„3000 Plattenkritiken“ | „Die Frankensaga – Vollfettstufe“ | RSS-Feed | In memoriam | mattwagner {at} web.de |
17 August 2010
Auf Kreuzfahrt (2): Verlorene Seelen
Als Passagier auf einem Kreuzfahrtschiff huldigt man dem brutalstmöglichen Eskapismus. Alles hier ist falsch, aber es ist großartig falsch.
Ein Kreuzfahrtschiff der gehobenen Klasse erfüllt die essenziellen Bedürfnisse des westlichen Menschen auf engstem Raum (wenn man 272 Meter Länge, 36 Meter Breite und eine Höhe von 14 Decks als „eng“ bezeichnen will).
Der westliche Mensch kann auf bestens präparierten Terrassen in der Sonne braten, so lange er möchte, er kann sich mitten auf dem Meer über eine vielfach gewundene Rutsche (Foto) ins beheizte Schwimmbad stürzen, er kann Fitnesstraining betreiben, bis der Arzt kommt (was Dottore sich mit 60 Euro pro Kabinenbesuch entlohnen lässt), er kann sich in unzähligen Clubs seine westlichen Depressionen schöntrinken, Bingo, Basketball, Roulette oder Tischtennis spielen – und vor allem: essen, essen, essen.
Die gebratenen Tauben, wie man so schön sagt, fliegen dir den ganzen Tag ins Maul, während Pakistan ertrinkt und Russland erstickt, und die Selbstkasteiung, Espresso, Wein und Whiskey extra bezahlen zu müssen, bringt dich kein Stück weiter auf dem Weg zur Rettung deiner Seele.
Vielleicht würde es helfen, die abendliche sog. Heilige Messe zu besuchen (immer um 17:15 Uhr, wir sind auf einem italienischen Schiff), doch wer’s nicht glaubt, wird halt auch nicht selig.
Weil das alles nun mal unwandelbar so ist, wie es ist, genieße ich mit nur maßvoll schlechtem Gewissen einen brutalsteskapistischen Nachmittag im Whirlpool. Über uns ist der Himmel makellos blau, während unendlich lange die an Rügen erinnernden Klippen von Gotland vorüberziehen.
Abends beim Dinner, als uns wieder gebratene Tauben ins Maul fliegen (respektive Ente bei Ms. Columbo und Knurrhahn bei mir – u. v. m. natürlich, das Dinner hat fünf Gänge, man hätte aber auch neun ordern können), konstatieren wir einen Wechsel in der Besetzung des Kellners gegenüber gestern (s. letzten Blogeintrag).
Der vibrierende Brasilianer hat erstaunlicherweise – obwohl sein Namensschild noch immer auf Tisch 42 steht – heute Abend bereits wieder frei. Oder er sitzt alternativ im Gefängnistrakt unter Deck, weil er sich gestern Abend, als wir längst aufgebrochen waren Richtung Mitternachtspizza im Büffetrestaurant, doch noch wild brüllend durch die übriggebliebenen Passagiere tranchierte, was die Kreuzfahrtleitung aber bislang peinlichst zu verheimlichen wusste.
So, mal schauen, was die Landgänge bringen.
--> Die beliebtesten Tags: Brief | Bus | Einzelhandel | Franke | Fußball | Obdachlose | Panne | Reeperbahn | Sex | Skurriles | Sprache | St. Pauli | Typen
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Zett informiert....
AntwortenLöschenHier kann man sich informieren wo unser Hausherr und Ms. Columbo z.Z wohnen und ob gerade Landgang ist oder man sich auf See befindet.
http://www.kreuzfahrtberater.de/deckplan.php?schiff=Costa+Magica
Schrecklich amüsant - aber in Zukunft ohne mich.
AntwortenLöschenSie haben Recht, der brasilianische Kellner hat gestern Abend noch tranchiert, aber nicht bei den Gästen, die sind ihm mittlerweile zu satt und träge und keine richtigen Gegner mehr für ihn. Hiergegen hatte der Kapitän auch nichts, denn ein Esser und Whirlpoolbenutzer weniger ist beim Personal immer willkommen und es fällt auch nicht weiter auf, Nachschub gibt’s schließlich jede Woche neu.
AntwortenLöschenNein, der Schlitzer ist jetzt Vegetarier und steht auf junges Gemüse und nahm sich deshalb den (kahlköpfigen) argentinischen Etagenkeller-Lehrling von Deck 3 zur Brust, der ihn sonst immer nach Feierabend mit seinem Diego-Trikot ärgerte. Und das geht ja wohl gar nicht, sagte der Kapitän. Wer macht jetzt die Arbeit unter Deck?
Gemerkt hat es erst der Smutje in der Kühlkammer, denn auf einer der Schweinehälften fand er statt des üblichen Schlachterstempels eine Maradona-Tätowierung an der Vorderschulter. Also nicht wundern, wenn demnächst kandierte Schweinsöhrchen oder saftige Schweinsnüsse anders schmecken, als bisher angenommen.
Jetzt macht der Brasilianer in der Spätschicht Etagendienst auf Deck 3 und nur die wenigsten wissen, warum er beim Betreten der Kabine so vorfreudig lächelt.
Also, lieber einmal öfter unter die Koje gucken, bevor man von innen verriegelt …
@ Anonym: Sie verweisen völlig zu Recht auf das grandiose Werk von David Foster Wallace (A Supposedly Fun Thing I'll never Do Again) - auch als Hörbuch sehr zu empfehlen (sogar auf Deutsch leidlich zu ertragen).
AntwortenLöschenLese- oder Hörempfehlung an alle designierten Kreuzfahrer ;)
Ich wage mal eine These: Wer bei kik kauft, fährt auch kreuz.
AntwortenLöschenKeine Belege, nur Hinweise - zum Beispiel (neben dem butterweichen Wallace):
http://faz-community.faz.net/blogs/fernsehblog/archive/2010/08/16/see-schwaeche-auf-allen-kanaelen-wie-das-fernsehen-der-kreuzfahrtindustrie-verfiel.aspx