24 Januar 2006

Die matte Entschuldigung

Jean-Remy von Matt beschimpfte die Blogosphäre unlängst als „Klowände des Internets“ und schaffte so im Handstreich das, was den kritischen Blogs bis dahin nicht gelungen war: seine anrüchige Nationalstolzkampagne „Du bist Deutschland“ völlig ins Abseits zu schießen.

Das Problem ist ihm offenbar inzwischen selbst bewusst, und nun will er retten, was zu retten ist – indem er sich bei den Bloggern entschuldigt.

Aber wie das so ist: Jean-Remy kommt einfach nicht raus aus seiner (Werber-)Haut. Sein Mea Culpa möchte er möglichst publikumswirksam an den Mann bringen, doch ums Verrecken würde er nicht auf die unterschwellige Botschaft verzichten wollen: dass er verdammt noch mal doch Recht hatte mit seiner Beschimpfung.

Doch lest selbst seine Mail, die er u. a. ans Handelsblatt schickte:

„Liebe Blogger,
meine Mutter hat mir noch mehr beigebracht. Zum Beispiel: Wer einen Fehler macht, sollte sich entschuldigen. Oder auch: Wer austeilt muss auch einstecken können.

Aber zunächst zu mir und meiner Entschuldigung:

Es ist mir sowohl klar, dass es das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gibt, als auch, wie wichtig dieses Recht ist. Es ist mir insbesondere klar, wie viel die Weblogs für die Verwirklichung dieses Rechts tun - vor allem in Ländern, wo Meinungsfreiheit nicht selbstverständlich ist.

Insofern tut es mir leid, dass ich dieses Recht unbedacht in Frage gestellt habe.


Ich hatte mich halt aufgeregt! Und eine Mail an meine Mitarbeiter geschrieben, die durch die berechtigte oder unberechtigte Kritik an einer Kampagne, an der sie monatelang hart gearbeitet haben, verunsichert waren und Zuspruch verdient hatten.


Vielleicht klang auch etwas Neid auf Euch durch, da die Form von Meinungsäußerung, die ich als Werbetexter seit über 30 Jahren betreibe, alles andere als frei ist: Jedes Wort wird vor der Veröffentlichung lange abgewogen, mit Auftraggebern verhandelt und dann noch repräsentativ auf seine Wirkung getestet.

Aber! Auch wenn die meiste Kritik an meinem Text konstruktiv und ernsthaft war, empfinde ich es als kommunikativen Hausfriedensbruch, dass eine interne Mail wie eine Sau durchs Dorf „Kleinbloggersheim“ getrieben wird.

Sollte es neben der Freiheit, eine Meinung zu verbreiten, nicht auch die Freiheit geben, eine Meinung nicht verbreitet zu wissen? Gilt beim Artikel fünf des Grundgesetzes nur Absatz eins, der das Recht auf Meinungsfreiheit definiert, und nicht Absatz zwei, der dieses Recht einschränkt, wenn die persönliche Ehre verletzt wird?

Kennt die Blogosphäre etwa keine Privatsphäre?

Viele von Euch schreiben, ich hätte mit meiner Mail ein Eigentor geschossen. Okay, eins vielleicht. Aber wie viele Eigentore schießt ihr gerade, indem Ihr mein Schlagwort „Klowände des Internets“ teils empört, teils genüsslich aufgreift im Sinne eines Agenda Setting verbreitet? Bei Technorati.com war der Suchbegriff zeitweise auf Platz 3!


Die Klowand-Debatte erinnert mich übrigens an Münteferings Heuschrecken-Debatte: In beiden Fällen gab es Kritik, dass ein Sachverhalt mit einem plakativen Bild unzulässig verallgemeinert wurde.


Die Heuschrecken waren ein Symbol für das Abgrasen und Weiterziehen. Die Klowände sind ein Symbol für das Anpinkeln und Verpissen – für Meinungsäußerung im Schutz der Anonymität.


Natürlich haben viele Investoren ethisch einwandfreie Ziele. Und natürlich haben viele Weblogs einen ernsthaften Ansatz. So haben mich die meisten Eurer Beiträge sehr inspiriert und mir die virale Kraft dieser Medienform bewusst gemacht.


Vergesst aber nicht, dass auch die Kommentare den Content eines Weblogs bestimmen. Und vor allem dort habe ich einiges gefunden, was meinem Vorurteil neuen Schub gab: Leute, das war teilweise unterste Klowand!


Aber wie sagte noch mal meine Mutter: Wer austeilt, muss auch einstecken können.


Euer Jean-Remy von Matt"


Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Er hat hausintern eine undichte Stelle, macht aber Blogger für die Verbreitung seiner internen Mail verantwortlich? Und plötzlich sind Blog-Kommentare die Klowände, und sie bestimmen den Content eines Weblogs?


Eine äußerst matte Entschuldigung. Eigentlich gar keine. Sondern nichts weiter als eine hübsch verpackte Werbebotschaft, die das tun soll, was alle Werbebotschaften tun wollen: uns etwas verkaufen, was wir nicht brauchen.

Lass stecken, Jean-Remy.

Alle Beiträge zum Thema:
Du bist nicht Deutschland, Deutschland!
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Der missbrauchte Gerald Asamoah

Ex cathedra: Die Top 3 der größten Mörderballaden

1. „Mary Brown“ von Dave Alvin
2. „Omie Wise“ von Doc Watson
3. „Where the wild roses grow“ von Nick Cave & Kylie Minogue


7 Kommentare:

  1. Es geht sogar noch besser:

    http://www.hebig.com/archives/002857.shtml

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  2. Das ist fast wie Verlängerung, der schiesst jetzt noch ein Tor... Mir gefällts :)

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  3. Und was ist mit "Delia's Gone", am besten in der Version von Johny Cash?
    Ansosnsten: Habt Ihr alle nichts Besseres zu tun, als mit WERBERN zu diskutieren? Schein ein Reflex auf die putzige Ansicht aus den 80er/90er Jahren zu sein, dass Werbung und Werber irgendwie cool sein könnten.

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  4. Mann, das ist ja vielleicht ein Kabel-Salat!
    Herr Herrner, wenn Ihnen das zu popelig ist, greife ich es auf. Bitte um Freigabe.

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  5. Aber bitte doch! Pit Kabels Kommentar ist aber immerhin schon ein Jahr alt.

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  6. Pit Kabels Kommentar ist schlichtweg zeitlos ;-). Bin gespannt, was Matt damit macht. Ich wusste bis dato nicht, was so alles an basisdemokratischen Weisheiten aus den Untiefen der Werbeszene kursiert...

    Als Pressearbeiter frage ich mich, warum dieses Zitat nicht in der W&V erschienen ist ...

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  7. Andreas, ich glaube, die neue Ansicht in der Blogosphäre ist eher die, dass Werber irgendwie doof sein könnten. Und das muss doch ausdiskutiert werden …

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