15 Januar 2006

Der Schmerzensmann

In 15 Minuten Fußentfernung von der Seilerstraße liegt das Restaurant Bok. Dort hängen Neonröhren an den Wänden, Tische und Stühle wirken kahl und mensahaft, doch das Essen ist gut und erschwinglich.

Das Bok kocht asiatisch. Ehe man mir jetzt kulturelle Hybris entgegenhält und ausführt, das sei ja mal wieder typisch, den fernen Osten einfach als „asiatisch“ glattzubügeln, wo doch hunderte von spezifischen Kulturen und Gesellschaften … schon klar. Aber mit nachsichtigem Lächeln beharre ich im Fall des Bok auf „asiatisch“, denn die Karte offeriert Diverses: japanische, koreanische und thailändische Gerichte.

Wir ordern thailändisch. Ein junger Mann mit gewagter Frisur – an den Seiten kurz, hinten mit spitz zulaufender Strähne bis zum Kragen – serviert zunächst die Getränke. Er tut das mit Grazie und Verve. Nach meiner schwach ausgeprägten Kenntnis asiatischer Physiognomien zählt er wohl zum japanischen Kulturkreis.

Als er Ms. Columbo Wasser einschenkt, schwebt seine Hand plötzlich nur Zentimeter über der offenen Kerzenflamme. Ich schaue entsetzt zu ihm hoch, doch er gießt ungerührt weiter. An seinem rechten Kiefer ist eine wulstigrunde Narbe zu sehen, groß wie ein 2-Euro-Stück. Zackig und mit tänzerisch anmutender Übertreibung stellt er die Wasserflasche wieder ab, nachdem er auch mein Glas gefüllt hat. Ich suche nach Anzeichen des Schmerzes in seinem Gesicht oder nach einer schwarzen Stelle an seiner rechten Daumenwurzel. Vergebens.

Immer, wenn dieser Ober im Lauf des Abends in der Nähe ist, betrachte ich verstohlen seine Hände. Vielleicht ist er ja ein Yakuza, einer, der sich bereits ein Fingerglied abtrennen musste, um einen Fehler zu begleichen, und der darüber gelernt hat, wie man Schmerzen ignoriert.

Doch ich finde es nicht heraus. Die Rechnung bringt dann ein anderer.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Better version of me“ von Fiona Apple, „Lost highway“ von Hank Wilson und „Barbarellas“ von Stephen Duffy.


6 Kommentare:

  1. Ich glaube fast, ich muss heute schon wieder im Dienste der Wahrheit einschreiten. "Lost Highway" von Hank Wilson? Das klingt entweder nach einer ziemlichen falschen Schreibweise für Hank Williams, der den Song berühmt gemacht (nicht aber geschrieben) hat, oder aber nach einer Verwechslung von Künstlername und, sagen wir, Alter ego. Es gibt nämlich eine LP von Leon Russell (an den der eine oder andere vielleicht kürzlich durch die DVD vom Bangladesh-Konzert erinnert wurde) uas dem jahre 1973 mit dem schönen Namen "Hank Wilson's Back", auf der er verschiedene Hank-Williams-Songs und andere Countryklassiker interpretiert, darunter eben auch "Lost Highway". Sollte es nun doch einen realen Sänger namens Hank Wilson geben, bin ich jederzeit bereit, zu Kreuze zu kriechen ... Vorher aber noch der Hinweis auf zwei weitere Versionen dieses großen Songs: Zum einen die von Jason & the Scorchers von 1985 und zum anderen (natürlich) die von Meister Dylan im Dokumentarfilm "Don't Look Back".

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  2. Lieber Andreas, du liegst völlig richtig! Es handelt sich um Leon Russell, aber die LP hat er unter dem Pseudonym Hank Wilson veröffentlicht; auch auf dem LP-Rücken steht nur dieser Name. Korrekterweise musste ich also Wilson in meiner Tagesliste aufführen (habe die Platte in hervorragendem Zustand gerade auf dem Flohmarkt im Univiertel erstanden).

    Über die Theorie einer falschen Hank-Williams-Schreibweise bin ich aber ziemlich betrübt. Ich glaube, ich muss an meinem Ruf arbeiten …

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  3. Der Japaner: sehr wahrscheinlich Morphium. Direkt neben mir (bei einer Party auf meiner Bude an Bord)ist einem die ganze Zigarette in der Handfläche abgebrannt, bis ICH es bemerkte. Später fanden wir in seiner Kammer jede Menge leerer Morphium Ampullen. Dazu paßt auch das leichte Tänzeln.

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  4. Dagegen spricht indes die präzise Koordination seiner Körperbewegungen. Führt Morphium nicht zu einer gewissen Rezeptionsverzerrung und somit zum Scheitern von Aktionen, die exakte Ausführung erfordern?

    Ich bin inzwischen der Meinung, der Mann hat einfach abgewogen zwischen Dienst am Kunden und egoistischem „Aua!“-Brüllen. Und da überwog die gute Ausbildung.

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  5. Grummel, grummel: Jetzt erwähnst Du schon wieder diesen Flohmarkt, auf dem ich NICHT war! Naja, das muss ich jetzt ertragen als Strafe dafür, dass ich Dir eine falsche Schreibweise des Namens von Hank Williams unterstellt habe ... Leon Russell hat übrigens, wie ich gerade sehe, noch zwei weitere "Hank Wilson"-Platten veröffentlicht, bei denen er aber nicht mehr so cool war, auf seinen echten Namen zu verzichten.

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  6. So doll war der Flohmarkt nicht, wenn es dich tröstet. Aber ein Stand eben doch … ;-)

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