13 Mai 2006

Fuck forever!

Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ist der Leistungssport des Extremkonzerthopping nur in Hamburg möglich, einer Millionenstadt mit einem glasklaren Ballungszentrum: St. Pauli. Hier sagt ein Club dem anderen Hallo; manchmal trennt sie nur eine Straßenbreite. Am besten ausüben lässt sich das Extremkonzerthopping, wenn man mittendrin wohnt in diesem Ballungszentrum, etwa auf der Rückseite der Reeperbahn.

Als großer Schwachpunkt erweist sich höchstens der Terminkalender. Ein falscher Eintrag, und schon ist ein ganzer Tag verdorben, manchmal unrettbar. Ich habe es zum Beispiel mal geschafft, gleich zwei Konzerte an einem Abend zu verpassen. In der Markthalle in Bahnhofsnähe sollten die Cowboy Junkies spielen, eine verehrungswürdige Americanaband aus Toronto; am gleichen Abend spielten Muse in der Großen Freiheit auf dem Kiez.


Zwei Bands also, die ich sehen musste, klar. Um kurz vor halb neun stehe ich vor der Markthalle und wundere mich über Hamburgs komplettes Desinteresse. Ich bin einsam. Und das ist kein Wunder, denn in Wahrheit spielen die Cowboy Junkies, wie sich durch ein Telefonat mit Ms. Columbo herausstellt, in der Musikhalle, und die liegt ganz woanders.

Statt nun durch die Stadt zu karriolen und weitere Zeit zu verlieren, hake ich die Kanadier bedauernd ab und begebe mich direkt auf den Weg zu Muse. In der Großen Freiheit indes kommen mir bei meiner Ankunft verblüffenderweise bereits glückstrunkene Fans entgegen. Wie sich herausstellt, hatten Muse vor allem deshalb so früh und schnörkellos gespielt, weil abends noch eine Fußballübertragung mit einem englischen Team anstand. Die wollten Muse keinesfalls versäumen.

Tatsache jedenfalls war: Ich hatte es geschafft, an nur einem Abend zwei Konzerte zu verpassen. Heute gelang mir das Gegenteil. Um 20 Uhr betrete ich die Große Freiheit, um Belle & Sebastian zu sehen. Sänger Stuart Murdoch, ein schottisches Sensibelchen mit den feinsten Folkpopsongs im Köcher seit Erfindung der Byrds, trägt ein weißes langärmliges T-Shirt mit schwarzen Querstreifen, und als ich eine Dreiviertelstunde später das nur wenige Meter entfernte Grünspan betrete und die Babyshambles in Augenschein nehme, fällt mir auf: Auch Skandalnudel, Superjunkie und Kate-Moss-Popper Pete Doherty trägt genau dieses Hemd.

Das überhaupt feststellen zu können, fällt schon unter die Rubrik „Wunder gibt es immer wieder“, denn eigentlich lässt Doherty circa neun von zehn Konzerten ausfallen. Entweder wurde er gerade mal wieder wegen Drogenbesitzes verhaftet oder wegen Schlägereien; oder weil Kate ihn in die Entziehungsklinik schickte oder weil er zu doof, zu stoned oder zu wirr war, rechtzeitig ins richtige Flugzeug zu steigen.

Heute Abend aber ist all das merkwürdigerweise nicht geschehen. Doherty hat sich nicht einmal chemisch immobilisiert. Im Gegenteil: Der Abend verläuft hocherfreulich; die Band jagt durch ein weites Land, dessen Grenzen Dylan, Pogues, Sex Pistols, Bob Marley und Clash abgesteckt haben, und am Ende explodiert ihr Hit „Fuck forever!“ in den Raum und schneidet die aus einer zähen dampfenden Suppe bestehende Grünspanluft in wadendicke Scheiben.

Vor mir taumelt dazu ein blonder besoffener Teenager konvulsivisch durch einen selbstgeschaffenen Freiraum, und plötzlich rennt er los und springt einem korpulenten Teddybär von Twen in den massigen Rücken. Der wird in andere Menschen hineingeschleudert, dreht sich empört um, funkelt den Blonden aber nur unsicher und passiv aggressiv an, ehe er sich hilfesuchend seiner Freundin zuwendet. Für ihn ist die Sache damit erledigt.

Doch kaum hat er sich wieder der Bühne zugewandt, nimmt der Blonde wieder Anlauf und springt ihn erneut von hinten an wie ein Känguru im Koffeinrausch. Der Teddybär belässt es neuerlich bei einem mittelbösen Blick; dabei wäre inzwischen eine scharfe, gar körperliche Reaktion mehr als angemessen. Doch er ist jemand, der immer einstecken wird. Und der blonde Bengel wird irgendwann im Suff einmal an den Falschen geraten und danach mit einer krummen Nase durchs Leben laufen müssen.

Jetzt weiß er das noch nicht. Im Moment beherrscht Doherty seine Gedanken und Gefühle ganz und gar. Wie Doherty auf dem Wellenkamm brüllender Gitarren sein „Fuck forever!“ in die Welt schreit, als gäbe es kein Morgen: Das ist alles, was zählt. Und was kann ein Popsong mehr erreichen, als für drei Minuten der Zeit in die Speichen zu greifen, so dass Vergangenheit und Zukunft aufhören zu existieren und alles nur Gegenwart ist, eingefroren in Lärm und Schweiß und der Verheißung eines ewigen, glückseligen Stillstands?

Ja, das ist die große Fähigkeit des Pop: Für drei Minuten kann er eine Lüge so glaubhaft groß in den Raum stellen, dass sie zur unumstößlichen Wahrheit wird. Selbst ein Junkie wie Doherty kann das; selbst wenn er das gleiche Hemd trägt wie Stuart Murdoch, das schottische Sensibelchen von nebenan.


Foto: Die Deckenlampe des Grünspans, zitternd im Energiefeld des Pop.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs, welche die Zeit stillstehen lassen können
1. „Gone up in flames“ von Morning Runner
2. „Sway“ von The Rolling Stones
3. „When the sun hits“ von Slowdive

3 Kommentare:

  1. Zoe, in der Tat, es war die Mopo. Hübsche Idee, das Peter-Meter.

    Künstlerisch scheint das Hamburger Konzert gegenüber Berlin das deutlich bessere gewesen zu sein. In Berlin war Doherty wohl chemisch sehr derangiert, wohingegen er sich im Grünspan als körperlich und geistig in Hochform zeigte.

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  2. Herr Wagner, wenn Sie gegen 0.00 in Ihrem Nacken einen kurzen, scharfen Stich des Neides gespürt haben sollten, dann bekenne ich mich hiermit verantwortlich, denn Pete Doherty würde ich mir in überhaupt egal welchem Hemd anschauen, und Belle and Sebastian selbstverständlich auch.

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  3. … und ich dachte, es habe sich um die erste kecke Stechmücke des Sommers gehandelt. So ist mir das aber natürlich viel lieber, verehrte Frau Modeste …

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