27 August 2006

Der Messermann

Wenn ich mit dem Rad unterwegs bin und anhalten muss, steige ich möglichst nicht ab. Stets versuche ich mich irgendwo abzustützen. Es ist ein kleines lästiges Unglück, wenn vorm Erreichen des Ziels der Bodenkontakt unvermeidlich wird. Ms. Columbo hingegen verhält sich genau gegenteilig. Selbst wenn sie direkt an einem in Hüfthöhe angebrachten Geländer stoppen muss, steigt sie gelassen von den Pedalen, statt die vom Schicksal bereitgestellte Stützhilfe in Anspruch zu nehmen. Liegt das am Y-Chromosom?

Gestern allerdings stieg sogar ich freiwillig vom Rad. Als ich nämlich die Ampel an der Holstenstraße erreichte und mich mit ausgestrecktem Arm genüsslich abstützte, begann ein neben mir stehender Radler Aufkleber von einem am Pfosten befestigten Mülleimer zu kratzen – mit einem stehenden Messer.

Da dies in unmittelbarer Nähe meiner Pulsadern geschah, zog ich das kleine lästige Unglück dem Verbluten vor. Der Mann, ein hagerer, dunkelhaariger Enddreißiger, war mit ärgerlichem Eifer bei der Sache, und ich rückte ein wenig ab von ihm und seinem seltsamen Gebaren.

Als die Ampel grün wurde, fuhr ich alleine los. Ich schaute mich um und sah, wie er sich inzwischen am Ampelmast der abzweigenden Straße zu schaffen machte, obwohl er „unseren“ Mülleimer noch gar nicht endbearbeitet hatte. Drüben jedenfalls schabte er mit seinem Messer erneut an einem Aufkleber herum, schien aber dann auf die Grünphase zu warten, um alsbald den beklebten Flächen auf der anderen Straßenseite seine flatterhafte Aufmerksamkeit widmen zu können.

Die durchscheinende Wut, mit der er jeweils das Messer führte, schien mir psychopathisch kontaminiert – zumal dem Ganzen etwas deprimierend Sinnloses innewohnte: Es gibt Millionen von Aufklebern auf jeder freien Fläche St. Paulis, und jeden Tag werden neue irgendwohin gepappt. Du kannst nicht gewinnen.

Irgendwann, so vermute ich, wird auch er das Sysyphoshafte seines Tuns begreifen, wird die Beklebung der kiezianischen Mülleimer und Ampelpfähle als irreparabel erkennen und die Welt somit als unrettbar.


Welchen sinnvolleren Einsatz seines Messers er sich dann überlegt, möchte ich mir lieber nicht ausmalen.

Der abgebildete Pfahl steht übrigens an einem Bahngleis in Lüneburg. Vielleicht wäre der Messermann dort glücklicher.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Stichwaffen
1. „Mackie Messer“ von Kurt Weill & Bertolt Brecht
2. „Sword of Damocles" von Lou Reed
3. „Throw down the sword" von Wishbone Ash

6 Kommentare:

  1. Welchen sinnvolleren Einsatz seines Messers er sich dann überlegt, möchte ich mir lieber nicht ausmalen.

    Am hellichten Nachmittag an Jules Drahtesel den Reifen aufschlitzen ?

    Verdammte Spinner!

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  2. Dies sind die Leiden der 1€- Jobber.
    Vermeintlich gemeinnützige Tätigkeiten verrichten und versuche der alten Hydra ein Stück Schuppen abzukratzen.
    Mach das mal nen Monat.

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  3. Haben Sie je in Erwägung gezogen, dass er – durchscheinende Wut hin oder her – Spaß an seinem Tun hat, meinethalben in einer ungesunden Form? Dann wäre das gar nichts mit Lüneburg, vermute ich. Und ganz am Rand bemerkt: Sich Wishbone Ash einzupfeifen ist schon ziemlich heftiger Tobak.

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  4. @ Opa: Jule sollte einfach keine Sticker mehr auf die Reifen pappen. Das hat sie nun davon.

    @ Stefan: Offenbar folgen Sie meiner Wutthese, ganz im Gegenteil zu Herrn …

    … poodle: Ehrlich gesagt kam mir die Spaßvermutung angesichts seiner geröteten Birne und dem hektisch hin und her schubbernden Messer nicht in den Sinn. Und was Wishbone Ash angeht, verehrter Herr Schwabe, so seien Sie froh, dass ich angesichts der olympischen Länge des von Ihnen übermittelten Feli-Kuti-Monsters überhaupt noch dazu komme, andere Musik zu hören. Übrigens gehört ein Ash-Stück zu meinen ewigen Favoriten: „Errors of my ways“ – und zwar nicht NUR aus inhaltlichen Gründen.

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  5. Meinen hysterischen Lachanfall habenSie sicher gerande vernommen? :-)))

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  6. Ja, der Kiez ist klein. Ich wohne doch quasi um die Ecke. Nur nicht auf der gleichen Höhe …

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