22 Januar 2006

Der gefühlte Diebstahl

Wenn ich Schallplatten nicht mehr mag, aber genau weiß, dass mir der Second-Hand-Autist für die Scheiben ein Angebot machen würde, für das er sich – wäre er zu Gefühlen fähig – in Grund und Boden schämen müsste, dann packe ich sie in eine Tasche und gehe zum Flohmarkt. Ich baldowere die Lage aus, checke die Händler, scanne die Stände. Bei manchen stehen die LPs unterm Verkaufstisch. Diese Händler sind ideale Opfer.

Ich hocke mich harmlos hin und sehe ihre Platten durch. Mit der linken Hand fixiere ich den schon durchgesehenen Stapel, die rechte flappt die nächste Platte nach vorn. Das ist meine Technik; sie lässt ein durchaus ansehnliches Tempo zu. Ich brauche nur eine halbe Sekunde, um eine Platte als interessant oder beleidigend einzustufen.

Tausende Fotos, Schriftzüge und Farben sind irgendwo in meinem Gehirn gespeichert, kein je gesehenes Cover entgeht der neuronalen Archivierung. Ich wünschte, ich könnte diese Fähigkeit auf wichtigere Gebiete übertragen. Zum Beispiel auf das Erinnern von Namen. Doch von den Leuten, mit denen ich Abitur gemacht habe, könnte ich heute keine fünf mehr korrekt ansprechen. Das Schlimme: Mit den Kommilitonen von der Uni geht es mir nicht anders. Dieses Handicap verhindert zuverlässig meine Teilnahme an Jahrgangstreffen.

Einmal schlendere ich über den Flohmarkt auf dem Wal-Mart-Gelände an der Feldstraße, und plötzlich spricht mich ein Händler an: „Mensch, Matthias, wie geht's denn so?“ Ich schaue ihn an, erkenne ihn sofort. Aber sein Name – nicht das Fitzelchen einer Spur einer Ahnung. „Ja, Mensch, gut, und dir?“, spiele ich äußerlich ruhig auf Zeit, während mir beim fiebrigen Grübeln Adrenalinlava durch die Adern schießt. Ich erreiche schließlich das rettende Ufer der Allgemeinplätze und Höflichkeitsroutinen. Das Signalisieren wichtiger Termine hilft mir endgültig aus der Klemme.

Schön ist das nicht. Aber Covers – zeig mir irgendeins, und ich weiß nicht nur, ob ich es kenne, sondern kann dir auch innerhalb einer halben Sekunde sagen, ob die Musik interessant ist oder nicht. Das gilt sogar für Platten, die ich nie gehört habe. Eine beinah magische Fähigkeit, deren Nutzen im Alltag aber begrenzt ist.

Beim Durchflappen der Platten gibt es übrigens konkurrierende Techniken. Ich kenne Einhandvirtuosen, die klappen sie nicht einfach von hinten nach vorne wie ich, sondern ziehen jede einzelne fünf Zentimeter hoch und lassen sie dann wieder geräuschvoll fallen, nicht ohne ihr einen winzigen horizontalen Impuls mitzugeben, der das Album auf den bereits gecheckten Stapel kippen lässt. Mir scheint diese Methode immens aufwendig. Doch ich kenne Männer (immer und ausschließlich Männer!), die es darin zu olympischer Meisterschaft gebracht haben. Das Hochziehen, Scannen und Fallenlassen dauert bei weitem nicht die halbe Sekunde, zu der ich Trantüte mich im Lauf meiner Flappkarriere vorkämpfen konnte.

Aber all das spielt jetzt keine Rolle. Ich tue also, als wühlte ich mich durchs Vinyl, in Wahrheit aber beobachte ich den Händler. Ich warte auf meine Chance. Und wenn er in der Börse wühlt oder mit einem Kunden feilscht, schlägt Fantomas zu. Mit katzenhaft fließenden Bewegungen fingere ich die mitgebrachten Alben aus der Tasche und lasse sie blitzartig in seinem Stapel verschwinden. Ordnungsgemäß klappe ich ihn danach wieder nach hinten, gucke angesichts der ganzen Yazoo- und Kajagoogoo-Platten vorwurfsvoll, grinse schief und entschwinde in der ahnungslosen Menge.


Ehrlich: Ich habe noch nie eine Platte geklaut. Aber eine heimlich dazuzustellen und dann zu türmen, fühlt sich offenbar ganz genauso an. Kann mir das bitte mal jemand erklären?


Ex cathedra: Die Top 3 der größten HipHop-Songs aller Zeiten
1. „The city sleeps“ von MC 900 Ft Jesus
2. „Pink cookies in a plastic bag“ von LL Cool J
3. „My brain“ von Young MC

10 Kommentare:

  1. Wenn es gute Platten waren, würde ich diese Haltung als altruistisch einschätzen. Waren es Vinyls, die dem Sperrmüll auf diese Weise entkamen... okay dann auch, wenn sie einen Käufer fanden, sei es auch nur für 20 Cent.

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  2. Schallpaltten waren nie mein Ding, das ging, obwohl Jahrgang 73 voll an mir vorbei.

    Aber das mit den Namen, das kenne ich nur zu gut. Ich habe in meinem Bekannten- und Kollegenkreis mindestens ein Duzend Leute, mit denen ich mich oft und regelmäßig unterhalte, die auch alle mich beim Namen kennen, bei denen ich aber nicht die geringste Ahnung habe, wie der Name auch nur beginnt. Und dann, so nach 3 oder 4 Jahren, da fragt man dann auch nimmer.

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  3. Mario, geht es dir denn bei deinen Welpen genauso? ;-)

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  4. Was für eine Pointe. *grins*
    Auf so eine Idee würde ich gar nicht kommen. Warum nicht gleich offensiv verschenken?
    Pat

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  5. Meistens sind es Platten, für die mir im Bekanntenkreis keine Abnehmer einfallen. Oder welche, die an fataler Stelle einen Kratzer aufweisen (das Fehlkaufproblem), so dass ich sie einem Freund nicht zumuten möchte.

    Also bereite ich lieber Flohmarkthändlern heimliche Überraschungen.

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  6. hihihi, das find ich gut :)
    Pat

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  7. ähem, zur Vorbeugung von Missverständnissen:

    "gut" im Sinne von "echt lustig" solange ich nicht selber darunter leiden muss. Ich weiß, ist inkonsequent ...
    Pat

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  8. Großartige Idee! Komischerweise habe ich so gut wie nie mit Vinyl-Fehlkäufen zu kämpfen, die auf diese Weise neutralisiert werden müssten, aber das Prinzip müsste sich doch eigentlich auch auf Bücher übertragen lassen, oder? Werde ich demnächst mal ausprobiereen.

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  9. MC 900 FT JESUS. Der Song ist so ein Knaller. Hab ihn mit 16 das erste Mal im österreichischen Radio gehört. Danke für die Ausgrabungen! Ich bin brandangestiftet! Danke!!

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  10. Dieser Track altert komischerweise auch nicht. Und sein Groove ist nicht von dieser Welt.

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