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19 August 2008
Der gestoppte Countdown
Renate vom Käse- und Weinladen ist tot. Das ist unfassbar.
Im Kühlschrank steht noch ein angebrochenes Döschen ihres sagenhaften roten Pestos, ich habe es ihr am letzten Freitag abgekauft. Und einen Tag später legt sie sich schlafen und wacht nicht mehr auf.
Renate Reinecke war Mitte 60 und eine unglaubliche Type. Wäre sie mit ihrer Lache damals in Jericho dabeigewesen, man hätte die Trompeten wegschmeißen können. Jeder, der ihr je begegnete, hat sie nie mehr vergessen. Ihre Bereitschaft zur dröhnenden Fröhlichkeit wurde legendär auf St. Pauli, sie war auf eine Weise herzlich, die dich berührte.
Als ich anfing zu bloggen, habe ich sofort über sie geschrieben, gleich am ersten Tag. Besser konnte man ein Kiezblog schließlich nicht starten als mit einem Original wie Renate. „Schon wieder Freitag? Schon wieder eine Woche rum?“, begrüßte sie mich praktisch jedes Mal, und ich rechnete ihr vor, dass man rund 4000 Wochen zur Verfügung habe im Leben und jeder Gang zu ihr somit eine Art Countdown sei.
Immer mal wieder kam sie vor in diesem Blog, und wie auch nicht. Kunden brachten ihr manchmal Ausdrucke der Beiträge mit, sie beömmelte sich darüber mit dröhnender Lache. So erfuhr sie auch von meinem Fremdgehen, und als ich das nächste Mal über sie bloggte, hatte sie endlich einen eigenen „Combjuder“, konnte schon „gugeln“, war also aus erster Hand informiert – und selbst dann noch höchst amüsiert, als ich sie liebevoll auf die Schippe nahm.
Im Oktober wollte Renate ihren Laden aufgeben, er rechnete sich nicht mehr. Viele Leute auf St. Pauli haben kein Geld mehr für gut abgehangenen Reblochon, Parmaschinken und Renates sagenhaftes Pesto, sie müssen jetzt Butterkäse kaufen bei Spar gegenüber.
Wo der Aufschwung der vergangenen Jahre landete, weiß kein Mensch, hier jedenfalls nicht, Renate verdiente zuletzt kaum noch etwas. Ein Vierteljahrhundert stand sie hinter der Theke, doch jetzt ging es nicht mehr weiter.
Ihr, der Frau mit der grandiosesten Lache diesseits von Jericho, standen Tränen in den Augen, als sie mir das erzählte. Gerade hatte sie hier auf St. Pauli eine neue Wohnung bezogen, gar nicht weit weg vom Käseladen. Vor ihr lag ein neues Leben, ein geruhsameres.
Doch der Countdown wurde abgebrochen, am Ende kam Renate auf nicht mal 3400 Wochen. Es ist schön, dass sie im Schlaf gestorben ist, wer wünscht sich das nicht. Doch das hätte unbedingt erst in 30 Jahren passieren dürfen, frühestens.
„Drei Sprochen muss du hier sprächen“, sagte Renate über St. Pauli, „Hochdeudsch, Pladddeudsch und über annäre Leude.“ Mit einer solchen Reibeisenstimme, mit so rauer Herzlichkeit und diesen blitzenden Augen unterm forschen Blondschopf konnte das aber nur eine: Renate vom Käse- und Weinladen.
Am Samstag werden wir wie immer ein Lachsfilet bestreichen, mit dem Rest ihres sagenhaften roten Pestos aus dem Kühlschrank. Zum letzten Mal. Das ist unfassbar.
Foto: hotzenplotz
PS: Auch das Blog djdeutschland bringt einen Nachruf.
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Eine Schande, ich habe Renate nie kennenlernen dürfen, obwohl ich immer an ihrem Laden vorbei ging und dachte; da sollte ich wirklich mal rein.
AntwortenLöschenGestern Abend las ich den Aushang.
Hätte Sollte Könnte.
Es wird einem wieder bewusst, wie wertvoll das Leben ist, und wie schnell es vorbei gehen kann.
DJDeutschland wir es Dir verzeihen, er ist ein Freund.
Ich weiss ja nicht, ob es in diesen Wochen eine Art Seuche ist - aber ich lese bei Dir hier oder z.B. bei ihm http://www.neubaublog.de/?p=1361 in diesen Tagen ähnliches. Selber bin ich auch nicht gegen den Gevatter gefeit geblieben.
AntwortenLöschenIch hoffe, es ist nur eine Randerscheinung.
Habe heute noch mit Freunden über sie und andere Leute geredet...
AntwortenLöschenSünde.
Noch am Samstag, dem letzten Tag ihres Lebens, hat sie hier kommentiert. Es war erst ihr dritter Kommentar überhaupt; sie hatte sich lange nicht getraut.
AntwortenLöschenSehr, sehr traurig. So einzuschlafen ist natürlich eine Gnade, aber so früh... bitter. Ich habe die Geschichten mit ihr immer gern gelesen (wie auch den Rest hier) und bin wirklich von der Rolle.
AntwortenLöschenDas ist so traurig, und es nimmt mich mehr mit, als ich erwartet hätte. Ich war zwar nur sporadischer Kunde bei Renate, das aber seit ziemlich genau 20 Jahren. Sie war einer der ersten Menschen, den ich damals bei der Erkundung meiner neuen Nachbarschaft kennen gelernt hatte, und sie war natürlich wunderbar, bis zum Schluss. Matt, vielen Dank für den bewegenden Nachruf!
AntwortenLöschenNein, abergläubig bin ich nicht.
AntwortenLöschenEher nachdenklicher geworden.
We'll meet again, Renate!!!
AntwortenLöschenich hatte letzte noch woche noch mit ihr über den neuen gemüseladen gegenüber gelästert und viel gelacht. sehr sehr traurig. ich glaube, ich habe noch eine falsche wein von ihr, die ich heute abend im stillen gedenken köpfen werde. danke für den nachruf.
AntwortenLöschenthanks matt
AntwortenLöschenwie ich schon auf qype geschrieben habe
danke für diesen nachruf
die frau war schon ne marke.
hab mich immer wieder über sie gefreut
hab am donnerstag noch das riesen kapernglas gekauft und wir haben uns köstlich amüsiert
renate! der kiez wird dich immer in erinnerung behalten
Ich kannte die Dame leider nicht, doch ich verstehe Ihre Betroffenheit.
AntwortenLöschenIch weiß nur: es ist immer zu früh - aber es wäre eine große Gnade, so zu gehen.
renate hat den käseladen 24 jahre lang gemacht, fast so lange habe ich sie gekannt. in all den jahren war sie fester bestandteil meines lebens. es war immer eine freude in den käseladen zu gehen, zu klönen und einzukaufen. selbst wenn es ihr selbst nicht besonders gut ging, hatte sie immer ein freundiches wort und manchmal auch einen frechen kommentar.
AntwortenLöschenrenate tot hinterläßt eine nicht zu füllende lücke.
das leben auf st.pauli und auch meins sind ärmer geworden.
es grüßt ein trauernder miele
Ich habe es gestern auch gehört. Es ist schlimm. Wegen Renate und natürlich auch ihr unvergessliches rotes Pesto dessen Fan ich auch immer war. Und wieder stirbt ein Stück Kiez und wird nicht ersetzt.
AntwortenLöschenIch fasse es nicht. War letzte Woche noch bei ihr im Laden und wollte eigentlich morgen wieder hin. Sie hatte sich so auf ihren Ruhestand gefreut!
AntwortenLöschenEin wunderbarer Nachruf, Herr Matt. Den hat sie mehr als verdient. Wie könnte man sie besser würdigen auf diese Art - und vielleicht mit einer kleinen Anekdote: Einmal stand ein junger Mann bei ihr im Laden, der während seines Einkaufs in sein Handy quasselte, wie junge Männer das mitunter tun (und nicht nur die). Renate wartete ruhig ab, und nachdem er sich mit seinem Gesprächspartner für denselben Abend verabredet hatte und weiter orderte (das rote Pesto? Ich weiß es nicht mehr), aber "nicht so viel", sagte sie ganz lässig: "Nimm doch ruhig 'n büschen mehr, kriss doch noch Besuch nachher!" Leichte Verunsicherung beim Telefonierer, Schmunzeln beim Rest der Kundschaft. Renate hatte das getan, was ich auch oft gern täte und mich bisher nie getraut habe: Anderer Leute Handygespräche kommentieren.
Ruhe in Frieden, Renate. Wer dich kannte, wird dich vermissen. Und nicht nur wegen des Pesto.
Herr Matt,
AntwortenLöschenich komme erst jetzt dazu. Schon seit längerem wollte ich auf den Rück- und Nebenseiten der Reeperbahn zum Paulinenplatz hin stöbern, ich wußte und weiß, daß es dort einiges zu entdecken gibt und verschiebe es immer wieder.
Zu spät. HätteSollteKönnte - Frau Anja hat recht.
Bestimmt werden Sie das letzte Pesto-Glas aufbewahren.
Zur Erinnerung.
Die Einschläge rücken einfach näher und treffen oft die Falschen viel zu früh.
Wieso fällt mir jetzt Tom Waits ein: "In the neighbourhood" ?
Tschüß Renate,
AntwortenLöschenhat echt Spass gemacht bei Dir und danke für die rote Pesto und die guten Tips und dass mir das nicht peinlich sein muss, dass ich keine Ahnung von Käse habe.
Du wirst fehlen!
Dank der Reeperbahn Doku die zur Zeit im NDR läuft habe ich Renate nun auch gesehen. Und ich muss sagen dass es mich kein bisschen wundert dass sie bei vielen einen so bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Tolle Frau und sehr schade dass sie nicht mehr unter uns ist.
AntwortenLöschenSehr schade, ich hatte gar nicht von dem Laden gewußt und habe erst aufgrund der Doku vom NDR über den Laden erfahren (hab es bei einer Currywurst bei Kiez-Curry nebenbei gesehen) und wollte auch diese Woche gleich mal dort stöbern gehen, da ich solche Läden sehr wertschätze, die Wert auf Qualität legen und eine persönliche Atmosphäre haben.
AntwortenLöschenEs hätte sicherlich mein neuer Stamm-Feinkostladen um die Ecke werden können. Sehr schade für St-Pauli
Hallo
AntwortenLöschenich habe Ihren Blog schon lange auf meiner "Ich will mal gucken Liste" und komme heute an einem Sonntag dazu es auch zutun.
Wenn ich Ihr Memorandum lese ,bekomme ich eine richtige Gänsehaut,den erst vor ein paar Wochen lief im NDR eine Folge "Leben auf dem KIez" ,in der eine junge Frau ,eben genau vor diesem Laden stand und den Aushang las.
Durch Ihre unglaubliche Art zu Schreiben ,bleiben uns nun diese einzigartigen Menschen vom Kiez erhalten ,auch wenn wir sie selber vielleicht nie kennengelernt haben
Vielen Dank
Kerstin
Renate RIP DER KIEZ VERGISST DICH NIE
AntwortenLöschenR.I.P. Renate!
AntwortenLöschenAuch wenns klischeehaft klingt, die besten gehen immer zuerst! :(