17 Oktober 2009

Mälzers brutale Wahrheit

Die meisten Restaurants, zumal die teuren, tun so, als sei das Essen im 21. Jahrhundert ein durchweg kultureller Akt. Alles, was diese Ästhetisierung eines existenziellen Triebs atmosphärisch trüben könnte, wird verborgen und versteckt.

Diese totale Verbrämung beginnt bei der verschleiernden Lyrik der Speisekarten (Christian Rachs Tafelhaus etwa offeriert gerade „Panaché von Meeresfischen“) und endet mit bisweilen hochdekorativen Arrangements auf dem Teller, die man versucht ist fotografisch zu verewigen (was ich in der Tat bereits getan habe).

Promikoch Tim Mälzer allerdings spielt dieses Spiel nicht mit. In seiner Bullerei in der Schanzenstraße wird man im Flur zwischen Restaurant, Bistro und Klo mit der brutalen Wahrheit hinter all dem Getue um die Ästhetik des Essens konfrontiert.

Dort hängen zwei original Tierhälften in einem grell ausgeleuchteten Innenschaufenster. Echte Leichen. Konservierte Todesangst. Tragödie, Panik, Untergang.

Das Rot des Fleisches scheint auf den ersten Blick zu rot zu sein, das Weiß von Sehnen, Fett und Rippen zu leuchtend – hat hier etwa der Präparator Gunther von Hagens unselig gewirkt?

Das könnte man denken, doch dann fällt der großäugige Blick auf den Boden unter der zerteilten Tierleiche. Da steht ein Metallbottich mit ausgelegter Alufolie, und dort hinein tropft Tropfen für Tropfen das restliche Tierhälftenblut.

Dieses makabre Arrangement holt dich augenblicks zurück auf den Boden der kulinarischen Tatsachen. Und wer danach seine Rinderhüfte mit Senf-Kräuterkruste noch guten Appetits verputzen kann, muss sich gewiss nicht mehr – zum Beispiel von Vegetariern – als Heuchler oder Eskapist beschimpfen lassen.

Wir haben übrigens heute Nachmittag bei Mälzer nur zwei Espresso getrunken. Aber es hingen ja auch nirgends grell ausgeleuchtete tote Arabicabohnen herum, aus denen irgendeine Restflüssigkeit tropfte, zugegeben.


16 Kommentare:

  1. Heuchelnde Eskapisten, ja, das passt. Wenn man deutsche und etwa französische Fleischauslagen an Marktständen oder Mezgereien vergleicht, sollte einem schon klar sein, wer mehr Leichen im Keller hat.

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  2. Wer denn? (Bin so selten in Frankreich.)

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  3. Dass das Aufhängen von zwei Rinderhälften heutzutage schon so bemerkenswert ist, finde ich seltsam. Aber heute darf ja anscheinend niemand mehr daran erinnert werden, woher sein Essen stammt. Daher finde ich die Aktion von Tim Mälzer richtig gut! Vor allem in Zeiten, in denen Mütter mit ihren Kindern beim Schlachter stehen und schon einen Kreislaufzusammenbruch erleiden, wenn sie das Geräusch beim Zertrennen eines Schweinerückens hören ... (um dann Rinderhack zu kaufen - mit dieser leicht angeekelten Mundpartie ;-)

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  4. Eine Entfremdung vom Essen ist in unglaublichem Maße eingetreten.
    Wir essen andere Lebewesen, da geht kein Weg dran vorbei. Und Vegetarier sind nicht die besseren Menschen, nur weil sie Organismen essen, die sich nicht wehren können. Pflanzen leben auch, und sind dann tot.
    Na gut, ich bin Biolehrerin. Und ich bringe immer Beipiele aus dem Schlachthof mit. Eigentlich reicht die Fleischtheke im Supermarkt völlig für Herz, Hirn, Nieren und ein paar Knochen.
    Herr Mälzers Idee ist übrigens genial. Aber ob ihm das in schnieken Hamburg mehr Gäste bringt, halte ich für fraglich.

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  5. In Frankreich bekommt man beispielsweise noch das ganze Tier, von Kopf bis Fuß, angeboten. Hier liegen zumeist nur noch die Filetstücke aus. Die können gar nicht nur von einem Tier stammen. Die "unappetitlichen Reste" gehen dann eben an die Kosmetikindustrie. Damit ist dieses "Problem" aus den Augen, aus dem Sinn und als kurzsichtiger Konsument kann man sich vermeintlich guten Gewissens im Spiegel ansehen, während man die reichhaltige Tagespflege aufträgt.

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  6. Sie tranken zwei Espressi, ja.

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  7. Dachte ich früher auch immer. Bis mir GP nachvollziehbar erklärte, dass man ja auch keine zwei „Biere“ trinkt. Und wissen Sie, was er hat? Recht.

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  8. Hatten die Tiere (oder das Tier - das ganze sieht einigermaßen symmetrisch aus) denn auch Namen und eine iPod-Biografie - auf Abruf ? Das gäbe doch eine persönliche Note, an der es heutzutage so fehlt.

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  9. Hasenvater18.10.09, 21:35

    Wenn es eine Erklärung dazu gibt, die auch noch nachvollziehbar ist, muss ich doch noch einmal nachhaken: Gibt es diese in digitaler und damit für mich einsehbarer Form?
    Ich trinke nämlich gerne und desöfteren mehrere Biere :) Aber vielleicht können Sie mich ja noch überzeugen und ich werde zukünftig nur noch eines trinken :P
    Nein, ernsthaft: Sie trinken ja auch zum Beispiel zwei Milchshakes, essen vier Bratwürste oder kaufen sich zwei Autos. Warum sollte im Falle des Espressos der Singular richtig sein?

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  10. Sagen wir es so: Der Singular ist AUCH richtig. Laut Duden-Redaktion geht „Espressos“ oder „Espressi“ ebenfalls.

    Auch ich hake noch mal nach: Wenn Sie in der Kneipe für sich und Ihre Freunde Bier bestellen, sagen Sie dem Ober dann „Fünf Bier, bitte!“ oder „Fünf Biere, bitte!“?

    Noch deutlicher wird es bei „Kaffee“. Oder ordern Sie wirklich „Kaffees“?
    Na bitte.

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  11. Das der Duden Espressi zulässt ist auch nicht wirklich pralle... Wenn hier schon jemand die Mehrzahl will, sollte zu Espressos gegriffen werden - nicht, weil es gut klingt, sondern weil wir reichlich Verwirrung bekommen würden, wenn wir plötzlich in fremden Sprachen deklinieren. Hab auch nix dagegen, wenn jemand dreizehn Espressi in einem Café bestellen will, nur im Duden hat es nix verloren...

    Ach, aber zum eigentlichen Thema: Ich denke, genau da geht der Trend doch wieder hin. Nicht nur beim Mälzer Tim, auch sonst. Raus auf den Ziegenhof, um ein halbes Tier zu kaufen, den Fond aus Knochen selbst kochen. Und Mälzer setzt es mit der Reifekammer (die es ja in vielen Restaurants gibt, nur eben ohne Glas) ziemlich gut um... Auch das schnieke Hamburg mag das. Schätze ich.

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  12. Ich glaub', ich muss erst mal 3 Espressis trinken, bevor ich das mit dem Deklinieren kapiere. Dann reiss ich mir 3 Haare aus und treffe zwei Popstare auf'n Kiez.
    Dirk

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  13. Ach, wie gerne wäre ich noch in der Lage, mir drei Haare ausreißen zu können … Neid!

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  14. Die Erklärung des Singular-/Pluralproblems bei Getränkebestellungen: In der ja um Exaktheit häufig durchaus bemühten deutschen Sprache gibt es einen Mengen- und einen Sortenplural. Der Mengenplural („Herr Ober, zwei Kaffee bitte!”) wird mit der Singularform gebildet. Im Gegensatz zum Sortenplural („Wir führen vier verschiedene Wässer”).

    Die Kunstform „Espressi” ist also in zweierlei Hinsicht unsinnig. Einerseits wird der falsche Plural gebildet und der Kellner müßte zusehen, wie er zwei unterschiedliche Sorten Espresso schnell herbekommt und zweitens ist auch noch die grammatische Form der Pluralbildung falsch, denn im Deutschen wird ja der Plural nicht auf -i gebildet.

    Star / Stare / Stars – ja nun. Hier gab es eben bereits ein Wort, welches abgegrenzt werden mußte.

    Und ganz nebenbei: Espresso heißt auf Deutsch übrigens... Kaffee. Und nichts anderes.

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  15. Das ist nicht Mälzers Idee, sondern die eines der ältesten Steakhäuser der Welt, dem Gallagher´s in New York. Dies betritt man durch einen verglasten Zugang durch das Kühlhaus. Damit man sofort weiß, wo/was man is(s)t.

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  16. @germanpsycho:

    Nein: caffé heißt auf Deutsch Espresso.

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