26 Mai 2006

In weiter Ferne, so nah

Unglaublich: Der WM-Pokal ist in der Stadt! Genauer gesagt: in einem großen schwarzen Zelt auf dem Rathausmarkt, und als ich das erfuhr, schwang ich mich sofort aufs Rad, um mich mit dieser bedeutendsten aller Trophäen, die zuletzt Ronaldo triumphierend stemmen durfte, fotografieren zu lassen.

Ich weiß: Es gibt plausiblere Bedürfnisse. Aber auch profanere. Als ich ankam, sah ich mich allerdings einer rund 50 Meter langen Menschenschlange gegenüber, die alles mögliche ausstrahlte (z. B. grimmige Entschlossenheit), doch keinerlei Bereitschaft, Quereinsteigern wie mir mit Höflichkeit („Kommen Sie, ich lasse sie vor!“) oder Sanftmut zu begegnen.

Ich orientierte mich einsichtig ein paar Meter weiter, wo die Postbank eine Torwand aufgestellt hatte. Wer oben und unten je drei Bälle versenke, so das elektrisierende Versprechen, gewänne zwei WM-Tickets. An dieser Stelle darf ich mein Expertentum in dieser Disziplin nicht länger verschweigen. Bereits mehrfach ging ich nämlich aus solchen Wettbewerben siegreich hervor.

Vor einigen Jahren etwa gewann ich dank vierer Treffer beim Schauspielhaussommerfest ein Saisonabonnement, tauschte es aber wegen meiner mangelnden Theateraffinität ein gegen zwei schreiendgelbe Struwwelpeter-T-Shirts, die ich seither nie mehr getragen habe. Und bei einem Torwandschießen in meinem Heimatdorf, bei dem ich die Konkurrenz im Stechen niedergerungen hatte, überreichte man mir einst einen Pokal, auf den der Graveur – offenbar dank eines telefonischen Übermittlungsfehlers – die Inschrift „Sieger im Torwartschießen“ eingestanzt hatte. Diese Trophäe wuchs mir daher nie richtig ans Herz.

Wie auch immer: Für die Chance auf zwei WM-Tickets würde ich natürlich jederzeit versuchen, die alte Schusstechnik wieder aus der Versenkung der vegetativen Erinnerung hervorzuholen. Doch auch hier: eine verflixte Menschenschlange, deren fernes Ende sich irgendwo im Rathausmarkttrubel verlor. Die Aussicht auf stundenlanges Warten hatte auf meinen Eifer sofort einen lähmenden Einfluss, und ich trollte mich. Auf der Heimfahrt sonnte ich mich – think positive, verdammt noch mal! – ersatzweise im Bewusstsein, mich nur gefühlte fünf Meter entfernt vom WM-Pokal aufgehalten zu haben.

Neulich entdeckte ich übrigens beim geschätzten Bloggerkollegen ramses101 die oben abgebildete Veräppelung des WM-Emblems, und rückblickend scheint mir das nun doch besser zu diesem Tag zu passen als die Imagination einer gefühlten Nähe.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Frust
1. „Creep“ von Radiohead
2. „Summertime blues“ von Eddie Cochran
3. „Loser“ von Beck

4 Kommentare:

  1. Ich bin am Freitag bin ich am Rathausmarkt vorbei (von der Reha), aber mir war das zu viel Troubel, zu viele Touristen, zu viel Werbe-Schaubühne-jetzt-machen-alle-mit!

    Hähä, kann somit verstehen dass Du da nicht dich in eine Schlange eingereiht hast. ;)

    Wusste aber gar nicht das sie den Pokal da hatten.

    (Zu Touris könnt ich mich allgemein noch mehr auslassen, ich glaub da muss ich mal bei mir was längeres draus machen … ;))

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  2. Es dürfte Sie wenig wundern, daß für mich dieser Pokal mit Schreibfehler eine ganz besondere Bedeutung hätte...

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  3. In der Tat: Das hätte ich mir sogar selber zusammenreimen müssen. Jetzt haben Sie meinen trüben Tag verschönert, indem Sie mich zum Schmunzeln brachten. Danke!

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  4. Nein, nein, das ist schon in Ordnung: Die Nähe zählt!

    Hätte ich das nur gewußt...

    Eigentlich müsstest du jetzt irgendetwas Erhabenes fühlen, einen Weihrauch.

    In der Nähe dieses Pokals gewesen zu sein - DAS kann nun wirklich nicht jeder von sich behaupten.

    Und: Kopf hoch, am Vorabend der Ereignisse gibt es FIFA-WM-Ticket-Show im ZDF. Noch eine Chance, noch näher ranzukommen!

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