30 Mai 2006

Am Polarkiez

Nur ein paar hundert Leute verlieren sich im Millerntorstadion, darunter Alexander, Alexander und ich. Dabei spielt die Türkische Republik Nordzypern beim Fifi Wild Cup gegen Grönland, hey!

Es ist so kalt, als hätten die Männer aus dem Eis eine Methode gefunden, ihr Standardwetter mit nach Hamburg zu schmuggeln. Unsere Hände nehmen die Form des außergewöhnlich steifen Bierplastikbechers an, denn an Fellhandschuhe hat keiner von uns gedacht. Wenn wir ausgetrunken haben, können wir unsere gebogenen Finger als Getränkehalter vermieten. Als Idee nicht schlecht, doch das Vermarktungspotenzial scheint angesichts des dünnbesuchten Turniers begrenzt. Nein, Wärme muss her. Wir müssen auftauen, irgendwie.

Da komischerweise nirgends ein Glühweinstand zu sehen ist, behelfen wir uns mit Currywürsten. Wenn man Gesicht und Hände ganz dicht über die dampfende Masse aus Fleisch und Soße hält, entsteht eine leichte Illusion von Wärme. Mit jedem Bissen allerdings schwindet dieser Effekt; ein Dilemma.

Zur Halbzeit führt Nordzypern mit 1:0. Die Stimmung auf den Rängen ist gedrückt. Keine Wende in der zweiten Hälfte. Wir trippeln auf der Gegengerade hin und her und schauen sinnierend unseren Atemwolken nach, während Grönland sich vergeblich abmüht, den auch auf dem Kiez vereinigungsunwilligen Nordzyprioten ein Remis aufzuschwatzen.

Ich halte Ausschau nach Opa Edi, kann seinen imposanten Grauschopf aber nirgends entdecken. Wir geben uns trotzig der nachgewiesenermaßen falschen Vorstellung hin, Alkohol wärme von innen, und holen uns die nächste Runde Bier. Jetzt spielt die Freie Republik St. Pauli gegen Gibraltar. Einige Hardcorepaulifans machen Stimmung. „Ein Tor, ein Tor, St. Pauli schießt ein Tor!“ fantasiert ein junger Bursche unbeeindruckt von Kälte und mangelnder Unterstützung, was allerdings die Männer vom Affenfelsen zur 1:0-Führung peitscht. Wir klatschen, und nicht nur aus Höflichkeit: Es wärmt.

Zur Halbzeit habe ich das Gefühl, mir werde es alsbald ergehen wie Ötzi, dem Gletschermann vom Hauslabjoch, sofern ich nicht recht bald in eine beheizte Berghütte flüchte. So verabschiede ich mich klappernd von sämtlichen Alexanders, zücke an der Budapester Straße noch kurz die Kamera für die pittoreske Tristesse einer gewissen Bühne 62 und finde muggelige Zuflucht im Grünen Jäger. Dort zieht gerade eine ebenso sympathische wie hochmittelmäßige Band aus Düsseldorf den Abend bis zur Hauptattraktion – Downpilot aus Seattle – in die Länge wie einst die Seiler auf der Reeperbahn ihre Schiffstaue.

Immerhin: Es ist warm. Und Downpilot spielen ihre langsamen Americana-Preziosen mit Ernst und Würde. Außerdem sieht der Sänger aus wie Jackson Browne.

St. Pauli hat übrigens wirklich noch den Ausgleich geschossen, wie ich aus dem Web erfahre. Psychologisch natürlich ganz schlecht für Gibraltar.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Kältebezug
1. „Shiloh Town“ von Tim Hardin
2. „Antarctica starts here“ von John Cale
3. „Frozen“ von Madonna

5 Kommentare:

  1. Das klingt wie in den trostlosesten Zeiten beim FC St. Pauli. Mir wird gerade etwas kühl.

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  2. Tibet vs Republik St.Pauli stand doch auf dem Programm. Aber auch dafür war Opa nach der Großwildjagd etwas zu erschöpft, wurde aber durch die Humboldt Universität zu Berlin würdig vertreten.

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  3. Mensch, da habe ich ja wieder mal etwas durcheinandergebracht. Das 7:0 hätte ich gerne gesehen, am liebsten natürlich mit Ihnen. So behelfe ich mir mit dem Spielbericht auf Ihrer Seite.

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