24 November 2006

10 und schon Samariter

Unterm Hochbahnhof Holstenstraße gibt es einen vernachlässigten Fahrradunterstand, der etwa so viele ruinierte wie fahrbereite Räder beherbergt. Dort sprach mich gestern ein ungefähr 10-jähriger Junge an.

„Entschuldigung“, sagte er schüchtern und gebeugten Rückens – offenbar kostete es ihn viel Überwindung, mich anzusprechen. Ich nahm einen Ohrhörer heraus.

„Hier drüben“, sagte der Junge mit Spatzenstimme und ging vor, mitten hinein ins Gewirr der Radruinen. Da ich selten von 10-Jährigen angesprochen werde, sondern höchstens in der Zeitung davon lese, was dabei herauskommt, wenn Männer 10-Jährige ansprechen, konnte ich kein exaktes Verhaltensprogramm für diesen Fall abrufen. Etwas unsicher ging ich ihm nach.

„Hier“, sagte er und zeigte auf ein Rad, das an einem Poller lehnte, „das Schloss ist kaputt, und jetzt kann jeder das Fahrrad mitnehmen. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“

Sogleich fühlte ich mich gerührt. Denn was muss man sich nicht alles anhören über die nachwachsende Jugend! Kein Deutsch sollen sie mehr können, ihre sozialen Fähigkeiten ausschließlich an Killergames schulen und darob sowieso direktemang einer arbeitslosen, gewalttätigen und drogengeprägten Zukunft entgegendelirieren.

Und jetzt das: ein Kind, das sich kümmert.
Ein empathisches Kind.
Ein Wunder!

Noch ehe ich das Rad näher inspizierte, sprach ich dem Jungen ein aufrichtiges Lob aus. Innerlich verband ich dies mit dem Wunsch, der sympathische Bursche möge sich hinfort erinnern an die unauflösliche Verknüpfung von Tat und Belobigung; und er möge sie als Ermunterung auffassen für weitere gute Taten auf einem hoffentlich nicht von oben genannten Aussichten geprägten Lebensweg.

Zurück zum Schloss. In der Tat schlotterte dem Rad die Sicherungskette lose ums Gestell. Allerdings stand auch das kleine Bügelschloss untätig offen. „Hast du schon probiert, das Schloss zuzudrücken?“, fragte ich den Jungen. „Nein“, musste er zugeben. Ich drückte den Bügel ins Loch, und er rastete ein. Das Rad war gesichert.

Wäre der Bursche auch noch selbst auf diese Idee gekommen (die, ehrlich gesagt, verdammt nahelag), hätte ich ihm mindestens die Gründung eines Konzerns à la Microsoft zugetraut. Doch dann wäre seine Sorge niemals an die Öffentlichkeit gedrungen.

Mir ist es so rum lieber.

11 Kommentare:

  1. Tja - wäre er schlau gewesen, Sie hätten niemals das Vertrauen in die Jugend zurückgewonnen. So jedoch ist jene dumm.

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  2. ... und Sie sind ein Zyniker. Oder Realist. Verdammt.

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  3. *schmunzelt*
    Süß, wie Sie (oder darf ich du sagen?) diese Begegnung mit dem kleinen Jungen beschreiben.
    Es ist wirklich erstaunlich. Man liest, hört und sieht soviel über die schlechte Jugend dieser neuen Generation, sodass die "Guten" hierbei untergehen.

    Als dumm würde ich den Jungen allerdings nicht bezeichnen. Vielleicht hat er einfach nicht daran gedacht. So geht es uns doch oft. Das Naheliegendste wird ausgeschlossen.

    In diesem Sinne,
    frohes Weiterbloggen :)

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  4. Vielleicht hat der kleine sich nicht getraut, dich zu fragen, wie man das Schloss nun wieder auf bekommt?
    w.

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  5. Angel, wir können gerne unvermittelt zum Du übergehen. Das Dumme geht übrigens sehr oft einher mit dem Übersehen des Naheliegenden; da bin ich selbst ein gutes Beispiel.

    anonym, dann wird er erst recht keinen Konzern wie Microsoft gründen, das garantierte ich dir.

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  6. Matt, ich darf aber weiterhin die Privilegien des Siezens genießen, oder?

    Sie wissen doch - ich fühl mich sonst so unwohl, wenn alle plump-vertraulich werden.

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  7. Niemals würde ich Sie Duzen. Sie gehören zur Siezsphäre, Angel zur Duzsphäre.

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  8. *lacht*
    Ihr spinnt bzw. Sie spinnen ja.
    (Jeder suche sich seins raus.)

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  9. GP, Sie mögen mir bitte meine Tippfehler nachsehen. Ich schrieb „duzen“ groß, das geht gar nicht.

    Angel, wir bleiben beim Du, okay? Und dass wir spinnen, ist völlig korrekt. Dieser Eindruck würde sich in natura noch deutlich verstärken.

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