09 November 2009

Auf und nieder, immer wieder

Immer Sonntagsmorgens gegen 10 besorge ich die Tageszeitung am Kiosk im U-Bahnhof St. Pauli.

Um diese Zeit ist der Bahnhof ein merkwürdiger Ort. Auf den Metallbänken hängen schief und schräg die letzten Opfer der Nacht. Sie schlafen in krummen Stellungen und betteln darum, beklaut zu werden.

Meist stehen ein paar junge Typen mit Bierbüchsen in der Nähe; sie haben zwölf Stunden Kiez in den Knochen und genug Promille im Blut, um es ratsam erscheinen zu lassen, sie weiträumig zu umgehen. Manchmal warten am Gleis auch schon ein, zwei Rentnergrüppchen aus dem Um- oder Ausland (= alles südlich von Niedersachsen) aufgeregt auf die U3, weil die Bahn sie zu den Landungsbrücken bringt, wohin sie auch binnen zehn Minuten laufen könnten.

Auf einer der Bänke hockt in der Regel zudem eine vor wenigen Stunden noch schwer aufgebrezelte, doch jetzt immens derangierte Königin der Nacht. Die von heute morgen trug Schwarz, von den Haaren über den Mini bis hinunter zu den Highheels, und fast wäre sie noch als repräsentabel durchgegangen, ruhte ihr rechter Fuß nicht nach außen abgeknickt auf dem Boden, während ihr linker weiterhin aufrecht auf dem Stiletto balancierte.

Es sind oft die Details, die Geschehenes andeuten, auch wenn man nie dahinterkommen wird, was genau zu abgeknickten Füßen oder schiefem Tiefschlaf auf Metallbänken geführt haben mag im Lauf einer St.-Pauli-Nacht.

Heute komplettierte eine Reinigungskraft das Ensemble. Ein junger Afrikaner mit orange leuchtender Schutzweste säuberte die Rolltreppe. Er fuhr hoch und wischte dabei die metallenen Segmente der Seitenverkleidungen ab, dann schritt er wie traumverloren die Fußtreppe wieder hinunter, wandte sich nach links und reiste erneut wischend und putzend nach oben.

So ging es in einem fort, und es hatte weniger etwas von Sisyphus als von einem souverän aus- und aufgeführten Körpermantra, weil der Mann es verstand, seinen berechtigten Widerwillen gegen diese Art Tätigkeit an einem gottverdammten Sonntagmorgen zu überführen in lässig ausgestellte Ungerührtheit.

All das, die Besoffenen und die Gefährlichen, die Schnarcher, die Rentner und die Reiniger, werden natürlich unablässig akustisch umspült von Händel, Mozart & Co.

Aber das sagte ich ja bereits.


7 Kommentare:

  1. Der Mann hat trainiert, nichts anderes: http://tinyurl.com/yg49dlk

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  2. und ich hätte lieber ein Bild der derangierten Königin der Nacht gesehen. Ich finde kaum etwas erotischer als eine derangierte Frau, der man die kunstvolle Herrichtung für den vergangenen Abend noch ansieht. Mjamm.

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  3. Nils die Maus09.11.09, 17:54

    Ähnlich, aber bei weitem nicht ganz so schlimm, ist es mir widerfahren am Sonntagmorgen (4 Uhr):
    Ich muss irgendwie auf dem Heimweg von Dammtor hingefallen sein. Zumindest habe ich Schürfwunden an Handgelenk und Hüfte. Wobei mir die Schürfwunden eher wie welche von einem Teppich vorkommen. Aber wäre ich in meinem Zimmer hingefallen, würde da jetzt nicht mehr viel stehen. GP könnte sich solch Ausmaß ausmalen ...
    Ich habe mich mit dem Gedanken abgefunden, dass ich diese 30-60 Minuten meines Lebens nicht rekonstruieren kann ...

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  4. Sehr schöner Clip, Herr Ottoerich.

    Herr GP, Dein_Koenig: Das Foto, welches Sie einfordern, habe ich mich nicht getraut anzufertigen. Denn vielleicht hätte sich die Gruppe der Suffköpffe bemüßigt gefühlt, die Königin der Nacht zu „schützen“.

    Nils, Ihr Erlebnis finde ich WEIT schlimmer als meins. Hauptsächlich deshalb, weil meins überhaupt nicht schlimm war, sondern halt wie immer am Sonntagmorgen.

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  5. Nils die Maus09.11.09, 22:19

    Matt,
    ich habe das auch nicht direkt auf Sie bezogen, sondern mehr auf die von Ihnen beobachteten Gestalten. Und ich fühle mich mit der Wunde irgendwie wohl. Zumal ich ja immerhin die Gewissheit habe, dass nix Schlimmes passiert ist.
    Und irgendwie haben Wunden etwas extrem maskulines. So! Mal schauen, ob es jetzt wieder mit der Damenwelt klappt. Ich muss mir nur noch eine bahnbrechende Geschichte dazu ausdenken :D

    Als ich gestern bei Eckart von Hirschhausen im Tivoli war, ist mir nun endlich auch die Baustelle aufgefallen. Die haben ja den Tunnel abgerissen! Wo soll denn nun 365 Tage im Jahr der DJ Dean Birthday stattfinden? Ein Graus!

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