25 Januar 2006

Saaaankt Paulihiiiiiiiii!

Natürlich wissen wir während des Spiels noch nichts vom sich anbahnenden größten Erfolg der Vereinsgeschichte. St. Pauli (Regionalliga) geht gegen Werder Bremen (Bundesliga) in Führung, kassiert aber wenig später ein Gegentor, was mich – kartenlos auf den Fernseher angewiesen – zu einer SMS ins Stadion bewegt („Ausgleich war abseits!“), die Andreas mit einem aufrichtigen „Verdammt!“ beantwortet.

Als es wahr ist, wirklich wahr, das endgültige, unglaubliche, undisputierbare 3:1, bleibt natürlich keine andere Möglichkeit: Ich muss mich bei Ms. Columbo entschuldigen und durch den Schnee in die Domschänke stapfen, um in Euphorie zu baden. Dort, in dieser an gewöhnlichen Tagen dumpf vor sich hin dämmernden Kneipe, ist jetzt gerade das pulsierende Herz der Republik, aber die Augsburger, Bitterfelder, Groß-Gerauer müssen samt und sonders mit der Tatsache ihres Nichthierseinkönnens leben, doch ich kann einfach hinüber gehen, es dauert keine fünf Fußminuten, und deshalb muss ich hin.

In den 80er Jahren ging ein Rekord durch die Presse, der Aufnahme ins Guinness-Buch fand: Ungefähr zwölf Leute (oder mehr) quetschten sich damals in eine Telefonzelle. Schade, dass sich heute Abend niemand aus der Guinness-Redaktion in der Domschänke aufhält. Denn das halbe Stadion ist da. Tohuwabohu! Halleluja! Glück tropft von der Decke!

Ich sehe Menschen, die während eines Handy-Telefonats lauthals einstimmen in den Kiezklassiker „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“, der aus der Musikbox donnert. Sogar Bremer Fans wanken herein. Sie singen „Ihr seid bessä / als der Ha-Ess-Vau“, womit sie bei den Domschänkensardinen mächtig punkten. Am Zigarettenautomaten, wo wir eine halbwegs passable Stelle des ungefährdeten Zusammengequetschtseins gefunden haben, treffe ich einen kugelrunden Dreitagebarttürken, der mir versichert, eigentlich nicht zu rauchen. Aber heute, nach diesem Sieg: Da muss es sein.

Er erklärt mir die neue deutsche Rechtschreibung: Weil St. Pauli im DFB-Pokal ausschließlich Städte besiegte, die mit B beginnen (Burghausen, Bochum, Berlin, Bremen), muss jetzt auch der Wettbewerb als ganzer umbenannt werden – in „Bokal“. Das erscheint mir vollkommen logisch.

Währenddessen spekuliert die Runde wild über den nächsten Gegner. Es kann uns ja, dem Gesetz der Serie folgend, nur Bayern oder Bielefeld zugelost werden; der letzte übriggebliebene Kandidat Frankfurt ist schließlich völlig B-los. Andreas argumentiert noch spitzfindiger: Da bisher jeder Gegner nominell stärker war als der letzte, muss nach Bremen natürlich Bayern kommen. Keinesfalls Bielefeld. Und wenn doch, dann hätte man ja vielleicht die Chance, gar das Halbfinale zu gewinnen, dann führe man zum Finale nach Berlin, und was immer dort geschähe: St. Pauli wäre im Uefa-Cup. St.Pauli.Im.Uefa.Cup. Gegen Inter Mailand oder so, man darf gar nicht drüber nachdenken.

In der Domschänke ist zügig das Astra ausgegangen. Die Menge hebt kurz die Augenbraue und steigt auf Jever und Holsten um. Irgendjemand hat „You’ll never walk alone“ gedrückt, und während ich aus voller Lunge mitsinge, wird mir klar, dass ich heute Abend sogar die Töne treffe, was mir sonst nie gelingt, weshalb ich diese Art der Artikulation gemeinhin sorgsam aus meinem Gefühlsäußerungsspektrum ausklammere. Jaja, der Zauber dieser Nacht!

Auf dem Rückweg sehe ich, wie die Fans den verschneiten Stadtteil verwandelt haben. Auf Windschutzscheiben und Kühlerhauben, auf Heckfenstern und Seitentüren, überall ist es zu lesen: „3:1“. Heute ist St. Pauli das Zentrum der Republik. Ach was: der Welt.

Und manchmal haben sie neben das „3:1” noch etwas anderes in den Schnee gemalt, mit bloßen Händen: ein Herz.


Ex cathedra: Die Top 3 der gößten Akustikgitarrensongs
1. „Caroline’s tune“ von John Renbourn
2. „Thrasher“ von Neil Young
3. „When poets dream of angels“ von David Sylvian

11 Kommentare:

  1. Ich hatte gehofft, Du würdest auf Deinem Nachhauseweg die verzierten Autos bemerken und fotografisch verewigen. Toll! Auch ansonsten gibt's diesmal keine Einwände - genau so war's! Danke!

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  2. JA!!!!!! Pauli!! Was für eine Nacht, was für ein Tag heute!! Ich habe auf Deinen schönen Bericht hier verwiesen, da ich gestern nicht mehr die emotionale Kraft für einen längere Jubelhymne hatte.

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  3. Als ich deutlich nach Mitternacht nach Hause schwebte, war mir klar, dass es eigentlich zu spät war, um noch einen sinnvollen Blog-Eintrag zu verfassen, aber was sollte ich machen? Es gibt Tage, da muss ein Mann einfach seine Pflicht tun.

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  4. "Schade, dass sich heute Abend niemand aus der Guinness-Redaktion in der Domschänke aufhält. Denn das halbe Stadion ist da."
    Die andere Hälfte war im Jolly Roger. Ich hab das spiel direkt da geguckt und musste nach ca. 10min (nach Abpfiff) meinen Platz an der Theke aufgeben. Großartig, besser als Weihnachten usw. zusammen.

    Andreas ich hab auch noch Autos:
    http://www.elbebass.com/2006/01/26/st-pauli/

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  5. Matt womit machste deine Fotos, weil mit meinem 6230 (ohja toll es hat eine Kamera drin) gibt es ja nur Pixelrauschen und ich bin immer ganz neidisch...

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  6. Gratulation aus dem Süden! Ich nehme an, schon bei der Auslosung zum Halbfinale wird es ein ebenso rauschendes Fest geben...

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  7. daiko, ich habe eine Minolta-Digicam mit 3 Megapixel, klein wie eine Zigarettenschachtel. Tolles Teil; sie produziert bei Bedarf sogar TIFFs von 9 MB Größe, damit erhält man fast DIN-A4-große Abzüge.

    joshua, am Samstag sitzt natürlich St. Pauli vorm TV, aber das rauschende Fest heben wir uns für den Spieltag auf.

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  8. Oooch, nehmt euch Bankfurt ruhig auch noch zur Brust - das passt schon. ;)

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  9. Fett wars! Habe zuhause sehen müssen, weil ich heute morgen so einen alten Dänen bei mir zu Gast hatte, aber es war auch so ein Erlebnis.

    Der Schiri hat zwar alles gegeben, aber wir haben dennoch gesiegt ;-)

    DREIZUEINSDREIZUEINSDREIZUEI-HE-INS!

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  10. Stimmt, „Bankfurt“. Dann kann ja jeder Gegner kommen, das B macht ihn zum leichten Opfer.

    GP, hat denn der alte Däne überhaupt Geschmack gefunden an deutschem Rumpelfußball im Schnee? Wenn man da mit dem Herzen nicht dabei war, könnte es eine Qual gewesen sein.

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  11. Der alte Däne war beruflich hier und hat den Abend zuvor im Hotel verbracht. Was genau er da getan hat, entzieht sich meiner Kenntnis und auch meinem Interesse.

    Die Leute, die abends bei mir guckten, waren jedenfalls mit dem Herzen dabei... obwohl O. schon ziemlich traurig war, daß er nicht im Stadion war. Aber das mache ich erst im Sommer wieder. Bin nämlich auch nur Schönwetterfan ;-)

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