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20 September 2010
19 September 2010
FC St. Pauli–HSV: Selbsthass in St. Ellingen
Das Wochenende (vor allem natürlich der Sonntag) war geprägt vom diesjährigen Finale um die Hamburger Stadtmeisterschaft im Fußball. St. Pauli gegen St. Ellingen gewissermaßen, oder, um es allgemeinverständlicher zu formulieren, FC St. Pauli gegen den HSV.
Jeder Polizist im Viertel – es waren angeblich tausend im Einsatz – hatte die Verantwortung für durchschnittlich 23 Fans. Eine gute Quote, wenn man bedenkt, dass an anderen Tagen jeder Cop 184 Hamburger umsorgen muss.
Die Reeperbahn war sicherheitshalber vollgesperrt, und als ich gegen 14 Uhr zum Natasholen in die Davidstraße aufbrach, wurde gerade ein halbes Tausend HSV-Fans von Bullen und Pferden gen Stadion geleitet. Die Fans brüllten „Scheiß St. Pauli!“ und „Das hier ist unser Revier!“, und ich fragte mich mal wieder, warum die HSV-Anhänger sich bloß so abarbeiten müssen am FC St. Pauli.
Ich meine: Die Braun-Weißen sind eine Fahrstuhlmannschaft und der HSV ein Weltverein, der 1983 sogar schon mal den Vorgängerwettbewerb der Champions League gewonnen hat. In ihren Augen müsste der FC doch nichts weiter als Fliegenschiss sein.
Und trotzdem stellen sich manche HSV-Nasen nachts den Wecker, um St.-Pauli-Fans und -Spieler zu verprügeln, die am Bahnhof Altona den Zug verlassen. Trotzdem bemalen sie das FC-Emblem vorm Stadion mit blauer Farbe. Trotzdem schreien sie „Scheiß St. Pauli!“, dass ihr Geifer den Mittelstreifen der Reeperbahn düngt.
Warum tun die das? Warum folgen sie nicht dem weisen Rat „Nicht mal ignorieren!“, den Karl Valentin ihnen doch schon Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem Silbertablett serviert hatte?
Ich glaube, ich weiß warum: Weil sie neidisch sind. Auf den FC St. Pauli.
Dieser kleine Scheißverein hat es geschafft, weltweit als saucool zu gelten. Er kommt aus dem berühmtesten deutschen Stadtteil der Welt und hat ein Corporate Design, mit dem du auch außerhalb der Kickersphäre positiv auffällst. Mit den Totenkopftrikots des FCSTP punktest du in London genauso wie in New York, in Tokio wie in Brisbane. Der Verein hat eine klare politische Linie (links-alternativ, antirassistisch), ein Faible für Punk und verdammt viele Frauen als Fans – kurz: ein Image, das überall dort ankommt, wo Leute sich als unangepasst und kritisch empfinden, selbst wenn sie gar keine Fußballfans sind.
Und was hat der HSV? Seit 1983 einen Pokal des Vorgängerwettbewerbs der Champions League in der Vitrine, eine Legende namens Uwe Seeler und ein Stadion, dessen Namen er alle paar Jahre meistbietend verhökert.
Auch wenn sie einem Weltverein anhängen: Der Neid auf Nimbus und Image des FC St. Pauli, auf diesen charmanten Mix aus Rotlicht, Rock’n’Roll, Toleranz und Laissez-faire nagt so sehr an den HSV-Fans, dass sie ihren Hass auf das Leid, welches ihnen dieser kleine Stadtteilverein durch seine bloße Existenz unablässig zufügt, immer wieder herausschreien müssen.
Irgendjemand müsste ihnen vielleicht mal erzählen, dass es in Wahrheit Selbsthass ist. Sie kompensieren damit etwas – in Anbetracht der Rahmenbedingungen – ganz Erstaunliches: einen kapitalen Minderwertigkeitskomplex.
Ach ja, das Spiel: Es endete 1:1, weil der Weltverein zwei Minuten vor Schluss durch einen Glücksschuss noch den Ausgleich schaffte. Und auf der vollgesperrten Reeperbahn trockneten derweil die Pferdeäpfel.
18 September 2010
Fundstücke (101)
17 September 2010
Allein unter Stäbchenstümpern
Bin beim Sushiessen im Viersternehotel East auf St. Pauli.
Gegenüber sitzt eine silberhaarige Frau in Schneeleopardenbluse. Sie hat eine spezielle Stochertechnik, die eine orale Zufuhr des Fischs zuverlässig verhindert, nicht aber ein einzigartiges Gebrösel auf ihrem Teller.
Das Sushi löst sich unter ihrem beharrlichen Stochern gleichsam in seine Moleküle auf. Man könnte es nur noch per Löffel oder Staubsauger aufklauben, aber definitiv nicht mehr mit Stäbchen.
Ihr Nachbar, ein Yuppietyp mit Mittelscheitel und Protzuhr, arbeitet hingegen beidhändig. In jeder Hand hält er ein Stäbchen, um das hölzerne Duo optimal links und rechts am Häppchen positionieren zu können. Sobald das zu seiner Zufriedenheit gelungen ist, klemmt er beide Stäbchen vorsichtig in die rechte Hand und versucht die Californiaroll in einem Rutsch zum Mund zu führen. Natürlich fällt sie runter und zerbröselt sorgsam in ihre Einzelteile. Der Silberhaarigen in Schneeleopardenbluse wird der Mann wahrscheinlich immer sympathischer.
Ich hingegen bin heute Abend endlich mal ganz weit vorne. Denn ich habe dank sachkundiger Lektüre erfahren, der gemeine Japaner – und der ist ja wohl maßgebend in Sachen Sushi – äße die Rohfischspezialität niemals mit Stäbchen, sondern aussschließlich mit: den Fingern.
Und darin bin auch ich – ohne mich allzusehr loben zu wollen – ein geborener Virtuose, wenngleich in der heutigen Runde der einzige. Alle anderen dilettieren komplett unhistorisch mit ihren Stäbchen herum und glauben, sie seien authentisch. Diese Pseudokultursensibelchen! Diese Multikultischwachmaten! Diese Aufdenleimgeher!
Zu allem Überfluss tunken sie das Sushi auch noch mit der Reisseite in die Sojasoße, dabei sagt doch der gemeine Japaner, und der ist ja wohl maßgebend: nur mit der Fischseite!
Ach, es ist schon ein großartiges Gefühl, endlich mal stylish und authentisch zu sein – wenn auch nur aus Opportunismus aufgrund mangelnden Geschicks. Denn ich und Stäbchen, das ist eine Geschichte voller Tragik und Tristesse. Satt wurde ich nur, indem ich mir die Röllchen in dunklen Ecken verschämt händisch zuführte. Und jetzt stellt sich heraus: Genauso muss es sein! So und nicht anders!
Voller Stolz hätte ich schon immer mitten im Rampenlicht die manuelle Kunst des Sushiverzehrs vorführen können, und alle anwesenden Japaner hätten mir respektvoll lächelnd zugenickt. Stattdessen hatte ich stets Frau Schneeleopardenbluse und Herrn Protzuhr als Ideal vor Augen, ich kleinmütiges Herdentier.
Den Triumph von heute Abend kann mir jedenfalls niemand mehr nehmen. Auch wenn ich mir die Hände hinterher etwas gründlicher waschen musste als alle anderen.
16 September 2010
Rückseitenjubiläum (schon wieder)
Heute wird dieses Blog fünf. Ganz schön alt für etwas, das als Schnapsidee begann. Wie im vergangenen Jahr erlaube ich mir daher eine Zwischenbilanz.
In den Tiefen des Archivs haben sich bisher 1738 Beiträge angesammelt. 993.966 Besucher schauten vorbei, und ich weiß nicht, ob es anmaßend ist, doch ich hatte auf die Million gehofft. Den millionsten werde ich übrigens am Schlafittchen packen und reich beschenken – sofern ich ihn in flagranti erwische. Also bitte nicht mitten in der Nacht reinschleichen.
Insgesamt sorgten die hier gestrandeten Webflaneure für m. E. imposante 1.555.218 Seitenaufrufe, im Schnitt verweilte jeder von ihnen 1:54 Minuten auf der Rückseite der Reeperbahn. Der mit 109 Kommentaren ganz knapp erfolgreichste Text der gesamten fünf Jahre ist noch gar nicht so alt – ich kann es also immer noch …!
Im Lauf der Zeit erhielt ich 2 Abmahnungen, davon war eine teuer. Selbst musste ich einmal anwaltliche Hilfe erbitten – und holte mit unfreiwilliger Beihilfe von Spiegel TV zum Glück alles wieder rein.
Einschneidendstes Erlebnis des zurückliegenden Jahres war der vom Anbieter erzwungene Blogumzug. Er kostete mich die liebgewonnene Adresse www.mattwagner.de, doch zum Glück sind all die, denen es hier gefällt, mit umgezogen; einen Einbruch der Besucherzahlen gab es jedenfalls nicht. Und dafür bin ich Ihnen echt dankbar, meine Damen und Herren!
Ms. Columbo hat mir dieses Jahr übrigens zum Bloggeburtstag einen Birnenkuchen gebacken. Und er schmeckt fantastisch.
15 September 2010
Fundstücke (100): Manchmal sieht’s in Hamburg aus wie …
14 September 2010
Doggystyle
Zur Weinprobe in einem Restaurant auf St. Pauli bringt eine Kollegin ihren Hund mit, bei dessen Anblick mir fast das Glas Crémant aus der Hand rutscht.
Das Vieh wirkt fast kalbsgroß; seine Ausmaße werden auf dem Foto auf geradezu beschämende Weise vertuscht. Statt einer Hundehütte bewohnt es sicherlich eine Art Garage.
„Das ist eine Deutsche Dogge“, erklärt gelassen ein auf praktisch allen Gebieten erfahrener Kollege, der mir später noch Dönekens von einem prominenten deutschen Fußballer erzählen wird („Der fängt morgens mit Champagner an, macht mit Weißwein weiter, endet bei Rotwein und geht ins Bett.“), aber das weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Auch nicht, dass selbst der größte Hund der Welt eine Deutsche Dogge ist. Unser Exemplar wiegt just 56 Kilo, sagt seine schätzungsweise deutlich leichtere Besitzerin, „aber das ist nur das Sommergewicht. Im Winter geht sie hoch auf 65.“
Deutsche Doggen haben also saisonale Gewichte, sogar die Weibchen: Ein äußerst lehrreicher Abend zeichnet sich für mich ab, nicht nur in önologischer Hinsicht. Während wir über das friedfertig mit den putzlumpengroßen Lefzen wackelnde Monster sprechen, sabbert es Pfützen auf den Restaurantboden, mit denen man halb Ruanda bewässern könnte.
Zwischendurch entdeckt der Graukopf eine Gemeinsamkeit mit meinem dicken Sitznachbarn: Beide hatten einst ihre wildesten Zeiten im Restaurant Brücke in Harvestehude. „Ich hab da noch mit Joop gekokst!“, japst der Dicke erinnerungsselig, während eine wachsende Zahl von Schweißflecken sein blaues Hemd immer weiter eindunkelt.
Der auf praktisch allen Gebieten erfahrene Kollege möchte aber nicht weiter über läppische Sachen wie das Koksen mit Joop reden, sondern lieber zurück zum Thema Deutsche Doggen. Er erweitert das Sujet sogar nonchalant ins Allgemeine.
„Man trifft niemand mehr, keiner geht mehr raus“, sinniert er und nippt melancholisch am Crémant, „aber wenn du ’nen Hund hast, bist du richtig weit vorne.“ Frauchen erglüht augenblicks vor Stolz auf ihr Ganzweitvornesein, während Godzilla auf rund drei Quadratmetern ein Nickerchen macht.
Wie die Weine im Einzelnen waren, ist mir übrigens nicht mehr erinnerlich.
Das Vieh wirkt fast kalbsgroß; seine Ausmaße werden auf dem Foto auf geradezu beschämende Weise vertuscht. Statt einer Hundehütte bewohnt es sicherlich eine Art Garage.
„Das ist eine Deutsche Dogge“, erklärt gelassen ein auf praktisch allen Gebieten erfahrener Kollege, der mir später noch Dönekens von einem prominenten deutschen Fußballer erzählen wird („Der fängt morgens mit Champagner an, macht mit Weißwein weiter, endet bei Rotwein und geht ins Bett.“), aber das weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Auch nicht, dass selbst der größte Hund der Welt eine Deutsche Dogge ist. Unser Exemplar wiegt just 56 Kilo, sagt seine schätzungsweise deutlich leichtere Besitzerin, „aber das ist nur das Sommergewicht. Im Winter geht sie hoch auf 65.“
Deutsche Doggen haben also saisonale Gewichte, sogar die Weibchen: Ein äußerst lehrreicher Abend zeichnet sich für mich ab, nicht nur in önologischer Hinsicht. Während wir über das friedfertig mit den putzlumpengroßen Lefzen wackelnde Monster sprechen, sabbert es Pfützen auf den Restaurantboden, mit denen man halb Ruanda bewässern könnte.
Zwischendurch entdeckt der Graukopf eine Gemeinsamkeit mit meinem dicken Sitznachbarn: Beide hatten einst ihre wildesten Zeiten im Restaurant Brücke in Harvestehude. „Ich hab da noch mit Joop gekokst!“, japst der Dicke erinnerungsselig, während eine wachsende Zahl von Schweißflecken sein blaues Hemd immer weiter eindunkelt.
Der auf praktisch allen Gebieten erfahrene Kollege möchte aber nicht weiter über läppische Sachen wie das Koksen mit Joop reden, sondern lieber zurück zum Thema Deutsche Doggen. Er erweitert das Sujet sogar nonchalant ins Allgemeine.
„Man trifft niemand mehr, keiner geht mehr raus“, sinniert er und nippt melancholisch am Crémant, „aber wenn du ’nen Hund hast, bist du richtig weit vorne.“ Frauchen erglüht augenblicks vor Stolz auf ihr Ganzweitvornesein, während Godzilla auf rund drei Quadratmetern ein Nickerchen macht.
Wie die Weine im Einzelnen waren, ist mir übrigens nicht mehr erinnerlich.
13 September 2010
Von einem Chinesen verkloppt
Der Chinamarkt vorm Rathaus bietet allerlei fernöstlichen Nippes, aber auch Bratreis und vor allem: Massagen!
Da kann ich nicht nein sagen und betrete ein offenes Zelt, um mir von einer chinesischen Expertin eine zehnminütige Kopf- und Rückenmassage verpassen zu lassen. Hinter mir steht ein pickliger Zweimetermann mit dem gleichen Begehr. Da zwei Masseurinnen aktiv sind, kommen wir gleichzeitig dran. Die Damen legen los, während irgendwo da draußen ein Leierkastenmann einen kongenial unpassenden Soundtrack beisteuert: „Lili Marleen“.
Schon nach kurzer Zeit offenbart der Lulatsch neben mir ungefragt eine ganz persönliche Vorliebe: „Endlich mal eine Frau“, seufzt er, „die hart zupacken kann.“ Die Chinesin kichert. Vielleicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
Nach zehn angenehmen Minuten schlendere ich weiter, bin aber jetzt richtig angefixt. Mein Rücken muss sich anfühlen wie in der Sonne geschmolzenes Hartgummi, erst dann bin ich zufrieden. Schon erspähe ich ein weiteres Massagezelt, es offeriert 20 Minuten für ebensoviele Euro.
Zwei Männer höchst unterschiedlichen Zuschnitts bearbeiten gerade zwei Kunden. Yin und Yang sozusagen. Der eine ist der Thomas Berthold der Chinamassage. Mit den Lidern auf Halbmast blickt er desinteressiert hinaus in die Welt, während seine Hände selbstvergessen einen Frauenrücken walken.
Der andere hingegen wirkt wie der Jürgen Kohler des Knetens: engagiert bis unter die Achselhaare, mit Armen und Beinen sein Opfer wild beackernd – enemy mine. Seine Massagetechnik hat etwas Judoartiges, vergröbert mit einem gehörigen Schuss Holzfällertum. Das ist mein Mann!
„Ich möchte gern ihn da“, flüstere ich der Chinesin zu, die an einem zum Tresen umfunktionierten Tisch für die Verwaltung zuständig ist, und zeige auf den strupphaarigen Berserker. „Aber der andere“, flüstert sie zurück, „ist besser.“ „Trotzdem“, raune ich.
Wenig später rammt mir ein skrupelloser Chinese Ellbogen und Knie in den Rücken, dass die Wirbelsäule knirscht, er zwiebelt mir die Ohrläppchen, zieht meine Finger lang, und am Ende entfacht er auf meinen Schultern ein Trommelfeuer aus Schlägen, als wäre ich seine Schwiegermutter. Uff.
Nach diesen 20 Minuten gönne ich mir ein Tsingtaobier, ein leider laues Lager auf Reisbasis mit der Würze und Aromatik von destilliertem Wasser.
Aber das kann man ja vorher nicht wissen.
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11 September 2010
10 September 2010
Der Taxifeind
An der Fußgängerampel Mitte der Reeperbahn warte ich gemeinsam mit einem älteren Herrn auf Grün. Er scheint gutsituiert in seiner legeren hellen Freizeitkleidung.
Wir warten. Ein Taxi fährt vorbei. Der ältere Herr schaut ihm nach und sagt leise: „Arschloch.“
Er sagt es so ruhig und bedächtig, als würde er in der Kneipe ein weiteres Bier höflich mit „Nein, danke“ ablehnen.
Ein weiteres Taxi. Diesmal biegt es neben uns vom Spielbudenplatz auf die Reeperbahn ein. Der ältere Herr schaut gelassen auf das Fahrzeug herunter, als es ihn umkurvt, und sagt es wieder: „Arschloch.“
Alle anderen Autos lässt er verbal unbehelligt vorüberfahren. Nur den Taxis sagt er seine Meinung, und zwar so, als würde er höflich „Nein, danke“ sagen.
Auf dem Kiez sieht man keinem an, was gerade in ihm vorgeht, das wird mal wieder überdeutlich. Und dann wird die Ampel grün, und wir gehen beider unserer Wege.
Wir warten. Ein Taxi fährt vorbei. Der ältere Herr schaut ihm nach und sagt leise: „Arschloch.“
Er sagt es so ruhig und bedächtig, als würde er in der Kneipe ein weiteres Bier höflich mit „Nein, danke“ ablehnen.
Ein weiteres Taxi. Diesmal biegt es neben uns vom Spielbudenplatz auf die Reeperbahn ein. Der ältere Herr schaut gelassen auf das Fahrzeug herunter, als es ihn umkurvt, und sagt es wieder: „Arschloch.“
Alle anderen Autos lässt er verbal unbehelligt vorüberfahren. Nur den Taxis sagt er seine Meinung, und zwar so, als würde er höflich „Nein, danke“ sagen.
Auf dem Kiez sieht man keinem an, was gerade in ihm vorgeht, das wird mal wieder überdeutlich. Und dann wird die Ampel grün, und wir gehen beider unserer Wege.
09 September 2010
Die falsche Scham
So, nach drei bzw. fünf Jahren Gebrauch sind sowohl die Squalljacke als auch die Cityslipper von Lands’ End definitv Schrott.
Überall franst es aus, der Jackenreißverschluss ist altersmüde, der Schuh rissig, vor allem über der Ferse. Also schicke ich den ganzen Schamott zurück und lasse mir den Kaufpreis erstatten, auch nach drei bzw. fünf Jahren Gebrauch. Schließlich ist genau diese Möglichkeit das Alleinstellungsmerkmal von Lands’ End: Rücksendung jederzeit möglich, lebenslang, „guaranteed. Period“.
Merkwürdigerweise empfinde ich beim Gang zur Post dennoch stets ein Gefühl der Scham – so, als beanspruchte ich etwas, das mir nicht zustünde. Doch genau wegen dieser Möglichkeit habe ich ja damals Squalljacke und Cityslipper bei Land’s End gekauft und nirgendwo anders. Nur deshalb.
Im Grunde handelt es sich dabei nicht mal um einen Kauf, sondern um ein sehr lang laufendes Leihgeschäft. Damals, 2005 und 2007, zahlte ich die komplette Leihgebühr im Voraus, erhielt dafür allerdings auch das Recht der unbefristeten Nutzung. Lands’ End konnte das Geld anlegen, mit ihm spekulieren nach Herzenslust, es in der Finanzkrise in Derivate versenken, was auch immer. Aber: Eines Tages, das wusste Lands’ End, würde ich ankommen, eine ausgefranste Jacke und rissige Schuhe abliefern und die komplette Leihgebühr zurückverlangen.
So ist der Deal. Und jeder, der nicht so vorgeht, schenkt Lands’ End letzlich Geld. Denn alle Rücksendungen sind natürlich schon eingepreist. Die sind ja nicht blöd.
Warum ich mich trotzdem schäme? Fragen Sie Freud, Precht, Erlinger oder am besten gleich die vorwurfsvoll stummen Moralapostel von Lands’ End. Aber bitte nicht mich.
Überall franst es aus, der Jackenreißverschluss ist altersmüde, der Schuh rissig, vor allem über der Ferse. Also schicke ich den ganzen Schamott zurück und lasse mir den Kaufpreis erstatten, auch nach drei bzw. fünf Jahren Gebrauch. Schließlich ist genau diese Möglichkeit das Alleinstellungsmerkmal von Lands’ End: Rücksendung jederzeit möglich, lebenslang, „guaranteed. Period“.
Merkwürdigerweise empfinde ich beim Gang zur Post dennoch stets ein Gefühl der Scham – so, als beanspruchte ich etwas, das mir nicht zustünde. Doch genau wegen dieser Möglichkeit habe ich ja damals Squalljacke und Cityslipper bei Land’s End gekauft und nirgendwo anders. Nur deshalb.
Im Grunde handelt es sich dabei nicht mal um einen Kauf, sondern um ein sehr lang laufendes Leihgeschäft. Damals, 2005 und 2007, zahlte ich die komplette Leihgebühr im Voraus, erhielt dafür allerdings auch das Recht der unbefristeten Nutzung. Lands’ End konnte das Geld anlegen, mit ihm spekulieren nach Herzenslust, es in der Finanzkrise in Derivate versenken, was auch immer. Aber: Eines Tages, das wusste Lands’ End, würde ich ankommen, eine ausgefranste Jacke und rissige Schuhe abliefern und die komplette Leihgebühr zurückverlangen.
So ist der Deal. Und jeder, der nicht so vorgeht, schenkt Lands’ End letzlich Geld. Denn alle Rücksendungen sind natürlich schon eingepreist. Die sind ja nicht blöd.
Warum ich mich trotzdem schäme? Fragen Sie Freud, Precht, Erlinger oder am besten gleich die vorwurfsvoll stummen Moralapostel von Lands’ End. Aber bitte nicht mich.
08 September 2010
07 September 2010
Alles Handarbeit (würg)
Unangefochtenes Zentrum des in Hamburg weltberühmten Galãostrichs am Schulterblatt ist das Transmontana, das hier schon mehrfach wohlwollend Erwähnung fand.
Das Transmontana ist ein hochcharmantes portugiesisches Café mit einem Bestelltresen direkt links hinter der Eingangstür, so dass die Gästeschlange immer den Durchgang versperrt. Und im Transmontana ist immer Schlange. Der Laden ist in der Schanze beliebt bis zur Vernarrtheit, hier kaufen Studenten, Werber und Autonome in friedvoller Eintracht ihre Natas. Oder ihre Sandwiches – und die sind das Problem.
Die einzelnen Zutaten liegen griffbereit in sichtbaren Schalen unterm Glastresen, und wenn eine der anscheinend nach strikt ethnischen Kriterien ausgewählten Tresendamen (alles Portugiesinnen, wie’s scheint) ein Sandwich ofenfertig kompiliert, dann läuft das so:
Zunächst greift die stets dralle, offensichtlich unaufhaltsam dem Matronenhaften entgegenevolvierende Tresenfrau mit durchaus wurstigen Fingern in den Mozzarella und knatscht ihn auf die gebutterten Brötchenhälften. Dann grabscht sie so grob wie geübt in die Salamischale, pappt die Wurst auf den Käse, ehe sie ihre weiterhin ungewaschenen Flossen im Tomatenkübelchen versenkt. Dort fischt sie zwei tropfende Scheiben heraus, packt sie aufs Brötchen und matscht sie genüsslich mit bloßen Händen fest auf den Rest.
Zwischen zwei Sandwiches kassiert Ms. Salmonella Kaffee ab, nimmt speckige 10-Euro-Scheine entgegen und kramt im menschenfettverschlierten Münzwechselgeld. Und schon wühlen sich ihre glänzenden Finger wieder durch Käse, Wurst und Tomaten …
Dass die Sandwiches nach der eklen Prozedur in einer Art Waffeleisen mehrere Minuten lang erhitzt werden, ist zwar in erster Linie rezeptkonform; doch gleichzeitig dürfte das die komplette Entvölkerung des Schanzenviertels durch Streptokokkeninfektionen etwas hinauszögern.
Grundsätzlich wäre dieser Entvölkerungseffekt womöglich sogar zur begrüßen, dann sänken wenigstens die Mieten wieder und Schilder wie das abgebildete würden überflüssig. Doch damit entzöge sich das Transmontana zugleich auch seine eigene Geschäftsgrundlage, und das kann keiner wollen.
Wir kaufen dort übrigens stets nur Natas (gebenedeit sei ihr Erfinder). Die holen sie im Transmontana nämlich immer nur mit Zange vom Tablett, weiß der Teufel warum.
06 September 2010
05 September 2010
Eat this, Sarrazin!
Drei etwa 16-jährige Jungs anscheinend türkischer Herkunft steigen in St. Pauli in die U3, ordnungsgemäß dokumentiert von der abgebildeten Überwachungskamera.
Einer hat eine Zeitung dabei und zitiert aufgeregt die Titelschlagzeile: „Boah, Sex an der Uni, Digger!“ Die Drei setzen sich hastig nebeneinander, blättern in der Zeitung und stecken erregt die Köpfe zusammen.
Offensichtlich gefällt ihnen, was sie sehen. „Wow!“, entfährt es jedenfalls einem. Doch erst sein Kumpel bringt alles auf den Punkt:
„Ich geh auch Uni, Digger!“
Dieser zufällig mitgehörte, am Ende nicht unbedingt vor Grammatik, aber vor Emphase platzende Dialog zeigt beispielhaft, mit welch einfachen Mitteln man junge Menschen mit Migrationshintergrund dazu motivieren kann, eine akademische Karriere anzustreben – und somit das vermeintliche Schicksal ererbter Minderintelligenz zu kompensieren.
Also: Eat this, Sarrazin!
04 September 2010
Abfackeln ja – aber erst ab 50 Mille!
So, heute findet mal wieder unser lustiges und daher bundesweit bekanntes Schanzenfest statt.
In den letzten Tagen sollen Autonome im Viertel ein aufs Fest einstimmendes Flugblatt verteilt haben, in dem angeblich steht, das begleitende Abfackeln herumstehender Autos sei durchaus genehm – allerdings nur, sofern das Zielobjekt mindestens 50.000 Euro gekostet habe.
Wie kommen die Jungs und Mädels auf diesen Betrag? Klar, sie sind AUTOnome, also müssen sie was von Autos verstehen, aber die Berechnungsbasis würde mich schon auch en detail interessieren. Dürfte man als Autobesitzer zum Beispiel die Abwrackprämie gegenrechnen? Das sind so Fragen.
Wie auch immer: Jeder, der im Rahmen des Schanzenfestes Autos verbrennen möchte, sollte tunlichst eine Preisliste aktueller Modelle mit sich führen, damit ihm kein Fehler unterläuft. Sonst verdächtigt er vielleicht versehentlich einen völlig unschuldigen Mercedes E 250 CDI (204 PS, 6-Gang) der Abfackelbarkeit – dabei kriegt man den im Web schon für 49.861 Euro; ich habe recherchiert.
Es ist halt wie bei der Steuerprogression: Hast du irgendwann auch nur einen lausigen Euro zu viel, schnappt die Falle zu – wie zum Beispiel beim abgebildeten VW Touareg 3.0 V6 TDI (239 PS, 8-Gang-Automatik; Foto: VW) mit dem aber auch wirklich saudummen Listenpreis von 50.700 Euro.
Autonome sind also gewissermaßen wie das Finanzamt – und in ihrer strammen Orientierung an Grenzwerten sehr deutsch. Beruhigend, irgendwie.
03 September 2010
02 September 2010
Fundstücke (99): Darauf muss man erst mal kommen
Ein Laden in der Weidenallee offeriert Do-it-yourself-Särge.
Man muss sie zwar nicht selbst aus dem Baum hauen und dann zusammenzimmern, kann sie aber beliebig bemalen oder beschriften. Am besten natürlich noch zu Lebzeiten (ausgenommen Leute wie Lazarus sowie Zombies und Vampire).
„Wenn Sie Ihren eigenen Sarg gestalten“, erläutert gutgelaunt die kitabunte Infotafel, „kann Sie das stark in Ihr eigenes Zentrum führen.“ Mit allen Risiken und Nebenwirkungen wohlgemerkt, die manchermanns Zentrum zu bieten hat. Doch das verschweigt die Infotafel pietätvoll.
Gleichwohl ist das Ganze eine hübsche Idee. Man sollte sie aber allein schon aus aufwandsökonomischen Gründen nicht mit einer Feuerbestattung kombinieren.
01 September 2010
Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (33): Das verwaiste Freilufthotel
An der Westseite der Endoklinik nahm im vergangenen Jahr der Pole Arkadiusz Kossar eine Weile lang das „Obdachlos Hotel“ in Besitz. Genau genommen hatte er die Brache mit Ruinenresten selbst so getauft.
Es war ziemlich nett dort, mit Blumenvase, Tisch und Sesseln – also fast wie im gutbürgerlichen Wohnzimmer, nur halt draußen. Irgendwann musste er weg, der Arkadiusz, doch die Endoklinik hat sein „Obdachlos Hotel“ seither praktisch im Urzustand belassen. Die halbherzigen Bemühungen führten bislang nur zu einem Bauzaun, und auch der hat schon wieder gelitten unterm stummen Vandalismus des Prekariats – oder unter besoffenen BMW-Fahrern, die den Zaun als externe Bremse zweckentfremdeten.
Ein melancholischer Ort jedenfalls, den Arkadiusz Kossar sicher gern noch ein Jährchen länger in Beschlag genommen hätte, um von dort aus täglich gewissenhaft seiner Pfandflaschensammelleidenschaft nachzugehen.
Immerhin sind seine Aufschriften übriggeblieben, natürlich auch – direkt unter dem Wort „Hotel“ – ein „Ave Maria“. Das musste sein, ob obdachlos oder nicht. Schließlich ist er Pole, die teilen nun mal alle ein christliches Gen, nicht wahr.
31 August 2010
Das Kreuz mit dem Kreuzchen
Die SPD will nach ihrer erneuten Machtergreifung das Ehegattensplitting für Kinderlose abschaffen, was sie für uns zwei Kinderlose schlagartig aus dem Wählbarkeitsuniversum hinauskatapultiert.
„Diese Idee der SPD ist nichts weiter als eine Strafsteuer für Reproduktionsverweigerer! Eine Gebärprämie durch die Hintertür!“, rege ich mich auf, und nicht mal künstlich. „Ausgerechnet jetzt, wo Andrea Nahles schwanger ist“, analysiert Ms. Columbo bestechend hellsichtig, „das kann kein Zufall sein.“
Damit hat sie natürlich völlig recht – und unsereins allmählich überhaupt keine Wahlalternative mehr. Denn gehen wir sie doch mal spaßeshalber einzeln durch:
Merkel hat mit Westerwelle koaliert, das disqualifiziert die CDU noch mal weit über das sowieso übliche Maß hinaus; Künast glaubt an Homöopathie, und so eine darf man nicht mal in die Nähe irgendeines Schalthebels lassen, schon gar nicht den der Macht; die Linke ist ein sich selbst zerfleischendes Chaotentrüppchen ohne Konzept, aber erschwerenderweise mit Lafontaine – und die Rechten eh jenseits jeglicher Diskussion.
Bleibt also im Grunde doch nur wieder die Partei DIE PARTEI. Oder gründet jemand schnell vor den nächsten Neuwahlen noch was Wählbares, vielleicht mit einer sympathischen Hauptforderung, wie ich sie unlängst – und zwar hocherfreut, obwohl ich Wein bevorzuge – auf einer Wand in der Bernhard-Nocht-Straße entdeckte?
Wir sind echt für jeden Scheiß dankbar.
30 August 2010
Gesabbel
Der Gebrauch von Schirmen ist in Hamburg eine recht zwiespältige Sache. Einerseits werden sie manchmal benötigt, weil es hie und da, selten, ab und zu, eigentlich so gut wie nie: regnet.
Oftmals aber geht dieser superseltene Regen auch noch mit Wind erklecklicher Stärke einher, und das behagt den hiesigen Schirmen überhaupt nicht. Dann schmollen und bocken sie, klappen um, knicken ein, brechen zusammen, entscheiden sich also für eine dauerhafte Dysfunktion und wollen entsorgt werden. Und das erledigt der zivilisierte Hamburger zum Glück fast nie über den Rinnstein, sondern über die gerne mal kalauernden Mülleimer.
Was ich eigentlich damit sagen will, ist ziemlich unklar, doch wenigstens liefert dieses Gesabbel eine Rechtertigung fürs heutige Foto.
Oftmals aber geht dieser superseltene Regen auch noch mit Wind erklecklicher Stärke einher, und das behagt den hiesigen Schirmen überhaupt nicht. Dann schmollen und bocken sie, klappen um, knicken ein, brechen zusammen, entscheiden sich also für eine dauerhafte Dysfunktion und wollen entsorgt werden. Und das erledigt der zivilisierte Hamburger zum Glück fast nie über den Rinnstein, sondern über die gerne mal kalauernden Mülleimer.
Was ich eigentlich damit sagen will, ist ziemlich unklar, doch wenigstens liefert dieses Gesabbel eine Rechtertigung fürs heutige Foto.
29 August 2010
28 August 2010
Die Unaussteigbaren
Unfall im Elbtunnel (35 km Stau!), Kabelbrand in der U-Bahn, die unterbrochene Linie U3, Bauarbeiten auf der Ost-West-Straße, Dauerregen: All das machte es heute nicht gerade zu einem Vergnügen, in der Stadt unterwegs zu sein – vor allem nicht per Bus.
„Momentan“, informierte uns irgendwann eine gebrochene Stimme aus der Leitstelle, „haben manche Linien 70 Minuten Verspätung.“ Dabei wollte ich doch nur vom Zahnarzt in der Neustadt nach Hause, nichts wie nach Hause; stattdessen stand ich nun klitschnass in der Mitte eines 37er-Schnellbusses, der alles daran setzte, seinen Beinamen zu widerlegen, und zwar mit überwältigendem Erfolg.
Ich war eingequetscht zwischen denen, die von der Vordertür aus herandrängten, und jenen, die ebendies über die mittlere Tür versuchten. Eine bebrillte Resolute in Fahrernähe rief in kompletter Unkenntnis der Gesamtsituation über Köpfe und Schultern hinweg nach hinten: „Gehen Sie doch ein Stückchen weiter! Wenn jeder noch zwei Zentimeter schafft, ist schon viel gewonnen!“
Doch Theorie und Praxis sind tödlich verfeindete Geschwister, sie meiden sich tunlichst, vor allem in einer Sardinenbüchse der Linie 37. Und deshalb ließen wir die gute Frau, die der irrigen Auffassung war, mitten in der Krise an sich Führungseigenschaften festgestellt zu haben, einfach plappern.
An der Michaeliskirche wollte die ebenfalls sehr redselige Rollstuhlfahrerin hinter mir hinausrollen, was hier, in der Busmitte, mit allgemeiner, indes stillschweigender Erleichterung zur Kenntnis genommen wurde. Damit sie sich in Bewegung setzten konnte, musste allerdings die Rampe ausgeklappt werden, und das ist in einem vollen Bus problematisch, denn viele Leute stehen auf dieser Rampe und bewegen sich nur höchst ungern dort weg.
Es ist ein merkwürdiges, doch gerichtsfest nachweisbares Massenphänomen in Hamburg, dass sich der moderne Nutzer des ÖPNV, der an der aktuellen Haltestelle noch nicht aussteigen möchte, störrisch weigert, den Bus kurz zu verlassen, um das geordnete Aussteigen anderer zu ermöglichen.
Stattdessen balanciert er lieber waghalsig auf der Treppenkante, quetscht sich ungeachtet ästhetischer Erwägungen an den ebenso störrischen Drinbleiber neben ihm, presst sich verzweifelt an die Rückseiten der Sitzlehnen, zieht ängstlich Bauch und Knie ein – all das, um ja nicht für fünf Sekunden den Bus verlassen zu müssen.
Die Rollstuhlfahrerin hat es trotzdem irgendwann geschafft, und wir, die Zurückgebliebenen und neu Hinzugequetschten, schlichen weiter durch den Regen gen St. Pauli – in einem rund 70 Minuten verspäteten Bus, der allerdings, wie ich mich behaglich erinnerte, am Rathausmarkt in ebenjener Sekunde vorgefahren war, als ich die Haltestelle erreichte.
Alles eben eine Frage des Timings, auch an Regenchaostagen wie diesem.
27 August 2010
Das beste Bier der Welt
Es gibt übrigens unpeinlichere Gespräche als das mit einer zuckersüßen Arzthelferin, die dir den Gebrauch eines Spatels zur Stuhlentnahme erläutert – und das auch noch übertrieben detailreich.
Zu den angenehmeren Gesprächen jedenfalls gehören jene mit German Psycho, ramses101 und Cinema_noir, wie ich heute (wieder mal) hocherfreut feststellen durfte, und zwar im Herz von St. Pauli auf dem Spielbudenplatz (Foto).
Von der Gottesfrage über das beste Bier der Welt („Rebellion“ laut ramses101, was unbeweisbar ist, weil diese britischen Brauer sich – wohlweislich? – weigern, es in Flaschen abzufüllen) bis zu Hanekes Metaansatz war alles dabei, natürlich auch eine Diskussion über die (überschätzte?) Relevanz der 80er, alles begleitet und befeuert von Moselriesling (für mich) und Astra (für den Rest).
Leider hat dieser spezielle Sprit auch dazu geführt, dass der funkelnde Esprit unserer Gespräche meiner Erinnerung nur noch verschwommen und somit nicht zitabel zugänglich ist. Am deutlichsten haften blieb lediglich eine erneute Verabredung, und zwar für heute, also Freitagabend im Café Mexico, wo die mexikanisch-amerikanische Sängerin Tish Hinojosa auftreten wird.
Ab halb 9 werden wir dort herumlungern (bis auf ramses101, der nach London fährt, um dort Rebellion zu trinken), und wer nicht kommt, der wird bei Twitter entfolgt, und zwar standrechtlich.
26 August 2010
25 August 2010
Ein doppeltes „Das geht nicht“
Warum bloß vergrätzen uns Gastronomie und Einzelhandel bisweilen lieber mit Prinzipienreiterei, anstatt uns zum Segen künftiger Gewinne lieber mit ein bisschen Flexibilität bei der Stange zu halten?
Gleich zwei Beispiele von heute lassen mich ratlos diese systemkritische Frage stellen. Beispiel 1: das Café Leinpfad, eine höchst idyllisch am Alsteranleger gelegene Gaststätte. Wir wollten zwei Gutscheine über je ein großes Frühstück dort einlösen, die wir im Internet erworben hatten. Allerdings erbat Ms. Columbo einen Orangensaft statt Sekt, und ich wünschte mir statt des offerierten Fleischsalats lieber etwas mehr Käse. Das war alles; eigentlich keine Herausforderung für die deutsche Gastronomie im 21. Jahrhundert.
„Das geht leider nicht“, beschied uns allerdings die Kellnerin. „Nur genauso, wie es im Internet stand.“
Dabei wäre das Café Leinpfad mit O-Saft sogar billiger weggekommen als mit Sekt, es hätte also ein Geschäft gemacht. Wir diskutierten und argumentierten, doch die Haltung der Dame erwies sich als ebenso verfestigt wie inzwischen unser stillschweigender Entschluss, das Café Leinpfad hinfort nie mehr freiwillig aufzusuchen – dabei sollte diese Gutscheinaktion im Internet doch neue Kunden werben.
Auch wenn die sture Dame später wortlos doch zugunsten von etwas mehr Käse den Fleischsalat wegließ: Das Café Leinpfad ist künftig tabu. Die können ihren Fleischsalat gerne selber mümmeln.
Auf der Tabuliste steht seit heute auch der Applehändler Gravis in der Innenstadt, das Beispiel Nummer 2. Ich war mit meinem 2007 dort gekauften MacBook vorstellig geworden, weil dessen Verschluss defekt war; das Chassis musste auf Garantie ausgetauscht werden, mehr nicht. Deswegen wollte ich aber meinen Rechner nicht tagelang bei Gravis herumstehen lassen und schlug vor, nach dem Eintreffen des Ersatzteils vorbeizukommen, den Austausch abzuwarten und den Rechner gleich wieder mitzunehmen.
„Das geht nicht“, beschied mir die Dame bei der Reparaturannahme, als sei sie die eineiige Schwester derer vom Leinpfad.
Der Rechner, führte sie weiter aus, müsse dableiben, weil es nämlich schon vorgekommen sei, dass Kunden Ersatzteile nicht abgeholt hätten, die somit zurückgeschickt werden mussten.
Für mich klang das alles wie Klingonisch. Vor drei Jahren hatte ich zweieinhalbtausend Euro dort gelassen, und jetzt wollten sie meinen Computer tagelang konfiszieren wegen eines Ersatzteils, das in weniger als einer Viertelstunde ausgetauscht werden konnte?
„Okay“, sagte ich, vom Leinpfadvormittag noch etwas erschöpft, „dann verpflichte ich mich gern schriftlich, das Ersatzteil trotz Garantie zu bezahlen, wenn ich aus irgendwelchen absurden Gründen mit dem MacBook nicht mehr vorbeikommen sollte. Wo kann ich unterschreiben?“
Die Gravisfrau bat um Geduld, sie müsse nachfragen. Dann ging sie fort und kehrte kurz darauf wieder mit der niederschmetternden Botschaft: „Das geht leider wirklich nicht.“
Inzwischen hatte sich bei mir längst der stillschweigende Entschluss verfestigt, nie mehr irgendwas bei Gravis zu kaufen, vor allen Dingen nicht das nächste zweieinhalbtausend Euro teure MacBook, dessen Update etwa 2011 ansteht.
Stattdessen werde ich mit diesem Anliegen in die Schanze gehen, und zwar zu Arndt und Bleibohm, die eh mein Blog mögen, immer mal wieder Einträge in ihr Kundenmagazin übernehmen und mir den Rechner vielleicht sogar ein bisschen billiger überlassen.
Warum also vergrätzen uns Gastronomie und Einzelhandel bisweilen lieber mit Prinzipienreiterei, anstatt uns zum Segen künftiger Gewinne lieber mit ein bisschen Flexibilität bei der Stange zu halten? Bin ich etwa zu empfindlich – oder werden die allmählich so kundenfreundlich wie Seinfelds Soup Nazi?
Wer jetzt augenrollend kommentieren möchte, dieser Beitrag sei (mal wieder) ein bedrückendes Beispiel für viel Lärm um fast nichts in diesem Blog, der kann sich das sparen.
Das weiß ich nämlich selber. Und zwar am besten.
24 August 2010
„Nehmt Geld dafür!“
Trotz des Katastrophensommers mit ausgefallenen ICE-Klimaanlagen, missglückten Abschleppversuchen und allgemeiner Unzufriedenheit fühlt die Bahn sich bereits wieder stark, selbstbewusst und öffentlich-rechtlich genug, um ihre Kunden zu düpieren – Durchsage am Wochenende auf der Fahrt von Kiel nach Hamburg:
„Wir bedanken uns bei den Fahrgästen, die sich im Türbereich aufgehalten haben; dadurch haben wir jetzt eine Verspätung von sechs Minuten.“
Auch auf der Reeperbahn (Foto) geht es natürlich manchmal sarkastisch zu, aber noch häufiger pragmatisch:
„Lasst euch nicht ansprechen“, hörte ich unlängst einen verdienten Kiezianer einem Passantenpaar hinterherrufen, „und wenn doch, dann nehmt Geld dafür!“
Hach, schon schön, wieder zu Hause zu sein.
23 August 2010
Eine blitzartige Erkenntnis
Wenn man von einer Kreuzfahrt zurückkehrt und feststellen muss, dass während unserer Abwesenheit …
… a) dank eines statistisch praktisch ausgeschlossenen Blitzes das Haus brannte,
… b) die Feuerwehr stundenlang löschen musste,
… c) unsere Mitbewohner evakuiert wurden und
… d) das Ganze sogar im Fernsehen übertragen wurde, dann muss man sagen:
Das ist ein weiteres starkes Argument für eine Kreuzfahrt.
Zumal Festplattenrekorder und Antennenbuchse den Blitz auch dann nicht überstanden hätten, wenn wir zu Hause geblieben wären.
22 August 2010
Auf Kreuzfahrt (7): Ziemlich amüsant, aber …
Mitten auf dem Meer: Internet! WiFi über Satellit! Ein Traum – aber nicht ganz billig.
Ich buchte gleich am ersten Tag drei Stunden Zugang, was sich in harschen 24 Euro auf der Rechnung niederschlug. Der Webjunkie (= ich) zitterte dennoch vor Freude; der Dealer (= Costa) erst recht. Drei Stunden für neun Tage, das macht umgerechnet 20 Minuten pro Tag – und fühlte sich an wie ein ziemlich harter Entzug.
Blogeinträge bereitete ich abends also offline vor und lud sie mit fahriger Ungeduld über die tempotechnich keineswegs mit DSL vergleichbare Verbindung hoch. Darüberhinaus reichte es nur noch für einen flüchtigen Blick auf die Mailliste, interessante Artikel speicherte ich in einem Wettlauf gegen die Zeit auf der Festplatte ab und las sie später, dann ohne den obligaten Schweißfilm auf der Stirn. Für die Beantwortung von Blogkommentaren reichte die knappe Zeit natürlich nicht, vielleicht hole ich das noch nach.
Nicht nur ich, auch einige andere an Bord waren mit Laptops unterwegs. Ein paar Scans ergaben über 20 Rechner, deren WLAN-Wolken durchs Schiff waberten und sich in der Seitenleiste als kryptische Liste (Foto) niederschlugen. Einer der Laptopbesitzer lagerte seine Fotos sogar im öffentlichen Ordner; jeder der anderen hätte sie sich einfach so auf seinen Rechner ziehen können, sofern er ein durchtriebener, charakterloser Intimsphärenverletzer gewesen wäre – oder Google-Mitarbeiter.
Wenn man kein WiFi-Web gebucht hatte, konnte man eine einzige Internetseite trotzdem besuchen: die der Reederei. Dort bewirbt sie ihre Kreuzfahrtdienste u. a. mit folgenden Worten: „Die Wellnessbereiche sind das Highlight der Costa Schiffe, insbesondere auf der Costa Concordia mit dem Samsara Spa – einem der größten Spaß, das je auf einem Kreuzfahrtschiff realisiert wurde.“
Eine herrlich missglückte Pluralbildung von Spa – der mitgemeinte Subtext schlägt sich auf geradezu freudianische Weise in der Orthografie nieder. Das hätte gewiss auch David Foster Wallace grinsend goutiert, der in seinem Buch „Ziemlich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“ die Absurditäten einer Kreuzfahrt urkomisch aufs Korn nimmt.
Unser Fazit ist ähnlich und doch ganz anders: ziemlich amüsant, aber in Zukunft … vielleicht doch noch mal mit uns.
Ich buchte gleich am ersten Tag drei Stunden Zugang, was sich in harschen 24 Euro auf der Rechnung niederschlug. Der Webjunkie (= ich) zitterte dennoch vor Freude; der Dealer (= Costa) erst recht. Drei Stunden für neun Tage, das macht umgerechnet 20 Minuten pro Tag – und fühlte sich an wie ein ziemlich harter Entzug.
Blogeinträge bereitete ich abends also offline vor und lud sie mit fahriger Ungeduld über die tempotechnich keineswegs mit DSL vergleichbare Verbindung hoch. Darüberhinaus reichte es nur noch für einen flüchtigen Blick auf die Mailliste, interessante Artikel speicherte ich in einem Wettlauf gegen die Zeit auf der Festplatte ab und las sie später, dann ohne den obligaten Schweißfilm auf der Stirn. Für die Beantwortung von Blogkommentaren reichte die knappe Zeit natürlich nicht, vielleicht hole ich das noch nach.
Nicht nur ich, auch einige andere an Bord waren mit Laptops unterwegs. Ein paar Scans ergaben über 20 Rechner, deren WLAN-Wolken durchs Schiff waberten und sich in der Seitenleiste als kryptische Liste (Foto) niederschlugen. Einer der Laptopbesitzer lagerte seine Fotos sogar im öffentlichen Ordner; jeder der anderen hätte sie sich einfach so auf seinen Rechner ziehen können, sofern er ein durchtriebener, charakterloser Intimsphärenverletzer gewesen wäre – oder Google-Mitarbeiter.
Wenn man kein WiFi-Web gebucht hatte, konnte man eine einzige Internetseite trotzdem besuchen: die der Reederei. Dort bewirbt sie ihre Kreuzfahrtdienste u. a. mit folgenden Worten: „Die Wellnessbereiche sind das Highlight der Costa Schiffe, insbesondere auf der Costa Concordia mit dem Samsara Spa – einem der größten Spaß, das je auf einem Kreuzfahrtschiff realisiert wurde.“
Eine herrlich missglückte Pluralbildung von Spa – der mitgemeinte Subtext schlägt sich auf geradezu freudianische Weise in der Orthografie nieder. Das hätte gewiss auch David Foster Wallace grinsend goutiert, der in seinem Buch „Ziemlich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“ die Absurditäten einer Kreuzfahrt urkomisch aufs Korn nimmt.
Unser Fazit ist ähnlich und doch ganz anders: ziemlich amüsant, aber in Zukunft … vielleicht doch noch mal mit uns.
21 August 2010
Auf Kreuzfahrt (6): Auf zu Sadam!
Uns plagt der Shiplag. Auf der Fahrt nach Russland mussten wir die Uhr binnen eines Tages zweimal um eine Stunde vorstellen.
Mit Folgen: Das Wecken zum Landgang in St. Petersburg lag nach Hamburger Zeit um 4:15 Uhr. Ergo torkelte ich – trotz einer beherzten Koffeinüberdosis zum Frühstück – durch die Eremitage wie ein volltrunkener Bonobo. Inzwischen sind wir bereits wieder beim Zurückstellen der Uhren. Ein erheblich angenehmerer Job; trotzdem gerät alles immer mehr durcheinander.
Auf der ganzen Reise kam ich bisher übrigens nur ein einziges Mal in Kontakt mit der Ostsee – als ich am Hafenufer von Tallinn auf einem glitschigen Algenfilm (Foto oben) ausglitt und mit dem rechten Schuh ins Wasser musste, um einen Sturz abzufangen und die Kamera zu retten. Will sagen: Wir sind in Estland.
Gestern holten die USA ihre letzten Kampftruppen aus dem Irak, heute mussten wir zu Sadam – so heißt nämlich Hafen auf Estisch. Und Estisch ist keineswegs ein Küchenmöbel mit Tippfehler, sondern die hiesige Sprache, eine Verwandte des Finnungarischen und deshalb hochgradig seltsam.
Die Esten waren in den vergangenen fast tausend Jahren nur lächerliche 40 nicht besetzt, die beiden Dekaden seit 1990 machen also die Hälfte der estischen Freiheit aus. Entsprechend gut sind sie drauf, sogar die Uniformträger.
Heute wollten wir in einer Tallinner Mall aufs Klo, welches sich als kostenpflichtig entpuppte, doch wir hatten keine hiesigen Münzen parat. Zwei Sicherheitsleute bekamen das mit, einer zückte seine Chipkarte, öffnete damit die Schranke und sagte: „Today it’s free for you.“
Zum ersten Mal im Leben haben wir also einen original Klobesuch spendiert bekommen: welch ein Tag. „Have a happy hour!“, riefen uns die Wachmänner fröhlich hinterher. Hatten wir; auch wenn sie nur fünf Minuten dauerte.
Tallinn verfügt übrigens über eine grandiose gotische Altstadt, die komplett zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Überall Kopfsteinpflaster, windschiefe Steinhäuser, Zwiebelturmkirchen und bunte Paläste, manche davon 800 Jahre alt. Die Gebäude säumen und formen krumme Gässchen, in denen zauberhafte Estinnen in Landestracht Stadtpläne oder glasierte Mandeln verticken – und sich manchmal einfach unbesorgt von der Augustsonne die Lider wärmen lassen, als käme bis in alle Ewigkeit keiner mehr, um dieses kleine Land wieder zu unterjochen.
An einem Tag wie diesem möchte man fast dran glauben, Historie hin oder her.
20 August 2010
Auf Kreuzfahrt (5): In „St. Petersburg“
Ankunft in Leningrad, welches sich vor 20 Jahren in einer Anwandlung neomonarchistischer Romantik in „St. Petersburg“ zurücktaufte. Weicheier!
Zum Glück ist dennoch weiterhin kein Mangel an handfesten stalinistischen Plattenbauten – gut so, denn was kann einen Sonnenuntergang zauberhafter widerspiegeln als Glanzstücke proletarischer Wohnkloarchitektur? Reiseleiterin Irina allerdings erwähnt diese bahnbrechenden Gebäude mit keinem Wort, stattdessen geleitet sie uns mit dem umflorten Blick Rolf Seelmann-Eggebrechts durch den eklen Prunk des Palastes der Adelsfamilie Yussupow.
Sie schwärmt von den „schönen, begabten, steinreichen“ Mitgliedern dieses degenerierten Geschlechts – und verschweigt, wie die Mischpoke einst jene Fantastilliarden erräuberte, ohne die sie niemals ihre Tapeten mit Blattgold hätte durchwirken können. Abstoßend!
Immerhin können die Yussupows auf die verdienstvolle Massakrierung des durchgeknallten Esofreaks Rasputin verweisen – und zwar hier im Keller, unter unseren Füßen, nur ein paar Meter weit weg vom Tapetenblattgold.
Nur auf der Kanalrundfahrt hatte die schwärmerische Irina kurz ihre stramme UdSSR-Sozialisation aufblitzen lassen. „Äs war nicht alläs schlächt in Sowjetzeit“, sagte sie, „abgäsähän von Stalin vielleicht, aber heute auch ist nicht alläs gutt!“ Eine wohltuende präventive Relativierung all dessen, was später an Seelmanneggebrechteskem aus der guten Frau herausbrechen sollte.
Die Leningrader … na gut: Petersburger Jugend frönt übrigens einem merkwürdigen Brauch, dessen Ursprung sich selbst die ansonsten allwissende Irina nicht erklären kann: Sie befestigt Schlösser an den zahlreichen Brückengeländern, die das sog. Venedig des Nordens zieren, welches am Stadtrand eher als Bitterfeld des Ostens durchgeht.
Nach dem Anbringen der Schlösser entsorgt die Jugend die Schlüssel, wahrscheinlich der Einfachheit halber in der Newa. Irgendwann war die verweichlichte Stadtverwaltung so verzweifelt über diese Unsitte, dass sie – anstatt die Jugend nach gutem alten, leider etwas in Vergessenheit geratenem Brauch en tout nach Sibirien zu expedieren – an allen Brücken quaderförmige Gitterkäfige aufstellte.
Damit verband sie die Hoffnung, die Jugend möge ablassen von den historischen Geländern und sich stattdessen den Käfigen zuwenden. Einen Honigtopf in die Zimmerecke zu stellen, um Wespen vom Kuchen wegzulocken, folgt ähnlichen taktischen Überlegungen.
Das Irre an der Petersburger Aktion: Die verweichlichte, neomonarchistische Jugend fiel darauf rein! Seitdem kettet sie ihre Schlösser nicht mehr an Brücken, sondern brav an die Gitterkonstrukte. Versteh einer die russische Seele!
Hätte die Stadtverwaltung stattdessen alle Brücken abgerissen und dort handfeste Plattenbauten hingestellt, die abends den Sonnenuntergang zauberhaft widerspiegeln, wäre dieser romantische Spuk ebenfalls von heute auf morgen vorbei gewesen.
Unter Stalin, so viel ist sicher, wäre das nicht passiert.
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