[Nestbeschmutzungsmodus an:]
Unter Kulturkritikern gibt es eine gar nicht kleine Fraktion Verbohrter, deren geschmackspolizeiliches Gehabe zutiefst reaktionär ist. Diesen Leuten sind ihre zementierten Vorurteile heiliger als jede Kunst, und deshalb könnte ein von ihnen einmal als verachtenswert eingestufter Künstler auch mit einem überraschenden Meisterwerk nie mehr reüssieren.
Wer einmal als irrelevant abgehakt wurde, hat es bei den Geschmackskapos auf ewig verschissen. Und manchmal reicht ihnen als Grund fürs Todesurteil schon das Geburtsdatum im Pass – als wenn das biologische Alter automatisch große Kunst verhindern würde. Das tut es manchmal wirklich, aber halt nicht immer. Doch den Vernagelten entgeht die späte Spitzenleistung auf jeden Fall.
Manchmal lassen sie eine Ausnahme zu – wie im Fall Johnny Cash –, aber nicht, weil sie selbst den Künstler wiederentdeckt hätten. Nein, weil junge Fans, deren Hirn noch nicht vollvernagelt war, überraschenderweise angerührt wurden von der zeitlosen Kunst eines großen Alten, die ihnen vermittelt wurde von einem Produzenten, der bisher nur die Jugendkultur bedient hatte. Ihm haben sie geglaubt, er hat sie hingeführt zu einer wundersam spröden Musik der Gefühle, die ihnen ganz und gar unbekannt geblieben wäre, wenn die Verbohrten allein die Sache geregelt hätten.
Aber plötzlich hören die Kids Johnny Cash, und die Vernagelten reiben sich die Augen und hören auch mal wieder zu – aber nur, damit sie sagen können: Wir sind gar keine Vorurteilsfaschisten, wir hören uns doch alles an! Und im nächsten Augenblick fahren sie besinnungslos fort mit ihrer Lieblingstätigkeit, dem pawlowschen Verachten all dessen, was nicht als hip und cool gilt.
Diejenigen aber, die gerade als hip und cool gelten, denken da (natürlich) oft anders. Junge Künstler wissen in der Regel, auf wessen Schultern sie stehen, und wenn sie die Chance haben, ihre glühende Verehrung fürs Vorbild zu demonstrieren, dann nutzen sie die gern. Deshalb schwärmen Jungstars wie die Kooks oder Nerina Pallot für Bob Dylan, deshalb freut sich der New Yorker Hippiefolkie Devendra Banhart einen Wolf, wenn er auf einem Album des vitalen Folkrentners Bert Jansch mitsingen darf, deshalb schreibt Will Oldham Songs für die alte Souldame Candi Staton, deshalb gibt es fast jedes Jahr einen neuen Tribute-Sampler mit Songs der Rolling Stones.
Die Kapos aber raffen das nicht. Sie suhlen sich lieber im faden Schlamm ihrer kleinen, kleinen Welt; sie wissen nichts von Geschichte, von der dreidimensionalen zeitlichen Struktur von Kunst und Kultur. Einen Roman wie „Robinson Crusoe“ hätten sie gar nicht erst gelesen, denn der Dichterdebütant Daniel Defoe war schon 60, als er ihn veröffentlichte – Rentnerprosa, hätten sie genasrümpft und nicht mal die Schutzfolie entfernt. Beethovens 9. Sinfonie wäre ihnen nicht in den Player gekommen, denn was kann man schon erwarten von einem alten tauben Wirrkopf, dessen beste Zeiten Jahrzehnte zurückliegen?
Geschmackspolizisten haben natürlich nicht die Spur einer Ahnung davon, wie unglaublich scheiße sie sind. Sie leben in einer Pfütze, die mit den Brettern vor ihrem Kopf umzäunt ist, und diesen flachen Wasserklecks halten sie für die ganze Welt. Das uralte und tiefe Meer, die Schaumkronen und Brandungswellen: All das kennen sie nicht, weil sie es nicht kennen wollen – oder sie leugnen es prophylaktisch.
Das alles wäre natürlich herzlich egal, wenn solche Kritiker nicht wesentlich die Wahrnehmung neuer Platten, Bücher, Filme und bildender Kunst bestimmen würden. Doch über ihre armseligen Texte sickern die Vorurteile ein in die Köpfe des Publikums; und dort erstarren sie zum gleichen reaktionären Zement, auf den die Kapos so stolz sind.
Ich spare mir Namen. Lest ihre Texte, hört ihnen zu. Sie sind leicht zu erkennen.
[:Nestbeschmutzungsmodus aus]
So, und jetzt zurück an die Arbeit: Platten rezensieren.
Ex cathedra: Die Top 3 der tollsten Songs von geschmackspolizeilich misshandelten Künstlern
1. „If you think you know how to love me" von Smokie
2. „Johnny W." von Marius Müller-Westernhagen
3. „Lyin' eyes" von The Eagles
Ich glaube, das Wort "Nestbeschmutzung" kommt aus der Straußschen CSU-Ecke und wurde und wird (?!) in Bayern immer noch mit Gulag-ähnlicher Verbannung bestraft ;-)
AntwortenLöschenBerufsblindheit und damit einhergehende objektive Wahrnehmungsdefizite sind tatsächlich Phänomene, die man mit wachsendem Alter kennen muss, um seinen Job gut zu machen. Und nicht zu verblöden.
>Matt
AntwortenLöschenGilt auch für Kritiker:
Altersweisheit = schaumgebremste Rebellion
>Joshuatree
Manchmal gewinnen auch in Bayern die Nestbeschmutzer. Siehe Tochter Strauss.
Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund, allerdings klingt es aus dem Ihren gleich glaubwürdiger, schon aufgrund der Nähe zum Sujet.
AntwortenLöschenIn der Tat hätte ich auch mit den Literaturkritikern angefangen, um mich dann nach und nach zu den Geschmackspatriarchen der modernen Musik vorzuarbeiten.
Wie wahr! Die Biographie des Künstlers ist oft so viel wichtiger als das Ergebnis ihrer Kreativität. Und die Vita muß auch noch zum Zeitgeist passen. Dann können völlig untalentierte Menschen zu Helden werden, während Genies in Groschenromanverlagen ihre letzte Zuflucht finden.
@ joshua, mindestens genauso schlimm ist die tumbfröhliche Geschichtslosigkeit des Nachwuchses. Heraus kommt auch ein ähnliches Ergebnis.
AntwortenLöschen@ opa, in einem Topf mit Tochter Strauß fühle ich mich aber gar nicht wohl … ;-)
@ gp, der Zeitgeist ist eh ein sehr unsympathischer Mitbewohner. Aber er drängt sich immer ins Bild, weil er sich für fotogen hält.
Ach, es ist immer sooo einfach, auf den Kritiker einzuschlagen, der ja keine Ahnung hat, reaktionär ist, hirnvernagelt ... Kann es vielleicht auch sein, dass der Kritiker einfach eine andere Meinung hat als man selbst? Und ist das nicht eigentlich etwas Schönes? Und zeugt es nicht von der Qualität einer Publikation, wenn sie a) Kritiken von dir abdruckt, lieber Matt? Und b) Kritiken von mir? Und ist es nicht eigentlich in Ordnung, wenn die Wertungen da unterschiedlich ausfallen? Und ist es nicht auch vollkommen okay, wenn ich sage: Nein, Künstler xy interessiert mich nicht, soll sich Matt mit beschäftigen oder wer sonst will?
AntwortenLöschenZunächst einmal sollte ein Kritiker natürlich eine Meinung haben. Das wäre schon einmal schön. Wie Matt beschrieben hat, ist das oftmals nicht der Fall.
AntwortenLöschenSo er denn eine Meinung haben sollte, wäre es ebenfalls wünschenswert, wenn er die Art von Musik, Literatur, Film bewertete, die ihm gefallen. Ansonsten ist der Verriß ja programmiert.
Und dann sollte der Kritiker auch noch im Laufe seiner Rezension ein paar Schritte zurückgehen, versuchen, seine Meinung hintenanzustellen und das Werk objektiv zu bewerten versuchen. Funktioniert natürlich nur eingeschränkt, aber das wäre ein Kritiker, der seinen Beruf ernst nimmt.
Diejenigen Kritiker jedoch, die ständig nur das für gut befinden, was sich ihrer Meinung nach auch in einer gewissen Szene befindet, was hip, en vogue, cool, trendy und massengeschmackskonform zu sein scheint, dann darf er sich seinerseits nicht über Kritik wundern.
Eine Publikation wäre übrigens gut beraten, wenn sie die große Zielgruppe derjenigen anzusprechen versuchte, die "nicht massenkonform" sein wollen. Denn bei den Jugendlichen dürfte diese mehr als 90% ausmachen. Klar - ein Widerspruch in sich, aber nur formal. Massenkonform ist nämlich das, was vorgeblich nonkonformistisch ist.
Aber ich schweife ab.
@zahnwart, wenn es nur um Meinungsäußerungen ginge, hätte ich den Text bestimmt nicht rausgehauen. Es geht um Leute (und ich kenne genug), die ihre Vorurteile bis zur Ignoranz pflegen, und das a) natürlich nicht merken, es b) somit auch nicht abstellen können und es c) fatalerweise auch noch anderen einimpfen.
AntwortenLöschenAber das habe ich ja oben alles ausführlich und in jeder Hinsicht erschöpfend ausgekotzt.
PS: Die Wortbestätigung lautet übrigens: rhogWUT. Manchmal habe ich das Gefühl, Blogger.com beobachtet mich.
You're on 25 peeps.
AntwortenLöschenPlease hurry!
Greetings from Belgium