29 November 2006

Nichts geht mehr

Beim abendlichen Heimradeln erweist sich der Verkehr als völlig lahmgelegt. Alles steht, Bus an Auto, Auto an Bus. Warnblinkanlagen flackern, ungeduldige Menschen stehen in der Bahrenfelder Straße zwischen Auspuffrohren und Kühlergrills herum. Alles sind ratlos. Klar ist: Nichts geht mehr. Stillstand. Eine Zivilisation am Rande der Hilflosigkeit.

Kurioserweise traut sich dennoch keiner weg von seinem Wagen, obwohl ja auch niemand damit durchbrennen könnte. Eine Krux. Als Fahrradfahrer aber grinst man der Malaise souverän ins Gesicht und schlängelt sich virtuos durch den autoimmobilen Parcours.

Und der zieht sich hin, alle Achtung. Auch in der Kleinen Rainstraße steht Wagen an Wagen. Nichts nervt den urbanen Menschen mehr, als zur Untätigkeit, zum Verharren an einem bezugslosen Ort verdammt zu sein – vor allem, wenn er nicht weiß, warum. Woher kommen wir, wohin gehen wir – und wann endlich, verdammt noch mal?

Nur der Radfahrer wird es bald erfahren, denn er zwängt sich durch kleine blechgesäumte Lücken, er nutzt kurz den Gehweg, hüpft fidel über den Bordstein zurück auf die zugestellte Straße, stützt sich an der Wand eines – haha – Schnellbusses ab und erreicht schließlich den Anfang des Staus, der gerade halb Altona lahmlegt.

Und hier haben wir den Übeltäter. Wo die Kleine in die Große Rainstraße übergeht, parkt ein roter Golf halb auf der Straße, und genau dort kommt nun ein Bus nicht mehr um die Kurve. Ein Umstand, der sich in Form zunächst stockenden, dann stehenden Verkehrs rückwärts fortgepflanzt hat und sich inzwischen wahrscheinlich der Stresemannstraße nähert oder sogar schon der Abfahrt Bahrenfeld, und vielleicht leckt der Stau auch bereits gierig hoch auf die Autobahn und führt zu zähem Fließen bis hinauf nach Schnelsen-Nord und irgendwann bis Flensburg.

Und alles wegen eines roten Mittelklassewagens. Hier an der Ecke, vorm Golfus delicti, ist Volksauflauf. Polizei sichert die Lage. Alles wartet auf den Abschleppwagen. Bis dahin ruht weiter still und starr, was doch zum Sichbewegen geschaffen ist. Schaulustige besprechen die Lage. Nicht bei den Buskunden, aber bei den Fuß- und Müßiggängern herrscht vorfreudige Erwartung. Beim Abschleppen zuzusehen, ist immer eine feine Sache.

Noch feiner wäre es allerdings, der Fahrer des roten Golfs kehrte jetzt zurück und müsste sich dem Volkszorn stellen. Ich habe eine solche Situation mal in der Friedensallee erlebt, wo ein unsensibler Automobilist ebenfalls einen Bus blockiert hatte. Bei seiner Rückkehr erkannte er gleich die Brisanz der Situation und versuchte sich gleichsam unsichtbar ins Auto zu flüchten. Die nahezu tollwütigen Busfahrgäste allerdings stellten ihn und schrien ihm Vorwürfe entgegen, von denen ein mit Schaum vor dem Mund vorgetragenes „Ich habe ein krankes Kind zu Hause! Was denkst du dir eigentlich, du!“ der niederschmetterndste war.

Noch nie habe ich eine Menschenmenge so nah an ihrer Verwandlung zum Lynchmob gesehen wie damals. Daran merkt man, welche Bedeutung die Bewegungsfreiheit hat. Kein Wunder, dass Gefängnisinsassen manchmal sogar Dächer entern, nur um sich mal ungestört die Füße vertreten zu können.

Heute jedenfalls droht dem Golffahrer ebenfalls großes Ungemach, träte er unbefangen an sein Gefährt heran. Doch wenn er schlau ist, gesellt er sich einfach unauffällig zum potenziellen Lynchmob und schaut mit innerem Bedauern zu, wie sein Wagen demnächst abgeschleppt wird. Im Endeffekt kommt ihn das billiger – und ist deutlich weniger riskant.

So lange kann ich aber nicht warten. Also radle ich weiter und erfreue mich einer gähnend leeren Reststrecke bis zum Bahnhof Altona. Unterwegs wiege ich mich in der süßen Gewissheit, wieder ein wenig Blogstoff aufgesammelt zu haben.

So hat selbst das Lahmliegen des Hamburger Individualverkehrs noch sein gerüttelt Maß Gutes.

28 November 2006

Eisberg, wo bist du?

Sollte die Firma Titanic-Reisen sich wundern, wieso ihr Absatz von Reisen nach New York nicht richtig in die Puschen kommt: Ich hätte da eine These.

Der Fairness halber muss allerdings erwähnt werden: Beim Unternehmen titanic.de kann man wider Erwarten keine Schiffsreisen, sondern nur Flüge und Bahnfahrten buchen.

Die Aufforderung „Versuchen Sie Ihr Glück!“ hat dennoch ein – nun ja – G’schmäckle.

27 November 2006

Wie ein Dieb in der Nacht

Als ich heute den Saturn-Laden an der Mönckebergstraße verließ, wo ich meine Füße samt Aufzugsschacht fotografiert hatte und um die riesigen Plasmafernseher herumgeschlichen war wie ein ausgehungerter Pitbull um rohes Lammhack, fand ich mein Fahrrad blockiert vor.

Irgendein Witzbold hatte das Speichenschloss am Hinterrad, dessen Existenz mir bis dahin nicht einmal bewusst gewesen war, mit brutalstmöglicher Gewalt zusammengedrückt, so dass es jetzt seiner ureigenen Aufgabe mit Entschlossenheit nachkam, nämlich das Hinterrad störrisch am Drehen zu hindern.

Infolgedessen war mein Rad vollends lahmgelegt. Zwar konnte ich es vom Pfosten abschnallen, doch das war es dann auch. Einen Schlüssel fürs Speichenschloss hatte ich natürlich nicht – wie auch, wenn ich von dessen Existenz erst auf solch düpierende Weise erfahren musste?

Wie sich wenig später herausstellte, gibt es kaum eine blödere Situation, als mit einem blockierten Fahrrad durch die halbe Stadt zu müssen. Das Hinterrad musste ich unter Aufbietung meiner fitnessclubgestählten Muskelkraft zuverlässig von jeglichem Bodenkontakt fernhalten, was mich einem bösen Verdacht aussetzte.


Die Blicke der Passanten und S-Bahnfahrer beschuldigten mich nämlich wortlos, aber beredt des schäbigen Fahrraddiebstahls. Immerhin schritt keiner von diesen Feiglingen ein, was mir allerdings wenig Hoffnung macht für den Fall, dass mein Rad wirklich mal geklaut und von einem Dieb durch die halbe Stadt gehievt werden sollte.

Im Fahrradladen in der Talstraße, wohin ich mich mit letzter Kraft und taubem Arm schleppte, musste man den Bolzenschneider bemühen, um diesem elenden Speichenschloss den Garaus zu machen. Wenigstens schaute mich der leicht dickliche Teenager, der das Werkzeug sachkundig ansetzte, nur dumpf und teilnahmslos an.

Das rettete halbwegs meinen Abend.

Die Fundstücke des Tages (30)

1. Nur 14 Monate Bloggen haben gereicht: Beim Suchwort „Reeperbahn“ liefert Google weltweit rund 1,3 Millionen Suchergebnisse – und führt dieses Blog auf Rang 3! Bin baff. Höher werde ich allerdings zu Recht nicht kommen, denn www.reeperbahn.de und Wikipedia sind natürlich unschnackelbar.

2. Vorgestern war jemand hier, der absolvierte in 178 Sekunden 29 Seitenaufrufe. Wie geht das? Diese Leistung erinnert mich an den 16-jährigen SMS-Weltrekordler, der in gut 41 Sekunden eine Nachricht von 160 Zeichen Länge in sein Handy gehackt hat. Vielleicht war er das ja mit den 29 Seitenaufrufen – Ang Chuang Yang, warst du das?

3. Schöner Verschreiber in einer Filmbeschreibung bei Amango: „Hautrolle“ … Leider war nicht die Rede von einem Nacktmodell, sondern vom großartigen William H. Macy. Sonst hätte es auch eine Spur zu plump gewirkt.

4. Das gestrige Foto von Axel Schulz birgt ein merkwürdiges Detail, auf das ich im Beitrag – aus Angst, mich zu verzetteln – nicht näher eingehen mochte: seine merkwürdig gichtig verbogene Hand, die auch beim Mützenhochschieben starr blieb, wie ich dank eigener Inaugenscheinnahme bezeugen kann. Kam das vom Kampf? Hat Schulz Rheuma? Hier kann möglicherweise ein Fachmann wider Willen weiterhelfen.

Alle bisherigen Fundstücke des Tages:
1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10,
11, 12, 13,
14, 15, 16, 17, 18, 19, 20,
21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, Oh, my Google!

25 November 2006

We can only lose

Klar, Axel Schulz ist ein tapsiger Bär mit Berliner Zungenschlag, und man mag den Burschen gern. Aber er sollte nicht boxen.

Und wenn er schon ein Jahr lang trainiert, um doch wieder zu boxen, obwohl alle Welt sich vor den Kopf schlägt und sagt: Axel, tu das nicht, dann sollte Axel keinesfalls zu einer akustischen Latinsoulversion des Doors-Songs „Light my fire“ einmarschieren.

Klar, er gilt als „weicher Riese“, weil er entscheidende Kämpfe immer verliert, und die weiche Version eines Riesenhits passt da gut ins Bild. Aber warum um alles in der Welt sucht sich ein Boxer, der immer verliert, einen Song aus, in dem es klipp und klar heißt: „We can only lose“ …?

Auch das restliche Umfeld stimmte hinten und vorne nicht, vom Kirmessender RTL mal ganz abgesehen. Schulzens Interviewer nämlich war Kai Ebel, und der hat vielleicht Ahnung von der Formel 1, aber vom Faustkampf so viel wie ein Nacktmull von Quantenphysik.

Und obwohl alle Welt sich vor den Kopf schlägt und sagt: Kai, tu das nicht, interviewt der Kai Boxer, die nicht boxen sollten, und dann kommen Fragen dabei heraus wie diese: „Axel, wie geht's jetzt weiter? Was denken Sie: Erst mal in der Nacht schlafen?“

Nein, die Doors hatten Recht.
Wir konnten nur verlieren heute Abend.

Ex cathedra: Die Top 3 der Doors-Songs
1. „Love street“
2. „Love her madly“
3. „L. A. Woman“

Nena?

Typische Frage an einen Musikjournalisten.
Aber schwer zu beantworten – wegen der fehlenden Absenderadresse.

24 November 2006

10 und schon Samariter

Unterm Hochbahnhof Holstenstraße gibt es einen vernachlässigten Fahrradunterstand, der etwa so viele ruinierte wie fahrbereite Räder beherbergt. Dort sprach mich gestern ein ungefähr 10-jähriger Junge an.

„Entschuldigung“, sagte er schüchtern und gebeugten Rückens – offenbar kostete es ihn viel Überwindung, mich anzusprechen. Ich nahm einen Ohrhörer heraus.

„Hier drüben“, sagte der Junge mit Spatzenstimme und ging vor, mitten hinein ins Gewirr der Radruinen. Da ich selten von 10-Jährigen angesprochen werde, sondern höchstens in der Zeitung davon lese, was dabei herauskommt, wenn Männer 10-Jährige ansprechen, konnte ich kein exaktes Verhaltensprogramm für diesen Fall abrufen. Etwas unsicher ging ich ihm nach.

„Hier“, sagte er und zeigte auf ein Rad, das an einem Poller lehnte, „das Schloss ist kaputt, und jetzt kann jeder das Fahrrad mitnehmen. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“

Sogleich fühlte ich mich gerührt. Denn was muss man sich nicht alles anhören über die nachwachsende Jugend! Kein Deutsch sollen sie mehr können, ihre sozialen Fähigkeiten ausschließlich an Killergames schulen und darob sowieso direktemang einer arbeitslosen, gewalttätigen und drogengeprägten Zukunft entgegendelirieren.

Und jetzt das: ein Kind, das sich kümmert.
Ein empathisches Kind.
Ein Wunder!

Noch ehe ich das Rad näher inspizierte, sprach ich dem Jungen ein aufrichtiges Lob aus. Innerlich verband ich dies mit dem Wunsch, der sympathische Bursche möge sich hinfort erinnern an die unauflösliche Verknüpfung von Tat und Belobigung; und er möge sie als Ermunterung auffassen für weitere gute Taten auf einem hoffentlich nicht von oben genannten Aussichten geprägten Lebensweg.

Zurück zum Schloss. In der Tat schlotterte dem Rad die Sicherungskette lose ums Gestell. Allerdings stand auch das kleine Bügelschloss untätig offen. „Hast du schon probiert, das Schloss zuzudrücken?“, fragte ich den Jungen. „Nein“, musste er zugeben. Ich drückte den Bügel ins Loch, und er rastete ein. Das Rad war gesichert.

Wäre der Bursche auch noch selbst auf diese Idee gekommen (die, ehrlich gesagt, verdammt nahelag), hätte ich ihm mindestens die Gründung eines Konzerns à la Microsoft zugetraut. Doch dann wäre seine Sorge niemals an die Öffentlichkeit gedrungen.

Mir ist es so rum lieber.

23 November 2006

Fußball auf Fränkisch

Mit dem Franken in einer Kneipe Champions League zu gucken, ist ein schwieriges Geschäft. Wenn gerade seine Bayern nicht spielen, verfällt er nämlich in eine konsequente Muffelstarre. Vor allem dann, wenn Bremen spielt.

Halbkreisförmig und mit aufgestütztem Kopf sitzt der Franke dann trübe da. Meist schweigt er, nur manchmal purzelt ihm feindseliges Gegrummel aus dem Mund.

„Hühnerhaufen“, wirft er etwa mit müdem Triumph in die desinteressierte Runde, wenn die Bremer eine Kombination des Gegners nicht augenblicklich stoppen können. „Kein Foul“, kommt es unvermittelt aus dem fränkischen Muffelzentrum, wenn beispielsweise Frings gerade einen Ellenbogen ans Jochbein gerammt bekommt.

Und unser Jubeln und Klatschen beim Siegtor kommentiert er mit: „Die können euch nicht hören. Ihr seid albern.“ Aber glücklich!, erläutere ich dem Griesgram frohgemut. Und erinnere ihn an gemeinsame Momente im Wohnzimmer beim Konsum meist öder Bayernspiele, als sein zartfühlendes „Hau ihn um!“-Geschrei Richtung Fernseher noch lange durch die Häuserschluchten St. Paulis hallte, trotz der geschlossenen Fenster.

Auch sah ich ihn schon bei Toren auf der richtigen Seite zutiefst aufgewühlt vom Freischwinger rutschen und ein animalisches „Jaaaaaa!“ brüllen, welches von einer Provenienz war, für die er sich jedesmal hinterher entschuldigen zu müssen glaubte. Zurecht übrigens – schließlich musste ich weiter mit den Nachbarn leben, nicht er.

Werder Bremen gewann heute Abend wirklich gegen Chelsea, und im Kiez-Beach an der Reeperbahn herrschte selige Ausgelassenheit. Nur im Zentrum des Glücks hockte ein pechschwarzes Loch, und es kam aus Franken.

Ich gestehe: Dieser Anblick verdoppelte meine Freude über Bremens Coup. Aber sagt's ihm nicht, sonst kommt er nächstes Mal nicht mehr mit.

Die bisherigen Teile der Frankensaga
19. Der Kulturstoffel 18. Fußball auf Fränkisch! 17. Auhuuu! 16. Die Bettelblickattacke 15. Der Franke bleibt störrisch 14. Der unvollendete Panini-Coup 13. Duck dich, Sylt! 12. Auf Partypatrouille 11. Laggs auf vier Uhr 10. Der Franke ist überall 9. Die Greeb-Pfanne 8. Erste gegen dritte Liga 7. Die verspätete Riesenkartoffel 6. Der historische Tag 5. Der Alditag 4. Der Faschingskrapfen 3. Der Klozechpreller 2. Der Dude 1. Das Alte Land


22 November 2006

Stimmt

Am Montag kam der Spiegel mit einer Afghanistan-Story und dem Slogan „Die Deutschen müssen das Töten lernen“ auf den Markt.

In Emsdetten lief derweil der waffenstarrende Sebastian Bosse Amok, und dpa meldete 27 Verletzte.


Wäre man Zyniker, müsste man sagen: Am Spiegel-Slogan ist was dran – und „Counterstrike“ als Tötungstrainer ein Flop.

19 November 2006

Kleinkrieg der Knöpfe

Mein Kraftbuch spinnt. Genauer gesagt die Tastatur. Abwechselnd pausieren Tasten. Es begann mit dem H. Als es wieder ging, verabschiedete sich das B. Und ureit ist es ein Buchstabe, den ich naturgemäß gerade nicht tippen kann, der sich aber anhört wie „ts“. Es ist, als bräuchten sie nacheinander Urlaub – und nähmen ihn sich auch.

Wahrscheinlich gewährt jede Taste einem kleinen Bewohner Obdach, der immer, wenn sie angeschlagen wird, hochhuscht hinters Display, sein gants persönliches Tseichen von hinten auf die Scheibe klatscht und wieder tsurückhuscht unters heimelige Dach seines Tastenhäuschens. Und wenn ich die Löschtaste drücke, flucht er, rast wieder hoch und radiert sein Tseichen wieder aus.

Dieser Job ist wahrscheinlich schlecht betsahlt, selbst als E, obwohl du als Tastenbewohner immer in Bereitschaft sein musst, sogar nachts. Kein Wunder, dass der Wunsch nach Urlaub mit der Tseit ins Unermessliche steigt – und irgendwann einfach mal umgesetst werden muss.

Nach heißen Diskussionen im Untergrund konnte offenbar tsunächst das H seine Erholungsbedürftigkeit am schillerndsten schildern, weshalb es als Erstes abdampfen durfte. Nach seiner Rückkehr sagte das B für eine Woche tschüs, und jetst ist es eben just das „ts“.

Ich sollte eine Urlaubssperre für Tastenbewohner durchsetsen, aber wahrscheinlich sind sie allesamt tarifgebunden. Vielleicht tut’s erst mal eine Rattsia.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Buchstaben
1. „Love is just a four letter word" von Bob Dylan
2. „I-feel-like-I'm-fixin-to-die-rag" von Country Joe & The Fish
3. alles von ABC

18 November 2006

Nicht aus gutem Grund

Heute im Gemüseladen beklagte sich eine wartende Kundin (ca. 40) bei ihrer Begleiterin lautstark über Köln.

„Die Stadt ist irgendwie so … ich weiß nicht“, führte sie mit großem Engagement gewichtige Anti-Köln-Gründe an, und ihre Freundin war ehrlich bestürzt über die Schlagkraft dieser Herleitung.


Ich freilich hätte gern nachgehakt, doch das stand mir als stillem Lauscher natürlich nicht zu. Die Spezies der starken Argumente scheint jedenfalls zu den bedrohten Arten zu gehören. Denn auch der Nachwuchs, auf dem ja jede Besserungshoffnung ruht, kennt so etwas wie Begründungen nur noch vom Hörensagen.

Neulich fragte ich meine Nichte (13), wie ihr denn das Konzert von Silbermond gefallen habe, zu dem ich sie begleitet hatte. „Cool“, sagte sie.

Was denn konkret daran cool gewesen sei, begehrte ich vertiefend zu erfahren, und sie sagte: „Weiß net.“ Was war denn besonders toll? „Weiß net.“ Und die Solonummer des Drummers, wie fand sie die? „Cool.“

Mehr ließ sie sich nicht entlocken, aber warum auch? Sie war ja längst auf dem Argumentationslevel der 40-jährigen Kölnfeindin im Gemüseladen angelangt – und das bereits mit 13!

Rückschluss: Meine Nichte ist möglicherweise ein Genie.


Weil Gemüse Erwähnung fand, verbrate ich einfach mal ein weiteres Romfoto. Merkt ja eh keiner.

16 November 2006

All you need is … den richtigen Namen

Zur Feier des neuen Beatles-Albums seilten sich heute Abend Menschen ohne jede Höhenangst – also offenkundig Aliens – vom trutzigen Weltkriegsbunker an der Feldstraße ab, um den Albumtitel „LOVE“ ins Novemberdunkel zu lächeln. Ein rührender roter Triumph übers gewaltige Grau des Betons.

Wie man sieht, musste der Buchstabe „V“ ohne persönlichen Betreuer auskommen, doch das lag nicht an einem vorangegangenen Absturz; von vornherein standen für den „LOVE“-Dienst nur drei Mann parat.

Das später im fünften Stock anberaumte Büffet war dann – trotz der in Rotwein(!) marinierten Lachshappen – den einleitenden Worten der taffblonden High-Heels-Labelchefin weit überlegen. Ihr fiel nämlich der Name der weltberühmten Hamburger Beatles-Fotografin nicht ein, was sie kaltlächelnd mit „Astrid Irgendwer“ überspielte.

Daraufhin verließ Eurovison-Contest-Moderator Peter Urban schnaubend und kopfschüttelnd den Saal, der Rest der Anwesenden tuschelte gepeinigt.

Sollte Astrid Kirchherr persönlich hier gewesen sein, was angesichts der Promidichte mit Beatles-Bezug (darunter Star-Club-Gründer Horst Fascher) sogar wahrscheinlich war, dann hat sie bestimmt Peter Urban im Aufzug getroffen.

Ex cathedra: Die Top 3 der Beatles-Songs (Version November 2006)
1. „While my guitar gently weeps (Demo-Version)“
2. „Don't let me down“
3. „Rocky Raccoon“

Bauchpinseleien

Heute im Fitnesskurs sagte der Trainer zu einer Teilnehmerin während der Übung: „Du musst den Bauch einziehen!“ Und die Frau antwortete: „Der IST eingezogen!“

Daraufhin fiel mir eine Begebenheit ein, bei der ich eine ähnliche Rolle spielte wie heute der Trainer. Vor meinem Flohmarktstand tauchte plötzlich eine Bekannte auf, von deren fortgeschrittener Schwangerschaft ich wusste, und ich fragte sie: „Und: Wann ist es denn soweit?“ Woraufhin ihr Mann, der unbemerkt danebenstand, mir mit vorwurfsvollem Stolz das Baby entgegenhielt.

Ich weiß nicht mehr genau, wie ich halbwegs ungeschoren aus der Situation rauskam. Aber es hatte irgendwas mit dem Winter zu tun und dem dicken Mantel, den meine Bekannte trug.

Auch der Verkauf lief an jenem Tag sehr schleppend.

(Foto: Baciar)

14 November 2006

Negerkuss als Bumskopf

Unbemerkt hat sich Schmalhans bei uns zum Küchenmeister aufgeschwungen, zumindest was das Dessert angeht. Keine Schokolade mehr da, nicht mal Erdbeerjoghurt. Und bei mir keine Bereitschaft, noch schnell zu Penny auf der Reeperbahn zu laufen – was nicht ausschließlich abendlicher Faulheit zuzuschreiben ist, sondern vor allem der mangelnden Sachkompetenz Pennys in punkto Süßigkeiten.

Bei Penny, mal ehrlich, kauft man doch nur das allerdings sehr passable Klopapier „Happy End“. So füge ich mich in mein temporäres Schicksal als frustrierter Süßschnabel und schleiche moderat missmutig hinüber in die Prinzenbar, wo John Vanderslice im Angesicht von Stuckengeln ein Konzert spielt.

Und was passiert? Nach dem dritten Stück fragt der Mann, ob es eigentlich schon spät genug für „candy“ sei. Das Publikum, inklusive mir, bejaht ahnungsvoll, woraufhin der vergötterungswerte Künstler anfängt, Schüsseln voller Süßigkeiten zu verteilen, darunter Schokoladenplätzchen mit ganzen Nüssen und Exemplare jenes Schaumgebäcks, welches in Zeiten, als man die Abkürzung „pc“ noch für einen Rechner hielt, als Negerkuss bekannt und beliebt war.

So komme ich doch noch zu meinem Dessert und muss an eine alte Weisheit denken: Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her. Im Zuge meiner Recherchen zum Negerkuss, der mittlerweile unter dem Tarnnamen „Schokokuss“ eine erneut erfolgreiche Existenz aufgebaut hat, stoße ich auf weitere Bezeichnungsvarianten, wovon mir am meisten die aus dem Bayerischen Wald behagt.


Dort nennt man das Süßgebäck nämlich „Bumskopf“.

David würde mich rauspauken

Immer, wenn ich ein Konzert von Cracker besuche, bin ich wie euphorisiert. Schon nach wenigen Minuten hege ich die feste Überzeugung, Cracker sei die beste Band der Welt. Und David Lowery der weltbeste Songwriter.

Keine Band harmoniert besser, keine setzt die instrumentalen Pointen geschickter, keine rockt grandioser, keine hat die besseren Refrains. Immer, wenn ich ein Konzert von Cracker besuche, bin ich überzeugt, die Band habe eine ganze Schmuckschatulle voller Welthits – mit dem einzigen Manko, dass die Welt nichts davon weiß.

All das habe ich heute Abend wieder gedacht, als ich das Konzert von Cracker im Knust besuchte. Und verdammt: Cracker ist die beste Band der Welt. Aber die Welt weiß nichts davon.

Wenigstens kann ich ihr einen Song zu Füßen legen. Auch wenn ich dafür wahrscheinlich in den Knast wandern werde. Aber David Lowery wird mich rauspauken, davon bin ich fest überzeugt.


Er ist schließlich der weltbeste Songwriter, da hat man auch das weltbeste Herz.


Ex cathedra: Die drei besten Cracker-Songs

1. „It ain't gonna suck itself“
2. „Sinaloa cowboys“
3. „Euro-trash girl“

13 November 2006

Auf Landpartie

Ein Wochenende im ländlichen Hessen, genauer gesagt in meinem 1200-Seelen-Heimatdorf. Dort konnte ich als Zuschauer beim Bezirksligaspiel folgenden Dialog belauschen:

„Siechhard, sache mol, ärbbst dau da immer noch off’m Sozialamd?“
„Ach woss, ajch sei doch schu seit zwansich Juhr bei dor Carridas!“


In punkto Informationsfluss und Mobilität ist das Heimatdorf ganz offensichtlich noch immer jeder urbanen Hektik abhold. Ansonsten aber ist man voll ausgestattet, sogar mit Alkis und Junkies, mindestens vier Religionsgemeinschaften und einer Atemluft, für die man in Rom töten würde. St. Pauli liegt olfaktorisch übrigens irgendwo dazwischen.

Acht Kilometer vom Heimatdorf entfernt, in der nächstgrößeren Kleinstadt mit Bahnhof, entdeckte ich übrigens das abgebildete Parkschild, welches kaum verhohlen von leidvollen Erfahrungen in der Vergangenheit kündet.

Auch Sarkasmus also gehört inzwischen wie selbstverständlich zur Möblierung der Provinz, zumindest in Hessen.

10 November 2006

Lyssa leidet – auch unter unpassenden Mails

Warum lese ich Stoffel eigentlich nie den aktuellsten Eintrag auf Lyssas Blog, bevor ich ihr eine Mail schicke?

Im Sommer schrieb ich ihr aus irgendeinem Anlass etwas Humoriges, ging danach auf ihr Blog – und erfuhr, dass sie beinah in einem abgestürzten Flugzeug gesessen hätte.

Und heute morgen schickte ich ihr eine süffisante Glückwunschmail, weil Harald Schmidt sie gestern in seiner Sendung erwähnt hat (mit dem berüchtigten Spitznamen „Peitschen-Borchert“ …) – und erfahre danach in Lyssas Lounge vom Tod ihres Hundes.

Eine kleinlaute Betroffenheitsmail hinterherzuschicken, unterstreicht natürlich nur das Versäumnis, ist aber (schon wieder) das Mindeste, was ich tun kann.

Zumal sie ernstgemeint ist.

09 November 2006

Geiler geizen

Trotz der subtilen und charmanten Außenwerbung habe ich es heute versäumt, in diesem Schuhgeschäft in Ottensen einzukaufen.

Vielleicht bin ich einfach noch geiziger, als es sich der Ladenchef vorstellen kann.

Kurz an der Macht

Heute musste Fitnesstrainer Awed während des Bauchkurses mal kurz weg, und beim Rausgehen bat er mich – MICH! –, die bereits laufende Übung zu Ende zu moderieren. „Zähl bis 20 hoch“, raunte er konspirativ und verließ zügig den Raum.

Ich fühlte mich wie damals während meiner überschaubar langen Zeit als stellvertretender Schulsprecher, obwohl das Amt mich wenig gefordert hatte. Genauer gesagt ist mir keine einzige Handlung als stellvertretender Schulsprecher in Erinnerung geblieben, die ähnlich bedeutsam gewesen wäre wie den Bauchkurs heute auf 20 Crunches hochzupuschen. Vielleicht lag es daran, dass der amtierende Schulsprecher damals nie krank oder sonstwie verhindert war – im Gegensatz zu Awed.


Beim Hochzählen während der Übung spürte ich, wie unangebracht es wäre, auch nur im Geringsten außer Atem zu geraten, weshalb ich mich um haarscharfe Artikulation bemühte. Schließlich durfte ich die neugewonnene Autorität, die ja weder auf charismatischer Herrschaft noch auf demokratischer Wahl beruhte, sondern auf bloßer autokratischer Ernennung, nicht gleich wieder aufs Spiel setzen – selbst wenn diese 20 Crunches wohl die einzige Amtshandlung während meiner Machtübernahme bleiben würden.

So absolvierte ich die Aufgabe mit Würde, Eleganz und überspielter Kurzatmigkeit. In die Geschichtsbücher werde ich damit wohl nicht eingehen, aber das kenne ich ja schon aus meiner Amtszeit als stellvertretender Schulsprecher.


(Foto: Rubner)

08 November 2006

Warum George Michael ein ganz Großer ist

„Wenn ich heute Abend einen Wunsch frei hätte“, sage ich zu Ms. Columbo, als sie gerade beim Zähneputzen und wehrlos ist, „dann wünschte ich mir, George Michael würde nicht ,Last Christmas' spielen.“

Doch die Hoffnung ist natürlich klein. Schließlich ist es November, das klingt schon fast wie Dezember, und was im Dezember lauert, ist: Weihnachten. Warum also sollte George Michael den größten Hit seiner Karriere nicht spielen?

Auch die zweitgrößte Gefahr des Abends habe ich bereits nachmittags in der Redaktion benannt: dass er auf der Bühne der Color Line Arena einschlafen könnte – wie es ihm zuletzt mehrfach am Steuer passiert ist, meist mitten auf der Kreuzung.

In der Halle erwartet uns indes eine abgezirkelte Großshow. Ein Hit jagt den nächsten, die Band, welche die Songs geradezu verdächtig originalgetreu intoniert, wurde breit auf Tribünen im Bühnenhintergrund verstreut. Denn hier ist nur einer der Star. Meist steht Michael alleine und gleichsam übergroß auf einer LED-Fläche, die hinter ihm als Vorhang zur Decke aufsteigt und visuell keinerlei Wünsche offen lässt.

Klar, das alles ist unfassbar exakter Stechuhrpop, sogar die Pause wird als Countdown heruntergezählt, und pünktlich auf die Sekunde geht die zweite Hälfte los. Doch das Ganze ist auch auf eine Weise perfekt, die bei mir als Heimeligkeit ankommt.

Der Abend schnurrt ab wie die Tausendstelsekundenschritte einer Atomuhr, und Michael gibt dir damit die Illusion, die ganze große weite Welt sei berechenbar bis ins letzte Molekül. Er suggeriert, die Gegenwart und die Zukunft, das ganze Leben seien hier und heute und ein für alle Mal in den Griff zu kriegen. Ich beschließe, mich genau dieser Illusion hinzugeben, und es funktioniert fantastisch.


Die Zugaben kommen. Jetzt wird es geschehen. „Es ist November“, erinnert mich Ms. Columbo mit spöttischem Lächeln, „wegen mir kann er ruhig ,Last Christmas' spielen.“

Aber er tut es nicht.
George Michael ist ein ganz Großer.


Auf dem Foto versucht er übrigens eine Art Hund, der Tony Blair symbolisieren soll, von George Bushs Mittelteil fernzuhalten – oder ihn genau dort hinzudirigieren, das war auf die Entfernung nicht ganz klar.

07 November 2006

Voll von der Rolle

Endlich habe ich mir Rollenapier für die Kleingeldhaufen besorgt. Das Reaktivieren alter Fertigkeiten (ich war mal Bankkaufmann …!) klappte gut, und mit flinken Fingern habe ich Münzen gestapelt, gekippt und eingewickelt. Dann setzte ich alle Rollen – Gesamtwert: 8,50 Euro – dem Postmann vor und erbat einen Umtausch in größere Einheiten.

„Das geht nur aufs Konto“, sagt er. Ich habe kein Konto bei der Postbank. „Dann geht es nicht“, ergänzt er, „nicht ohne Konto.“

Wohin jetzt mit den Rollen? Es ist Samstag, meine Hausbank pausiert. Doch wozu gibt es den Einzelhandel? Allerdings soll der gemeinhin nicht gerade in Jubel und Lobpreis ausbrechen, wenn man mit Popelmünzen in Kilomengen antanzt. Einen Versuch aber ist es wert.

Beim Bäcker Kamps in der Paul-Roosen-Straße habe ich in der Schlange Zeit für strategische Überlegungen. Die Rechnung wird sich auf rund zwei Euro belaufen. In meiner Tasche befinden sich u. a. vier Rollen mit je 50 Eincentmünzen, macht exaktement zwei Euro. Und Geld ist Geld, nicht wahr?

Ich beschließe, diese lapidare Erkenntnis in selbstbewusstes Vorgehen umzuformen. „Macht 2 Euro 18“, sagt die noch arglose Verkäuferin. Mit einer eleganten und kraftvollen Bewegung, die Ruhe genauso verkörpern soll wie eine generelle Üblichkeit meines Handelns, packe ich ihr mit dumpfem Klackern vier Rollen auf den Tresen und sage: „Das sind schon mal zwei Euro.“ Sodann suche ich mit furios gespielter Gelassenheit nach einem weiteren 20-Cent-Stück in der Jackentasche.

Sie schaut baff. „Hehe, hehe“, keckert mein bislang muffeliger Schlangennachbar und grinst breit. „Hehe, hehe, da hat aber einer sein Sparschwein geknackt, hehe.“

Ich lächle schmal und mustere dann wieder ernst die Verkäuferin, und zwar mit dem hoffentlich gut simulierten „Aufmachen!"-Blick eines altgedienten Gerichtsvollziehers.

Und ich habe sie. Das sehe ich an ihrem unsicher zuckenden Lächeln. Dann nimmt sie die Rollen und die 20 Cent, und ich ziehe wohlgemut mit vier Brötchen davon.

Im „Zafer Call Shop“ (der inzwischen den Namen gewechselt hat, aber nicht das Personal) lege ich mit neugewonnener Routine und geräuschvoll eine Rolle Zweicentstücke für die Samstagszeitung vor. Erneut stoße ich auf Erstaunen, aber nicht auf Widerstand.

Es geht also! Man kann dem Einzelhandel massig Münzgeld unterjubeln, zumindest gerolltes. Dabei kann ja niemand wissen, ob ich ich nicht vielleicht doch die ein oder andere Münze „vergaß“; nachgewogen hat jedenfalls keiner.

Und so kam es, dass ich weiterhin über kein Postbankkonto verfüge. Ein Vorzug, den manche Menschen besonders zu schätzen wissen.

05 November 2006

Gammelsprech

Ich hatte es ja prophezeit – aber etwas früher damit gerechnet.

Und ich wäre schon enttäuscht, wenn sich nicht bald weitere Treffer dazugesellen würden. Darf ich also bitten …?

Letzte Geheimnisse: Das Herrenklo (4)

Eigentlich ist es ja mein Fachgebiet, das Herrenklo, wie ich in bisher drei Beiträgen (1, 2, 3) versucht habe nachzuweisen. Doch auch Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig entpuppt sich überraschend als überaus kundig.

Dieses Foto hätte unbedingt die Originalgrundlage für meinen Herrenklotext Nummer 4 werden sollen, aber wann komme ich schon mal in die Wiener Opernpassage?

03 November 2006

Gesichtszwillinge (12)

Polens Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski möchte nicht mehr von der Seite fotografiert werden. Ein Wunsch, der sogar in den Rang einer Regierungsrichtlinie erhoben wurde und somit die Windelweichheit eines Wunsches in Richtung schnarrender Befehl verlassen hat.

Da sein eineiiger Bruder, Staatspräsident Lech Kaczynski, praktisch genauso aussieht wie er, kann die polnische Presse allerdings die Direktive leicht umgehen: Sie nimmt einfach Lech von der Seite auf und verwendet das Foto zur Bebilderung beider Brüder.

Über die Gründe für Jaroslaws Profilneurose kann bisher nur spekuliert werden. Meine These: Jaroslaw ist es peinlich, so auszusehen wie ein Röntgenbild von Homer Simpsons Schädel.

Zumal dort Luft vorherrscht.

Nachtrag von 21.38 Uhr: Nachdem Jaroslaw Kaczynski es geschafft hatte, die Abbildung seines Doppelkinns weltweit ins Unermessliche zu steigern, hat er heute Nachmittag laut Spiegel online die Zensurvorschrift wieder zurückgenommen. Der Beitrag hier bleibt trotzdem stehen. So.

Weitere Gesichtszwillinge:

- Franz Beckenbauer und Erich Honecker
- Angela Merkel und Peter Ustinov
- Anthony Hopkins und Köbi Kuhn
- Udo Lattek und Sven-Göran Eriksson
- Gene Hackman und Luiz Filipe Scolari
- Corny Littmann und Homer Simpson
- Kofi Annan und Morgan Freeman
- Chris Stills und Jens Lehmann
- Robert Mitchum und Jean Reno
- Neil Young und Tony Joe White
- Ronaldinho und Jar Binks


Mein Blogklon auf stern.de

Neulich meldete sich stern.de: Ob ich mir vorstellen könne, auch für sie zu bloggen. Gerne, sagte ich; aber nicht exklusiv und zusätzlich, sondern nur Texte von der Rückseite der Reeperbahn.

Kein Problem, sagte stern.de.

Und heißen müsse mein Blog bei ihnen genauso wie der hier.

Kein Problem, sagte stern.de.

Und wenn ich Lust hätte, Schätze aus dem Archiv zu kramen und dort erneut zu veröffentlichen, dann würde ich das gerne tun wollen.

Kein Problem, sagte stern.de.

Und so kam es, dass seit gestern auch stern.de über eine Rückseite der Reeperbahn
verfügt.

Ex cathedra: Die Top 3 der besten Songs über Mond und Sterne
1. „Wanderin' star“ von Lee Marvin
2. „Just one star“ von Antony & The Johnsons
3. „Moon“ von Roger Eno

01 November 2006

Warum? Darum!

Der HSV hat im Champions-League-Spiel gegen den FC Porto nicht nur erneut eine üble Klatsche kassiert, sondern auch keinerlei Idee mehr, woran es liegt und wie das Elend abzustellen sei.

Hier der beweisführende Interviewausschnitt mit HSV-Manager Dietmar Beiersdorfer im DSF:


Moderator
: „Herr Beiersdorfer, warum ist die Champions League eine deutliche Nummer zu groß für Sie?“

Beiersdorfer
: „Weil wir zurzeit nicht in der Verfassung sind, dieses Spiel zu gewinnen.“


Ah so.


PS: Man verzeihe mir die plumpe Fotosymbolik, doch die auf den Kopf gestellte Rolltreppe schien mir noch das geeignetste Motiv für den HSV 2006.

Die Fundstücke des Tages (29)

1. Warum habe ich eigentlich so viele flüchtige Blogbesucher – und nicht nur solch edle Wesen wie dieses, dessen anbetungswürdige Verweildauer ich hier per Bildschirmfoto verewigt habe? Leider kann man kein Poster draus machen, wegen der schlechten Auflösung.

2. Heute Abend klingelte es. „Ja, bitte?“, frug ich in die Gegensprechanlage. „Halloween!“, quäkte es enervierend kinderstimmig aus dem Lautsprecher, „machen Sie bitte auf!“ Von wegen. Die Gören ließ ich natürlich im Regen stehen. Sie können von Glück sagen, dass ich nicht stantepede zu Michael Myers mutierte. Halloween – was soll das eigentlich?

3. Hier und jetzt möchte ich ein neues Wort kreieren, dessen Aufnahme in den Duden ich unverzüglich wünsche und als dessen Ersterwähner ich hiermit verlange in die Annalen einzugehen. Dieses Wort soll hinfort als Sammelbegriff für alle Deppenapostrophverwender, Denglischverbrecher, Verbenvergesser, Grammatikschänder und Pidginpappnasen in den allgemeinen Sprachgebrauch eingehen und erst dann wieder daraus verschwinden, wenn ihm jegliche Grundlage entzogen wurde. Und sein Name sei GAMMELSPRECH. Ab morgen bei Google.

4. Schon jetzt mein Konzert des Jahres, und das ohne dabeigewesen zu sein: der Gig der Original Schornsteinfeger in der Günzhalle Großkötz. In Großkötz gibt es nicht nur die Günzhalle, sondern auch einen Sportverein, den Verein für Leibesübungen Großkötz, und dessen Vereinschronik erzählt von der ganzen deutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts, zum Beispiel von den bewegenden Duellen des VfL Großkötz mit Ettenbeuren, der Einweihung des Vereinsheims 1976 oder der vereinsinternen Machtergreifung eines gewissen Anton Zwibel – und das alles in Großkötz, mitten in Deutschland, genauer gesagt: in Bayern. Wie ich auf all das gestoßen bin: k.e.i.n.e A.h.n.u.n.g.

Alle bisherigen Fundstücke des Tages:
1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, Oh, my Google!

31 Oktober 2006

Die Kartoffelamnesie

Wenn ich im Kumpir meine überbackene Stammkartoffel mit Spiegelei bestellen möchte, fällt mir nie der Name des Gerichts ein, sondern immer nur der meines Weinhändlers. Der heißt Ardahan, die Kartoffel aber … wie heißt die noch mal? Ach, ja: Rafadan.

Diese verflixte Kartoffelamnesie ist mir inzwischen peinlich, und ich gehe nicht mehr so oft zum Kumpir. Zumal ich feststellen musste, dass es sich dabei um eine Fränscheißkette handelt. Das entwertet den Laden; es schmeckt dort einfach nicht mehr so wie vor dieser Information.

Es ist wie mit einem geheimen Lieblingssong, der plötzlich in die Charts geht: Danach klingt er fad – als büßte er durch die schiere Quantität des Gehörtwerdens an Qualität ein.

Zurück zum Essen. Heute stieß ich beim Schlendern durch die Karstadtfiliale an der Mönckebergstraße auf etwas Wunderbares: eine Schokoladenmischmaschine. Ich hätte stundenlang verzückt zusehen können. Leider geschah der ganze Vorgang hinter Glas, sonst wären wohl Dinge geschehen, für die sich Ms. Columbo fremdgeschämt hätte.

Aber ich habe einfach 30 Sekunden davon gefilmt. So muss ich nicht immer wieder zu Karstadt.

Weiß eigentlich irgendjemand ein Kumpirrezept mit Schokolade?

29 Oktober 2006

Hauen und Stechen

Das war ja klar: St. Pauli ist erneut der brutalste Stadtteil Hamburgs. Die Zahl der Gewaltdelikte rund um Reeperbahn und Seilerstraße liegt um satte 69.600 Prozent über der des Stadtteils Nienstedten! Dort nämlich gab es im Lauf der letzten zwölf Monate nur einen, hier hingegen 697 aktenkundige Tatbestände.

Allerdings haben sich wahrscheinlich auch nur elf Leute nach Nienstedten verirrt, nach St. Pauli aber grob geschätzte zehn Millionen. Und nur 697 davon polierten Fressen oder (später zu Hause) ihre Messer. Klingt doch gar nicht mehr so schlimm.

Sicherlich hat der Kiez dieses gute Ergebnis auch der deeskalierenden Klassik zu verdanken, die im U-Bahnhof St. Pauli läuft. Heute erklang dort die hochliebliche Melodie von „Greensleeves“ in der sinfonischen Adaption von Ralph Vaughan Williams, und ich stellte mich in Lautsprechernähe, um diesem Stück friedlich hinterherzusinnieren, als mich das abgebildete Warnschild wieder brutalstmöglich in die Realität zurückzerrte.

Gefahr droht offenbar überall und immer, und mir fiel ein Vorfall wieder ein, den ich neulich bei Aldi erlebte:


Verkäuferin: rangiert mit Getöse eine Art Gabelstapler durch den Gang
Kunde säuerlich: „Sie sind aber laut.“

Verkäuferin, rot vor Wut: „Man muss doch hören, dass ich arbeite!“


Abends hat diese Frau möglicherweise – zuungunsten ihres Mannes – die Gewaltdelikte Nienstedtens verdoppelt, was das Verhältnis zu St. Pauli schlagartig auf 39.800 Prozent halbiert hätte.

Insofern wäre das sehr wünschenswert gewesen.

28 Oktober 2006

Mittendrauf, akustisch

Trillionen Nachfragen waren einfach zuviel: Ich beuge mich dem Druck der Straße und stelle die Kiezgeschichte „Mittendrauf, statt nur dabei“ als Podcast zur Verfügung.

Hier kommt sie. Ich habe mich übrigens nur einmal verlesen, worauf ich – als bekennender Haspelsprecher und Nuschelleser – stolz bin wie Bolle.

Wer die (Schnitt-)Stelle identifiziert, erhält eine lauwarme Belobigung.


27 Oktober 2006

Römische Erkenntnisse (3 und Schluss)

1. Wie man an der Namensgebung des Restaurants Casa Nostra sieht, beherrschen die Römer auch die Nuancen der Selbstironie. Was die kalabresische Mafia von dieser kulinarisch gemeinten Verballhornung hält, will ich aber lieber nicht wissen.

2. Die Schönheit und die Aura jedes Ortes trägst du selbst zu ihm hin. Ob du dort nur alte Steine vorfindest oder die wispernden Zeichen eines versunkenen Imperiums: Darüber entscheidest du allein – mit der Qualität deiner Imagination.

26 Oktober 2006

Passfotos abzugeben

Lieber abgebildeter Unbekannter,

am Bahnhof Termini in Rom hast du deine Passbilder im Automaten liegen gelassen, und ich habe sie gefunden.

Auch wenn deine ansonsten grandiose Bewerbung wahrscheinlich an diesem Mangel scheiterte: Vielleicht hast du ja trotzdem noch Verwendung fuer die Bilder. Es sind ingesamt acht. Und immerhin haben sie Geld gekostet.

Jetzt weisst du, wer sie hat. Im Menue links gibt es einen E-Mail-Button.

Ciao, bello

Matt

25 Oktober 2006

Rom raucht nicht mehr

Ob man aus römischen Cafés kommt oder aus Restaurants, man verlässt sie beschwingt und gutgelaunt. Es hat Tage gedauert, bis wir diesen Umstand trennen konnten von der vorauseilenden Vermutung einer urlaubsbedingten Gutgestimmtheit.

Nein, es ist eine kleine Großigkeit, die nicht unerheblich beiträgt zum unbestimmten Wohlgefühl: Man geht nämlich nach Hause, ohne bestialisch zu stinken. Denn nirgendwo in Kneipen, Discos, Cafés, Trattorien und Restaurants darf mehr geraucht werden. Die Italiener haben das offenbar weggesteckt wie einst den Verlust der Kolonien: mit einem Achselzucken. Überall herrscht Trubel, Heiterkeit, Gestikulationsfreude und eine ausgeprägte Bereitschaft zu genussvollem Konsum – aber keinerlei Ärger über Rauchmangel.

Es geht also. Und wenn man nach Hause kommt, haftet Jacke wie Hose höchstens ein Anflug von Caffé an, aber nicht der in Deutschland übliche kalte Kippenqualm, was tagelanges Auslüften oder gleich eine Vollwäsche erfordert.

In Irland, wo sie öffentliches Rauchen ebenfalls verboten haben, ging unter Kneipenbeschäftigten die Zahl der Herz-Kreislauf-Erkrankungen um 20 Prozent zurück. Gleichzeitig wurden die Gasthäuser voller – denn jetzt traut sich auch jener Teil der Bevölkerung wieder aus dem Haus, den früher die Diktatur der Qualmer vom öffentlichen Leben ausschloss. Und dieser Teil war groß.

In Rom genieße ich das Ausgehen mit Ms. Columbo sehr. Denn in Hamburg kriege ich sie gewöhnlich kaum aus dem Haus – sie hasst Rauch. Würde man den selbstverständlichen Terror der Raucher endlich auch bei uns ahnden, stürmte die schweigende Mehrheit, die zurzeit aus Qualmophobie zu Hause schmollt, gewiss bald wieder Kneipen und Clubs. Und die rückläufigen Einnahmen durch die Tabaksteuer wären ratzfatz ausgeglichen – oder, wie man in Irland sieht, gar überboten.

Nikotinsucht ist die einzige bekannte Abhängigkeit, die andere Menschen chemisch in Sippenhaft nimmt. Italiener und Iren finden das nicht in Ordnung – und kurbeln so die Wirtschaft an.


Und heute Abend machen wir dabei wieder mit, diesmal dreigängig.

24 Oktober 2006

Letzte Geheimnisse: Das Herrenklo (3)

Ja, auch römische Männer pinklen an Hauswände. Beim recht häufigen Anblick der eingetrockneten Rinnen versuche ich die unweigerlich aufkeimende Kiezheimeligkeit zu unterdrücken. Vergeblich.

Apropos pinkeln:
Armin Hary könnte 1960 die gleiche Toilette im römischen Olympiastadion benutzt haben wie ich. Ob vor oder nach seiner Goldmedaille im 4x100m-Rennen, bleibt aber unklar.

Wahrscheinlicher allerdings ist: voher. Denn er lief bestimmt nur deswegen wie ein Windhund über die Bahn, weil er unbedingt recht bald im Hotel eine Nachreinigung gewisser anatomischer Regionen vornehmen wollte. Papier gibt es nämlich bis heute keins im Olympiastadion zu Rom, und nicht nur das: Man hält so etwas auch offenbar für völlig unnötig - es ist nicht einmal eine Halterung dafür vorgesehen.

Das abgebildete Etwas an der Decke hingegen scheint seine Unabdingbarkeit einsichtig nachgewiesen zu haben, denn es hängt in jeder Kabine. Aber um was handelt es sich dabei bloß? Es ist jedenfalls keine Lampe. Ein Sprinkler auch nicht (glaube ich).

Eine Art Megafon?

Armin Hary weiß es vielleicht.

23 Oktober 2006

Beim Fußball

Nachdem wir eine Stunde durch die Stadt gegurkt sind, um an der Piazza Colonna Tickets für das Seria-A-Fußballspiel AS Roma gegen Chievo Verona zu kaufen, entdecken wir zwei Tage später nur 15 Meter von unserem Pensionseingang entfernt einen Roma-Fanladen. Super.

Als Weltmeister Francesco Totti in der zweiten Halbzeit endlich den Ausgleich schießt, geht meine Nachbarin, eine äußerst kregle rothaarige 60-jährige im orangen Strickpulli, vollends in die Luft – und haut mir unter indianischem Kriegsgeschrei („Franci! Franci! Franciiiii!!!“) mehrmals derart enthemmt auf die Schulter, dass ich wünschte, Totti hätte erst in den letzten fünf Minuten getroffen.

Da hatte die Frau nämlich das Stadion schon verlassen.

22 Oktober 2006

Von den Formen der Blasiertheit

Römische Frauen sind im Schnitt nicht hübscher als die Durchschnittshanseatin. Das als Trost nach Hamburg. Jene aber, die aus der Masse der Matronen und grauen Mäuse herausstechen, überspringen gleich die Stufe des Stolzes und stoßen direkt zur Blasiertheit vor.

Ich sah frischverputzte reife Damen, die waren blasiert wegen ihres Reichtums. Und ich sah junge Römerinnnen, die waren blasiert wegen ihres Dekolletees. Teenies sind in der Regel blasiert wegen ihrer coolen Sonnenbrillen, doch nur wenigen von ihnen wird es je gelingen, zur Dekolleteeblasiertheit vorzustoßen oder gar zur Pelzmantelblasiertheit.

Nein, die meisten dieser Mädchen werden bald hinabsinken in die Welt der Matronen oder grauen Mäuse, und dann werden sie sich schämen für ihre Sonnenbrillen von einst. Ihre Söhne hingegen werden diesem geschlechtsunspezifischen Accessoire länger verfallen – vielleicht sogar für immer: Heute sah ich in der Metro einen grauen alten Herrn mit leicht verwegenen Haaren bis zum Hemdkragen, der hatte seine voluminöse Sonnenbrille Marke 70er Jahre leicht hochgeschoben, um im Funzellicht der U-Bahn sehen zu können.

Während Römer bis zum Alter von etwa 50 ihre Brillen (auch ungetönte!) auf der Kopfmitte tragen, trug der Metromann sie mit den Gläserunterkanten auf Brauenhöhe. Wie er sie dort fixiert hatte, weiß ich nicht; eigentlich ist das unmöglich, ich habe es versucht. Ihm aber war es gelungen – und es sah bescheuert aus.

Die Würde, die er dabei wahrte, war gleichwohl ganz und gar römisch; nur wenig mehr davon, und sie wäre in Blasiertheit übergegangen. In die Trotzblasiertheit der Fastwitzfigur.

Die allerdings ist komplett geschlechtspezifisch.

20 Oktober 2006

Römische Erkenntnisse (1)

Es ist etwas substanziell anderes, ob man vorm Forum Romanum mit dem Bus im Stau steht – oder vorm Elbtunnel.

Tja, tut mir leid.

19 Oktober 2006

Das Graffititabu

Rom ist schmutzig. Rom atmet grauen Staub. Und was der Ruß nicht schafft, führen die Sprayer zu Ende. Doch interessanterweise verschandeln sie die Stadt strikt auf italienisch.

Während sich in Deutschland sogar die intellektuelle Elite längst einem den Werbern abgelauschten Deppendenglish ergeben hat, besteht in Rom selbst der brutalste Sprühdosenvandale auf muttersprachliche Artikulation. Und nicht nur das: Vor seinen größten Kulturgütern, den allgegenwärtigen Ruinen, scheint ihn eine gleichsam heilige Scheu fernzuhalten.

Kein Graffito am Petersplatz, kein „Fascismo no!“ am Kolosseum (Foto). Nicht mal an den gewaltigen Basiliken, als Instanzen moralischer Macht traditionell Ziel juveniler Anarchie, ist das kleinste „Forza Lazio!“ zu finden.

Was hält rebellische römische Teens bloß brav fern von der Antike? Drohende Strafe kann es nicht sein. Vielleicht ist es genetisch. Vielleicht ist die Aura der Ruinen eingesickert in ihre DNS. Vielleicht wissen sie intuitiv, dass ihre Stadt kaum bedeutender wäre als Baden-Baden, verfügte sie nicht mehr über die wuchtigen Insignien einer jahrtausendealten Geschichte, die dem Abendland gemeinsam mit Athen das komplette Zeichen-, Gesellschafts- und Moralsystem bereitstellte.

Ja, das muss es sein. An Gelegenheiten nämlich fehlt es den Sprayern nicht. Doch sie schlagen sie aus. Für die Besitzer von Nichtruinen freilich ein ganz schwacher Trost.

18 Oktober 2006

„Are we in Rome yet?“

Ein Mann aus Philadelphia, klischeehaftes Opfer der Fastfoodära, fragt mich im Zug, wie er in Rom von einem großen Bahnhof zum andern kommen könne. Ich, selbst noch nie in Rom gewesen, sage ihm, es führe gewiss eine Metro oder eine Tram.

Sofort strahlt sein massiges Gesicht auf vor Glück. Er klagt mir zur Belohnung sein Leid unter Beigabe unangenehmer Ausdünstungen. Neben seinem schlechten Atem emittiert er auch Stressschweiß, der, wie man weiß, schlechter riecht als der durch Bewegung verursachte.

Dafür gibt es in diesem Fall auch einen gewichtigen Grund, denn er und seine Gruppe sitzen im falschen Zug. In Siena oder so hatten sie nur vier Minuten zum Umsteigen, sie ächzten sich hoch in den nächstbesten Waggon; es war der nach Neapel, also dieser hier.

Nach Neapel aber wollten die Philadelphier gar nicht, sondern ganz woanders hin. Jetzt müssen sie in Rom den Bahnhof wechseln. Wie wenig gerüstet die Gruppe für eine solche Reise ist, beweist sie auf einer gottverlassenen Station namens Orte. Alle steigen aus, weil sie sich bereits in Rom wähnen, was laut Fahrplan auch der Fall wäre. Doch was heißt schon Fahrplan in Italien?

Wer jedenfalls das Kaff Orte mit einem römischen Bahnhof verwechselt, der hält bestimmt auch die Schöpfungsgeschichte für plausibler als die Evolutionstheorie.

Die Gruppe steht ratlos auf dem Bahnsteig herum. „Are we in Rome yet?“, ruft der dicke Mann mir zu. Ich verneine, und die ganze Gruppe ächzt hastig wieder hoch in den Zug, umdünstet von Stressschweiß und dem Duft lebenslanger falscher Ernährung.

Gute Reise, Guys.

17 Oktober 2006

Alive and well in Rome

Kaum sind wir in Rom, krachen U-Bahnen ineinander. Uns geht es aber gut. Wir haben bisher nicht mal die Linie A benutzt, sondern nur die B.

Keine weiteren Witze an dieser Stelle, dazu ist die Sache zu ernst.

Aber mir ist es ein Raetsel, wie man ueberhaupt unbeschadet durch den roemischen Verkehr kommen kann, ob unter- oder ueberirdisch. Durch einfaches Hupen zum Beispiel kann man hier das Vorfahrtsrecht erwerben. Vor allem Vespafahrer machen davon haeufig Gebrauch.

Dass das nicht immer gutgehen kann, signalisieren die unablaessig durch die Stadt jaulenden Sirenen der Einsatzfahrzeuge. Sie brauchen dafuer nicht mal ein U-Bahn-Unglueck. Ihr Sirenenton ist uebrigens original bei Johnny Weissmueller abgekupfert, der in den 30er Jahren den ersten Tarzan der Filmgeschichte gab.

Der Podcastbeweis folgt nach unserer Rueckkehr.

15 Oktober 2006

Neues aus den Charts

Man kann sich seine Nachbarn nicht aussuchen, schon klar.

Aber könnte der Souverän – das konsumierende Volk also – nicht ein bisschen rücksichtsvoller umgehen mit empfindsamen Künstlerseelen?

Gerade Lemmy wird sich vom Schürzenjägerschock nur mit Hilfe seines Therapeuten Jack Daniels erholen können.

Wenn überhaupt.

14 Oktober 2006

Aktuell: Hamburg in den Bundesligen

Blumenmädchen live

Vor einigen Jahren spielte sie im Weißen Haus ein Ständchen für Bill Clinton, und ab Montag gießt sie bei uns zu Hause die Blumen: Tish Hinojosa, eine der größten texanischen Songwriterinnen. Dabei können Ms. Columbo und ich nicht mal ihr Konzert am kommenden Donnerstag (19. 10., Knust) besuchen, weil wir zur fraglichen Zeit durch römische Ruinen stolpern werden.

Andererseits liefert genau dieser Umstand den Grund, weshalb irgendjemand bei uns zu Hause die Blumen gießen muss, und das übernimmt halt Tish, gemeinsam mit Andreas.

Wer das alles jetzt viel zu wirr und kompliziert findet, sollte die Sachlage einfach am 19. persönlich vor Ort klären. Am besten aber nicht zwischen den Songs, sondern erst nach dem Konzert, wenn Tish sich unter die Gäste mischen wird.

Unten folgt ein Appetizer: „The real west“, 2002 live aufgenommen in Austin, Texas. Die herzensgute Frau Hinojosa hat spontan zugesagt, mich wegen der Veröffentlichung dieser MP3-Datei erst mal nicht zu verklagen, und ich hoffe, ihre Plattenfirma schließt sich dieser Politik an. Sonst könnte es sein, dass Tish noch eine ganze Weile länger bei uns zu Hause die Blumen gießen muss – sofern mich Ms. Columbo solidarisch ins Gefängnis begleitet.

Hm, das war, glaube ich, der verdrechselste Promotext aller Zeiten. Eigentlich wollte ich nämlich nur sagen:

BESUCHT DIESES KONZERT, VERDAMMT NOCH MAL!

Eine Ausrede gibt es übrigens nicht, denn die Tickets kosten lachhafte 11 Euro, und Einlass ist um acht.


Ex cathedra: Die Top 3 der Songs von Tish Hinojosa
1. „Something in the rain“
2. „Blue eyed Billy“
3. „The real west“

12 Oktober 2006

Unter Nerds

Matt auf Tour. Im Bunker an der Feldstraße besuche ich das Konzert einer Band aus Austin, die sich ihren entsagungsvoll pathetischen Namen bestimmt nur deshalb zugelegt hat, um traurige Nerds ins Netz zu locken: I Love You But I’ve Chosen Darkness. Ich setze mich zu zwei kiezbekannten traurigen Nerds auf den Boden, werde allerdings sogleich von links angetippt. Eine junge Frau.

Sie sagt: „Hier sitzt aber mein Freund.“ Ich sage: „Ups. Ich bin doch gar nicht dein Freund!“ – zumindest in meiner Fantasie sage ich das, denn momentan bin ich ein trauriger Nerd und alles andere als schlagfertig, weshalb mir ein lahmes und furchtbar nerdiges „Ich stehe auf, wenn er zurückkommt“ herausrutscht. Kein Ruhmesblatt.

Am nächsten Abend folgen Ms. Columbo und ich der Einladung zur Neueröffnung einer Kaffeerösterei an der Alster. Neben mir steht der Posaunist Nils Landgren. Er trägt einen tadellosen blauen Maßanzug; bei seiner leicht rundlichen Körperform eine weise Investition. Allerdings tummelt sich auf seinem Jackett unterm linken Schulterblatt ein fröhliches Ensemble weißer Fussel, das mein ästhetisches Empfinden massiv stört.

Ich tippe ihm auf die Schulter und sage: „Entschuldigen Sie, Herr Landgren, Sie haben störende weiße Fussel auf dem Rücken, darf ich Sie Ihnen entfernen?“ – zumindest in meiner Fantasie sage ich das, denn Landgren ist in weiblicher Begleitung, und das ist ja wohl ihre Aufgabe. Doch erst nach einer enervierenden Viertelstunde wird sie leicht vorwurfsvoll tätig.

Einen Espresso und ein paar Schnittchen später ziehen wir weiter ins Indra (Foto) auf der Großen Freiheit, dorthin, wo die Beatles ihren ersten Auftritt in Hamburg hatten. Die Luft ist angedickt mit Aura und Zigarettenqualm, und die Bühne betritt der auf tragische Weise verkapselte Singer/Songwriter Ray LaMontagne. Ein Mann, demgegenüber Nick Drake ein Zirkusclown gewesen sein muss.

Er sagt fast nichts, hält die Augen so fest geschlossen, als wäre er Lots Gattin und vor ihm läge Sodom; manchmal flüstert er „Thank you“ wie ein deprimierter Hamster – doch er singt mit heiserhoher Stimme die traumhaftesten Songs.

LaMontagne ist der Prototyp des traurigen Nerds, und wäre er eine Band, er hieße I Love You But I’ve Chosen Darkness, das wäre nur logisch. Irgendwann macht er eine kleine Ansage, so kraftvoll wie ein Kolibri. Ich rufe: „Lauter!“ – zumindest in meiner Fantasie, denn das Rufen übernimmt ein Typ in Thekennähe. Idiot.

Als Zugabe spielt LaMontagne mein Lieblingsstück. Es heißt „All the white horses“, und wenn man es hört, denkt man drei Minuten lang, es sei das Erstrebenswerteste auf der ganzen weiten Welt, ein trauriger Nerd zu sein.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs für Nerds
1. „Creep“ von Radiohead
2. „Loser“ von Beck
3. „Nobody loves you when you're down and out“ von John Lennon

11 Oktober 2006

Dreimal fünf Dinge

Herr Stard hat ein Stöckchen unentschlossen ins Vage geschleudert, und ich bin Hirtenhund genug, um auch ohne richtige Aufforderung hinterherzuhecheln. Hier also …

… fünf Dinge, die ich nicht habe, aber gerne hätte
1. Haare (an der richtigen Stelle natürlich.)
2. Ein schallisoliertes Musikzimmer.
3. Eine Sekretärin.
4. Mehr Begeisterung beim Staubsaugen.
5. Zeit.

… fünf Dinge, die ich habe, aber lieber nicht hätte
1. Das komische Zeug auf dem Speicher.
2. Den Lottojackpot vom letzten Wochenende
. (ups, hätte ich das jetzt nicht sagen sollen …?)
3. Angst vorm Fliegen.
4. Eine Promo-CD von Ivan Rebroff.
5. Die Glatze.

… fünf Dinge, die ich nicht habe und auch nicht haben möchte
1. Tickets für einen Langstreckenflug.
2. Windows.
3. Ein Auto.
4. Krankheiten, ganz generell.

5. Mehr Begeisterung beim Staubsaugen.

… fünf Gerngelesene, an die das Stöckchen weiterfliegt
1. Rabe
2.
mspro
3.
April Showers
4. Stefan Niggemeier
5. Ramses

10 Oktober 2006

Morgenpost, 9. 10. 2006

Erst haben sie den verdienstvollen Investor Burim Osmani verhaftet, der neben unserem Haus bereits Sandhaufen für einen Neubau hatte hinkippen lassen.

Und jetzt ist man selbst als harmloser kleiner Messerstecher, der in der kuscheligen Seilerstraße sein Taschengeld aufbessern möchte, nicht mehr sicher vor den Nachstellungen der Kiezpolizei.

Nein, St. Pauli ist auch nicht mehr das, was es mal war.

09 Oktober 2006

Mail ans Hoang Bistro in Altona

Sehr geehrtes Hoang Bistro,

heute fand ich in unserem Briefkasten in der Seilerstraße Ihre Postwurfsendung vor, die mir „Asiatische Spezialitäten“ im Lieferservice anbot.

Allerdings hätte sich diese Sendung keinesfalls in meinem Briefkasten befinden dürfen. Sie fragen sich bestimmt, warum eigentlich nicht. Nun, der Grund ist folgender: Auf der Vorderseite des Kastens prangt sehr groß und in augenattackierender roter Signalfarbe folgende Botschaft: „KEINE Werbung!


Ich gebe zu: Die Botschaft ist verkürzt dargestellt, doch geschah dies nur, um ihr einen noch prägnanteren Zuschnitt zu verpassen.

Aus Gründen zusätzlicher Unmissverständlichkeit ist zudem ein typografisches Stilmittel verwendet worden, nämlich Großbuchstaben. Diese sogenannten Versalien heben das Wort „KEINE
noch einmal verdeutlichend hervor. Dies, damit jedermann, der vor unserem Briefkasten steht und eine einwurfbereite Postwurfsendung in der Hand hält, auf gar keinen Fall dem Irrtum erliegen möge, es sei erwünscht, er würfe sie in besagten Briefkasten.

Im Gegenteil: Das ist vollkommen unerwünscht!

„KEINE Werbung!, verstehen Sie?

Warum aber, Hoang Bistro, geschah genau dies dennoch? Warum - zum Gäng Phad Gung für 9,90 Euro noch mal! - fand ich Ihre Postwurfsendung, die mir „Asiatische Spezialitäten“ im Lieferservice offeriert, heute in meinem Briefkasten vor? WARUM? (Beachten Sie bitte die Versalien. Danke.)

Diese Frage sollten Sie Ihrem verschlagenen Helfershelfer vor Ort stellen, und zwar in scharfer Form. Und dann informieren Sie mich bitte darüber, was er Ihnen geantwortet hat.

Vielen Dank!

Mit freundlichen Grüßen

Matt Wagner

PS: Ähm, welche Überraschung halten Sie eigentlich „bei einer Bestellung ab 35 Euro“ für mich bereit?

08 Oktober 2006

Notration

Das Tolle am Bloggen ist ja: Man kann tun und lassen, was immer man will. Ob es einer liest oder nicht, ist letztlich nicht so wichtig (Anm. d. Red.: Gelogen!).

Nein: Allein die Freiheit des Tunundlassenkönnens zählt, und sie wird nur eingeschränkt durch den allgemeinen Rahmen der Gesetze und natürlich selbstgesteckte Grenzen.

Heute ist mal das Lassenkönnen dran. Ein Foto muss reichen.

Hauptbahnhof, Bahnsteig der U3.