden zu können:
Bei Amazon irgendwas bestellen, das unversichert verschickt werden wird, warten, bis es eintrifft, dann behaupten, es sei nie angekommen, sich das Geld zurückerstatten lassen, das Produkt selbst auf Amazon verkaufen – und hoffen, dass man nicht auf seinesgleichen stößt.Mit dem Kiez hat diese Geschichte natürlich nullkommanichts zu tun, im Gegensatz zum heutigen Foto, welches das mit LED-Lampen aufgehübschte Riesenrad zeigt.
Das größte mobile der Welt übrigens, angeblich.
02 August 2010
Fundstücke (94): Rotlichtllogik
Aus dem Fundus des legendären Kiezfotografen Günter Zint.
Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.
01 August 2010
Alles schläft, eine wacht oder Die Cinemaxx-Blitzreaktion
Von: Matt
Betreff: Aufpreis für Sichtbehinderung – wtf?
Datum: 31. Juli 2010 01:47:42 MESZ
An: cinemaxx.com
Liebes Cinemaxx Dammtor in Hamburg,
wir haben uns am Wochenende für 20 Euro den Leo-DiCaprio-Film „Inception“ angesehen (hervorragend, Hut ab), und zwar in Saal 1, Reihe M.
Ich weiß nicht, ob es Ihnen bereits aufgefallen ist, doch vor Reihe M befindet sich ein Metallgeländer mit einem geknicktem Handlauf, der zuverlässig einen Teil der Leinwand verdeckt – sogar wenn man sich aufrecht und möglichst gereckt hinsetzt, was einer bequemen Sitzhaltung aber eh nicht förderlich wäre. Im Theater kosten Plätze mit Sichtbehinderung weniger, bei Ihnen mehr – versteh einer die Welt!
Da die Vorstellung ausverkauft war und wir leider auch zufällig keine Metallsäge mitführten (ein Versäumnis, welches nicht wieder vorkommen wird), war das Problem nicht zu beheben. In der Pause des Films versuchte ich daher die verantwortliche Kassendame standrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen, doch sie hatte vorsorglich bereits das Weite gesucht.
Ich griff mir ersatzweise einen Sicherheitsmann im Saal und schilderte ihm den Mangel, ja, ich nötigte ihn sogar erfolgreich dazu, kurzzeitig meinen Platz einzunehmen und die versperrende Wirkung des Geländers mit eigenen Augen zu verifizieren, was er auch tat. Er wusste auch nicht so recht, welcher Teufel den Architekten geritten hatte, konnte aber zumindest die Information beisteuern, dass dieses Geländer bereits von Anfang an in diesem Saal sein Unwesen trieb.
Immerhin besteht der Handlauf – das muss ich fairerweise betonen – aus zwei parallelen Stangen, die etwa alle 50 Zentimeter vertikal verbunden und segmentiert sind. So konnten wir durch einen geschickten Mix aus Ducken, Recken und horizontales Verschieben des Oberkörpers auch Blicke auf jene Bildinhalte links unten erhaschen, die uns das sardonische Geländer eigentlich vorenthalten wollte. Gerade bei den anfänglichen Untertiteln erwies sich unsere körperliche Fitness als segensreich.
Gleichwohl kann es nicht im Sinne der Brüder Lumière sein, sich im Kino den Hals zu verrenken – vor allem nicht auf den teuren Plätzen. Denn zumindest das Parkett erfreute sich durchweg bester Sicht.
Lange Rede, kurzer Sinn: Weg mit dem Geländer, freie Sicht auf Leo! Was uns natürlich nur künftig wieder etwas nutzen würde, nicht aber die Vorstellung vom Samstag posthum zu retten imstande wäre. 20 Euro für einen Blick durch ein Geländer? Das finden wir – und ich spreche da auch im Namen von Ms. Columbo – deutlich übertrieben.
Sie hoffentlich auch.
Mit Nackenschmerzen:
Matt
Von: CinemaxX - Der Filmpalast
Betreff: AW: Kritik: Aufschlag für Sichtbehinderung – wft?
Datum: 31. Juli 2010 02:05:28 MESZ
Guten Tag Herr Wagner,
wir bedauern ihr getrübtes Kinoerlebniss und möchten ihnen als Entschuldigung gerne Freikarten zukommen lassen. Senden sie uns dazu bitte ihre Adresse auf diesem Weg.
Haben Sie vielen Dank für Ihre Mail und Ihr Interesse an unserem Hause!
Mit freundlichen Grüßen
Verena E. K.
CinemaxX Cinema GmbH & Co. KG
PS: Dass eine Mitarbeiterin mitten in der Nacht noch auf Kritik wartet und sie prompt kalmiert, finde ich im Nachhinein doch weniger erstaunlich als die kleine Veränderung im zitierten Betreff: Aus meinem „wtf“ wurde wundersam ein „wft“. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde …
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