24 Juni 2010

Fundstücke (86): Frivole Flora



Kieztypische Freizügigkeit hin oder her:
Manche Bäume sollten Hosen tragen, echt.

Entdeckt am Elbpark.

23 Juni 2010

Besuch in der Herbertstraße



Heute betrat ich die sagenumwobene Herbertstraße, allerdings nur zum Besuch einer Bar- und Ausstellungseröffnung und sonst gar nichts.

Die Adresse lautete Herbertstraße 7. „Hoffentlich verwechsle ich nicht den Eingang“, hatte ich zum Abschied noch scherzhaft zu Ms. Columbo gesagt – und verwechselte dann auch prompt den Eingang nicht.

Allerdings wäre selbst das gar nicht so schlimm gewesen, denn die illustre Hurenschar, die hier normalerweise in den Fenstern sitzt und thematisch abgestufte Dienste offeriert – von Schmusekätzchen über Wuchtbrumme bis Peitschenfrau –, hatte sich vorsichtshalber in ihre Gemächer zurückgezogen angesichts der zu erwartenden Journalist(inn)en und des einen Bloggers (= moi).

Mit O-Saft und Prosecco
begossen wurde nämlich die Eröffnung der Kontaktbar Domenicas Lounge, wo diverse Fotos der legendären Sexdienstleisterin an den Wänden hängen und die Flasche Dom Perignon (warum eigentlich IMMER Dom Perignon?) 750 Euro kostet.

Sofern dem kontaktgeneigten Gast das zu hoch erscheint, kann er auch ausweichen auf Wodka für 150 den Liter oder einen Cappuccino für sagenhaft schmale 2 Euro. Alles darf, nichts muss.

Ich nutzte die einmalig kostengünstige Gelegenheit, um einen benachbarten und wie gesagt verwaisten Hurenpräsentationsraum aufzusuchen (Foto oben), weil man so was sonst immer nur von außen sieht und ethnologisch-kiezkulturelle Aspekte unbedingt für eine nähere Inaugenscheinnahme sprachen.

Erstes Fazit: Alles ist immer rot. Übrigens auch die Wände von Domenicas Lounge und sogar der Schirm im … hüstel … Ständer.

Unter den Gästen waren diverse altgediente Kiezianer, und dementsprechend verliefen auch die Dialoge. Einer erzählte von seinem Vater, der im Krieg in Frankreich stationiert war und den Nazigrößen Prostituierte zuführen musste.

„Mein Vater“, erzählte er, „konnte nämlich Französisch.“ Rückfrage des etwa gleichalten Günter Zint: „Auch die Sprache?“

Nur wenige Meter entfernt von der neuen Bar saß übrigens Domenica einst im Fenster und buhlte um devote Kunden. Der verwaiste Stuhl, der heute dort zu sehen war, verströmte eine gewisse Melancholie und schien zu flüstern: Alles ist endlich, auch die Liebe und die Lust.

Obwohl die Liebe sicherlich nur sehr selten vorbeischaute in der Herbertstraße 7. Wenn überhaupt.

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22 Juni 2010

Fundstücke (85)



Ein babyblauer Uraltkäfer mit aufgeschnallten Skiern im Frühsommer mitten auf dem Kiez – wtf?


21 Juni 2010

Ein Werk von schieferer Bedeutung



Auf dieses beeindruckende Beispiel für Kunst im öffentlichen Raum stieß ich am Wochenende in Altona.

Das raffiniert vernetzte Strich- und Linienmuster mit dem markanten Winkel von 91 (sic!) Grad oben rechts (sic!!!) soll offensichtlich die inzwischen überholte Idee des Räumlichen mit deutlich empörtem Duktus aufs zweidimensional Flächige herunterbrechen und klassische Künstlerpositionen als zerschredderten Kommunikationsprozess in den (gerade abgeschafften!) „Raum“ stellen.

Affektive und transformierende Motivation der die Funktionalität von Le Corbusiers Tapetencolorierungen noch einmal insistierend untermauernden Arbeit ist zweifellos eine neue Ethik des Mit- und vor allem Gegeneinanders, in deren atemberaubend wagemutigem Rostrot eine latent lauernde Gewaltsymbolik „aufgehoben“ ist, deren radikal kapitalismuskritische Sprengkraft erst bei Kunstlicht frappant zutage tritt.

Vielleicht interpretiere ich aber auch einfach zu viel hinein in diese Fahrspuren von Palettenwägelchen im Mercado zu Ottensen.

20 Juni 2010

Freiheit für Herrn Hugs!



Am Hamburger Berg, der kneipengespickten Hauptsaufzone all jener Kiezbesucher, die an käuflichen Damen weniger Interesse haben als an einem gut gezapften Astra, sitzen drei Tauben auf dem Gehweg und picken behaglich in einer großen Lache Erbrochenem.

Diese Tiere sind sich einfach für nichts zu schade, und ich bin heilfroh, dass sie unseren Balkon dank des aufgespannten Netzes nun praktisch nicht mehr besuchen können mit ihren kleinen stinkenden kotzegesprenkelten Schnäbeln.

Die Begegnung mit dem ekelresistenten Taubentrio hatte ich auf dem Weg zum Flohmarkt in der Wohlwillstraße, wo an einem der Stände eine patente Blondine kostenlose Umarmungen anbot – ein Service, der anscheinend nicht der Knaller des Tages war, denn einem Bekannten, den sie gerade herzte, als ich vorüberging, sagte sie: „Du bist erst der zweite!“

Dabei war die Frau keineswegs das Musterbeispiel einer knollengesichtigen Vettel, der man intuitiv die Schuld an der taubenverzaubernden Lache am Hamburger Berg in die Schuhe geschoben hätte. Vielleicht wusste einfach die Mehrzahl der Passanten nicht, was unter „free hugs“ zu verstehen sein sollte.

Angesichts der politisch stets hochmotivierten Kiezbewohnerschaft hätte sich dahinter ja auch die Aufforderung an irgendeinen US-Gouverneur verstecken können, einen gewissen Herrn Hugs endlich aus dem Gefängnis zu entlassen, vergleichbar mit dem Fall Mumia Abu-Jamal. Befreit Herbert Hugs! Er sitzt schon viel zu lange in der Todeszelle!

Temporärer Themenwechsel: „Fick dich in den Arsch, du Hurensohn!“, soll der Fußballspieler Nicolas Anelka nach Angaben französischer Medien sinngemäß zu seinem Trainer gesagt haben, und obwohl diese Aufforderung selbst für einen Nationalcoach physisch nur sehr schwer umzusetzen ist, also ganz offensichtlich scherzhaft gemeint war, musste der Spieler sofort nach Hause fahren.

Anelka hätte dem Trainer statt des missverständlichen Imperativs besser einen „free hug“ anbieten sollen. Aber hinterher ist man ja immer schlauer.

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19 Juni 2010

Fundstücke (84)



Diese haushohe Werbefläche, die uns seit einigen Wochen anschreit, wenn wir den Balkon betreten, passt heute plötzlich noch besser als gestern.

Hinter Michael: der Michel,
schemenhaft, stoisch und ganz und gar kickabhold.


18 Juni 2010

Schland ist gar nicht schlimm



Kaum geht die WM los, schwenken die Fans Flaggen in den deutschen Landesfarben und fahren sie an Autofenstern spazieren. Und kaum passiert das, kriegen manche Linke einen automatischen Beißreflex, der Plakate wie das abgebildete hervorbringt (Dank an Miele, der mir das Foto mailte).

Sie zeigen damit allerdings nur, wie verknöchert sie inzwischen sind. Sie sind selbst längst – auch wenn sie jung sind – zu Ewiggestrigen geworden, die gar nicht mehr merken, wie gegenstandslos ihr Eifer längst ist, wie grandios er ins Leere läuft.

Das war natürlich mal anders. Wer in den 50er und 60er Jahren die Fahne schwenkte, tat das meist zur Bemäntelung seiner braunen Vergangenheit – weil er die schwarz-weiß-rote Nazifahne nun mal nicht mehr schwenken durfte. Zurecht wandte sich die APO damals gegen das neue Staatssymbol, weil das, was ihm voranging und sich nun schwarz-rot-gold bemäntelte, noch lange nicht verarbeitet und überwunden war.

Doch was damals der Verschleierung der eigenen Vergangenheit diente, ist im Lauf der vergangenen drei, vier Jahrzehnte – oh Wunder – zum Symbol der längsten Phase parlamentarischer Demokratie in der deutschen Geschichte geworden. Wer heutzutage Schwarz-Rot-Gold schwenkt, huldigt damit – sofern er es überhaupt politisch meint – höchstens den Adenauers, Erhards, Schmidts und Merkels, ob er sie nun gewählt hat oder nicht.

Er zeigt damit demokratische Gesinnung – also das, was den Neonazis so immens zuwider ist. Deshalb sieht man auf Demos der Rechten auch niemals Schwarz-Rot-Gold, sondern immer nur Schwarz-Weiß-Rot, natürlich ohne Hakenkreuz, man will ja nicht in den demokratischen Knast …

Wenn die verknöcherte Linke sich nun aufregt über das Herzeigen eines demokratischen Symbols, zeigt sie damit nur, wie wenig sie die Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland begriffen hat und wie sehr sie noch in den Denkmustern der APO steckengeblieben ist.

Natürlich nichts gegen die APO: Sie war unabdingbar für die Austragung des Generationskonfliktes, der durch die personale Kontinuität nach Ende des Hitlerregimes unausweichlich wurde. Ihre Relevanz in den 60ern und 70ern ist unbestritten. Doch die Zeiten haben sich geändert.

Und gerade deshalb ist es geradezu tragisch, wie jene, die sich einst zurecht als fortschrittlich betrachteten, plötzlich zu Ewiggestrigen werden; zu Linken, deren politisches Lebenselixier offensichtlich die Schimäre eines Nationalismus ist, die sie weiter aufrechterhalten müssen, um selbst nicht unterzugehen.



Diese Ewiggestrigen brauchen die Nazis – oder zumindest etwas, das sie für naziähnlich halten; und sie brauchen bedingungslos die Illusion, Schwarz-Rot-Gold sei automatisch naziähnlich. Sie brauchen diese Lebenslüge, um ihre eigene Existenz weiter rechtfertigen zu können.

Deshalb ist die Realität ihr größter Feind. Die Realität, die da lautet:

a) Die schwarz-rot-goldene Fahne steht für Demokratie, nicht für Nationalismus.
b) Jene, die momentan die Fahne schwenken, meinen nicht mal einen demokratischen Nationalstaat, sie meinen eine Fußballmannschaft.

Diese Mannschaft ist übrigens längst geprägt von einer bunten Palette von Einwandererkindern, für deren Integration und Deutungshoheit die APO in den 60ern leidenschaftlich auf die Barrikaden gegangen wäre. Fast die Hälfte des aktuellen Kaders besteht nämlich aus Spielern, von denen mindestens ein Elternteil nicht aus Deutschland stammt, sondern aus:

Polen (Klose, Podolski, Trochowski), Türkei (Özil, Taşçı), Spanien (Gomez), Brasilien (Cacau), Tunesien (Khedira), Ghana (Boateng), Bosnien und Herzegowina (Marin) oder Nigeria (Aogo).


Den organischen Zusammenhang von schwarz-rot-goldener Fahne, parlamentarischer Demokratie und multikultureller Integration wollen die Ewiggestrigen allerdings nicht begreifen. Auch nicht, dass jene, die momentan Flaggen schwenken, längst eine angenehm ironische Distanz zu diesem Symbol haben.

Sogar die despektierliche Kurzform „Schland“ für Deutschland ist längst okkupiert, ironisiert und so mit einem nachsichtigen Lächeln eingemeindet worden. Und würde ein echter Nationalist seinem Dackel (oder was immer das ist) dieses lächerliche schwarz-rot-goldene Halsband umschnallen?



Deshalb eine Bitte an die Pawlow’schen Hunde: Kämpft gern gegen die Nazis – aber bitte nicht gegen jene, die das Symbol parlamentarischer Demokratie zur Unterstützung eines Fußballteams „missbrauchen“, welches auch noch auf bestmögliche Weise Aggressionen sublimiert, die früher nur auf dem Schlachtfeld abzubauen waren.

Ich habe heute beim Fanfest übrigens eingedenk des oben abgebildeten Plakats („unverkrampfte Deutsche stinken“) mal an ein paar einschlägig vorbelasteten Fahnenträgern geschnuppert, also vor allem an Spaniern, Argentiniern, Griechen, Japanern, Italienern und natürlich Deutschen.

Und siehe da: Sie müffelten alle ähnlich. Nämlich nach Bier, Schweiß oder Tränen – doch nie nach brauner Soße.

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17 Juni 2010

Fundstücke (83)



1.
In der 1976er Erstauflage des rororo-Taschenbuchs „Hasenherz“ von John Updike (das man übrigens hier skandalöserweise für nur einen Cent kaufen kann, um mal unauffällig an den Beitrag von gestern anzuknüpfen) findet sich auf Seite 260 (und ausschließlich auf Seite 260!) eine derartige Häufung absurdester Tippfehler, dass als Erklärung nur ein Sabotageakt des Setzers in Frage kommt. Wenn Sie das hier lesen, Mister X: Bitte sagen Sie uns, warum Sie das getan haben. Es interessiert mich wirklich! Zumal wir dann gemeinsam klären könnten, was ein „Scamag“ ist; die
Sächsische Cartonnagen-Maschinenfabrik in Dresden können Sie ja kaum gemeint haben. Entdeckt hat den vogelwilden Buchstabensalat Ms. Columbo.



2.
Nirgendwo wäre diese Zierpalme deplatzierter gewesen als vor dem durch sie hervorragend verdeckten Wegweiser im Gesundheitsamt Altona. Glückwunsch an den unbekannten Strategen, der diese nicht einfach zu findende Stelle mit traumhafter Sicherheit ausfindig machte.

3.
Nicht vergessen: Wir leben heute im gloriosen Morgen von vorvorgestern – und in der guten, alten Zeit von übermorgen. (Jaja, das habe ich bestimmt schon mal getwittert.)

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16 Juni 2010

Der Verfall des Euro ist unaufhaltsam



Okay, w
as macht man mit einer alten, aber tadellos erhaltenen Musik-DVD, die man nicht mehr haben will? Richtig: auf Amazon verkaufen.

Ich schaue mir also an, für wieviel Euro sie gebraucht dort angeboten wird, und stelle sie ein – für einen Cent weniger als das bisher niedrigste Angebot, nämlich 9,37 Euro. Schlau.

Wenige Stunden später bietet sie jemand für 9,36 an. Ich unterbiete. Er auch. Irgendwann wird’s mir zu umständlich, und ich senke den Preis um einen vollen Euro ab. Er um einen Euro und einen Cent.

Das Spielchen geht eine ganze Weile so weiter. Irgendwann liegen wir zwei Turteltäubchen bei 2,33 Euro, was ein verdammt niedriger Preis ist für diese tolle DVD – zumal der Rest der Amazon-Gemeinde das Ding nur für mindestens 5,80 Euro herausrücken würde.

Mein Konkurrent – ein Händler, der schon fast 40 000 Bewertungen hat – holt irgendwann zum großen Schlag aus und drückt das Ding in einem Anfall kapitalismusfeindlichen Wahnsinns auf 75 Cent. Jetzt reicht’s mir: Ich gehe antizyklisch hoch auf 5,79 Euro. Soll er sein Exemplar doch unbehelligt verramschen, mir doch egal.


Einen Tag später taxiert er es auf 5,78.

Das Spiel geht von vorne los, der spiralige Countdown nimmt erneut Geschwindigkeit auf. Bei 2,27 lasse ich ihn wieder hängen und springe erneut auf 5,79. Ich muss nicht erwähnen, wie er reagiert.


Inzwischen macht mir das Spiel Spaß. Fast würde ich es bedauern, wenn irgendjemand meine DVD kaufen würde; dabei habe ich nun wirklich keine Verwendung mehr dafür.

Eine neue Runde wird eingeläutet. Zug um Zug geht es auf altbewährte Weise wieder nach unten, die Sprünge abwärts werden immer größer, und irgendwann werfe ich ihm einen Brocken vor die Füße, den er nicht mehr schlucken wird: 14 Cent.

14 Cent also, für eine neuwertige DVD ohne Makel, von einem der größten Rockstars aller Zeiten. Das ist schon kein Schnäppchen mehr, das ist obszön, das ist nicht mehr zu verantworten, vor allem nicht gegenüber der Dritten Welt.

Abends schaue ich rein und sehe sein Gegenangebot: 13 Cent.

Meine Selbstsicherheit ist schlagartig wie pulverisiert. Guckte ich in den Spiegel, ich wäre sicherlich leichenblass. Mir bleibt jetzt nur noch eins: Mit zitternden Fingern klicke ich auf – „kaufen“.

Jetzt habe ich zwei Exemplare einer DVD, die ich schon als Einzelstück unbedingt loswerden wollte. Irgendwas ist hier schrecklich schiefgelaufen, und ich werde wohl ewig darauf sitzenbleiben. Denn eins ist sicher: Niemand auf der ganzen weiten Welt wollte dieses Teil erwerben, selbst für lausig-lachhafte 13 Cent nicht.

Nur ich. Und selbst das nur aus den falschen Gründen.

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15 Juni 2010

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (29): Fanfest, Heiligengeistfeld



Man könnte meinen, es ginge um ein Autofestival, übertragen vom NDR.

Doch wenn man genau hinschaut, wenn man die Automodelle links und rechts der Bühne wegblendet und die Markenlogos erst recht, dann dämmert einem irgendwann, dass all das übertüncht werden soll, doch
auf durchschaubarste Weise.

Sponsoring funktioniert im besten Fall wie jener Parasit, der sich im Hirn der Schnecke einnistet und irgendwann so groß wird, dass er ihren Willen umprogrammieren kann. Dann tut die Schnecke nur noch das, was das Überleben des Parasiten sichert – und stirbt dabei.

Das Spiel endete übrigens 1:1, aber ich habe nicht mal mitgekriegt, dass Italien den Torwart ausgewechselt hat.


14 Juni 2010

Endlich kein Auto mehr!



Vier Wochen lang haben wir das Auto von A. gehütet, der in den USA weilte. Eine gute Gelegenheit, das schöne Wetter auszunutzen und mal schnell an die Ostsee zu sprinten, nach Travemünde.

Während dieser Fahrt wurde mal wieder auf sehr nachhaltige Weise deutlich, warum es ein Segen ist, sich schon vor vielen Jahren vom Konzept des Individualverkehrs komplett verabschiedet zu haben.

Zuerst nämlich standen wir im Stau wegen einer Baustelle. Als ich ordnungsgemäß auf der linken Spur bis nach vorne fuhr, um mich am Ende einzufädeln, wurde ich nicht reingelassen, sondern ersatzweise von Fahrern auf der Mittelspur mit unflätigsten Gesten beleidigt.

Endlich in Travemünde angekommen, fand ich zunächst keinen Parkplatz. Nach diversen Ehrenrunden wurde ich fündig, hatte aber nicht an Kleingeld für den Parkautomaten gedacht.

Die folgende Stunde des Herumbummelns am Strand wurde ergo unablässig von der gedanklichen Möglichkeit eines Knöllchens beeinträchtigt. Allerdings grundlos, wie sich herausstellte – was mich a posteriori umso mehr ärgerte, denn dann hätte ich mich auch nicht eine Stunde lang
prophylaktisch sorgen und grämen müssen.

Auf der Rückfahrt tapste ich in einer 40-km/h-Zone in eine trickreich versteckte Radarfalle, allerdings noch vor dem einstündigen Stau, der mir immerhin den Anblick eines komplett ausgebrannten Mercedes-Cabrios ermöglichte (der Höhepunkt des Tages).

Zurück auf dem Kiez fand ich natürlich keinen Parkplatz, weshalb ich zur Davidwache musste, um mir einen Besucherparkschein zu besorgen, der den Parkradius erweiterte. Ich stellte das Auto schließlich am Hamburger Berg ab, wo es in ständiger Gefahr schwebte, von Irren, Schlägern, Betrunkenen oder Junkies zweckentfremdet zu werden.

Der folgende Tag wurde ergo unablässig von der gedanklichen Möglichkeit einer Beschädigung beeinträchtigt. Allerdings grundlos, wie sich herausstellte – was mich a posteriori umso mehr ärgerte, denn dann hätte ich mich auch nicht einen ganzen Tag lang prophylaktisch sorgen und grämen müssen.

Zum Glück kommt A. heute zurück. Dann hat er seinen Wagen wieder an der Backe, und wir dürfen uns wieder dem sorglosen automobillosen Leben widmen. Dafür nehme ich von Herzen gern ein paar Punkte aus Flensburg entgegen, die bis zur nächsten Fahrt sicherlich längst verfallen sein werden.

Allerdings gibt es zumindest einen großen Vorteil dieses Rückfalls in den Individualverkehr: Ich kann mal wieder ein Travemündefoto posten, und zwar nicht nur aus reiner bösartiger Willkür.

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12 Juni 2010

(K)Ein teurer Spaß



Ich kann es wirklich nur empfehlen: nach Hause zu kommen und zu erzählen, die Vuvuzelatröte, die man stolz in der Hand hält, sei ein unwiderstehliches Schnäppchen gewesen („Nur acht Euro!“).

Ein solches Vorgehen erzeugt erstaunliche Effekte. So konsterniert habe ich nämlich Ms. Columbo selten gucken sehen. Und auch die unweigerlich folgende, mit Empörung kontaminierte Fassungslosigkeit („ACHT Euro????“) ist es allemal wert, diesen Spaß in die Wege geleitet zu haben.

In Wahrheit verschenkt Edeka diese Dinger natürlich. Wofür man den Laden teeren und federn müsste.

PS: Das Foto zeigt das Auge im Herzen des Vuvuzelasturms.

PPS: Ähm, was mach ich eigentlich jetzt mit dem Ding? Gelber Sack?

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Die Ruhe vor dem Anpfiff

Freitagmittag auf dem Heiligengeistfeld war das größte Fanfest der Republik noch nicht viel mehr als Wille und Vorstellung. Grund genug, die Ruhe vor dem Sturm zu dokumentieren, fotografisch.



Mittags herrschte zwischen Rollstuhlfahrern und Sicherheitsleuten noch ein Verhältnis von 1:1. Dass später auch das Eröffnungsspiel so ausgehen sollte, konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnen.



Der Dönerstand versucht an eine vom Besitzer wohl als typisch verstandene anatolische Machokultur anzuknüpfen. Irgendetwas sagt mir allerdings, dass er damit signifikant weniger Frauen an seine Bude locken wird.



Der Deutschlandpavillon hat sich etwas unglaublich Originelles ausgedacht: eine schwarz-rot-gelbe Sitzgruppe. Die verschüchterte weiße Tischsimulation in der Mitte muss sich fühlen wie der Gazastreifen.



Der von Vorschriften eh geknechtete Kiez begrüßt herzlich einige neue Verbote – darunter Menschen, denen die rechte Hand abbröckelt (u. l.) sowie trichterförmige Tröten. Und womit? Ganz genau.

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11 Juni 2010

Healthy dying



Vor gut drei Jahren signalisierte der von mir exklusiv entdeckte und statistisch frappierend signifikante Fitnessclubindikator das baldige Ende der Zeitschrift „Healthy living“.

Doch erst heute gab der Verlag das Dahinscheiden des Magazins bekannt – „healthy dying“ sozusagen. Mit seiner Mischung aus Gesundheitstipps (= clever) und Geistheilerinnenporträts (= bescheuert) konnte es am Ende selbst Eppendorfer Esotanten nicht mehr aus ihrem zweiten Wohnzimmer locken, dem Demeterladen.

Bin gespannt, welches Medium als nächstes im Fitnessclub ausliegt und so unweigerlich die Ankündigung seines baldigen Endes in die Welt hinausschreit. Ich werde sie, die Welt, jedenfalls auf dem Laufenden halten.

Genauso wie über die Situation auf dem Kiez natürlich, wo neuerdings auf empörende Weise behördlich aufgestellte Einbahnstraßenschilder verunziert werden.

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09 Juni 2010

Matjes satt, mit allen Konsequenzen



Erstmals seit unserem Umzug nach Hamburg besuchen wir das Matjesfestival in der Fischauktionshalle am Hafen. Das ist so was wie das Okoberfest, nur auf nordisch. Auf extrem nordisch.

An unzähligen Bierbänken sitzen Tausende feierwilder Dickbäuche und der Ondulation verfallener Damen mittleren Alters, die durch eine obere Körperöffnung Bier und Kümmelschnaps in sich hineinschütten, um den unablässig verspeisten Matjesmassen, die das Büffet ohne jede Mengenbegrenzung bereithält, den Aufenthalt im Innern ihrer wogenden Leiber heimeliger zu gestalten – Fisch muss schließlich schwimmen, nöch.

Während sich die Menge dergestalt verlustigt, treten Klaus & Klaus auf und singen Sufflieder, die über strategisch ebenso klug wie fatal verteilte Lautsprecherboxen mit Brachialgewalt auf die Bierbänke geblasen werden. Auch auf unsere. Wir können uns quasi nur noch mit Gesten verständigen.

Klaus & Klaus singen Sachen wie „Da wird die Sau geschlacht’!
Die Sau! Da wird die Wurst gemacht! Die Wurst!“, und als ich nach nur zwei Strophen matjesmampfend mitzugrölen beginne, schaut mich Ms. Columbo an, als sähe sie mich zum ersten Mal in ihrem Leben. „Kennst du das etwa?“, fragt sie irritiert; zumindest glaube ich das von ihren Lippen ablesen zu können. „Jetzt ja!“, brülle ich zurück und suche ein weiteres Mal das Büffet auf.

Inzwischen hat Karl Dall die Bühne betreten. „Diese Scheibe ist ein Hit!“, ächzt Glubschauge seinen Uraltsong, der ein gutes Beispiel für eine selbsterfüllende Prophezeihung war, jedoch hier in der Fischauktionshalle eher reserviert aufgenommen wird. Nicht nordisch genug. Viel geiler kommt da doch der „Hamburger Veermaster“, den Ina Müllers Shantychor, der physiognomisch erstaunlich genau das Bierbänkepublikum imitiert, uns mit soviel Inbrunst um die Ohren haut, dass die Zwiebelringe auf meinem Teller das große Zittern kriegen.

Erstmals gestehe ich mir beim Hören des Songs ein, dass ich mich unbewusst schon immer an der Länderbezeichnung „Californio“ gestört habe. Eine Wortverbiegung um des Reimes willen; das tut man nicht, es sei denn, man heißt Erika Fuchs („Dem Ingeniör ist nichts zu schwör“), dann darf man alles.

Inzwischen singen immer mehr Matjesfestivalbesucher lauthals mit, und wir sind bei der Roten Grütze gelandet. Natürlich nicht ohne Kümmelschnaps als Bindeglied zwischen Matjes und Dessert. Als wir kurz darauf mühsam den Berg Richtung Reeperbahn erklimmen, sind wir um 12 Fische schwerer (das Verteilungsverhältnis erläutere ich hier lieber nicht).

Unterwegs begegnen wir zwei ägyptischen Geschäftsleuten beim HVV-Planstudium. Sie suchen die Mönckebergstraße. „But why? The shops are all closed“, wundere ich mich mit einer Leutseligkeit, die ohne die Tatsache, vorhin „Da wird die Sau geschlacht’! Die Sau!“ gegrölt zu haben, kaum denkbar gewesen wäre.

„We just want to look where it is“, erklären die Ägypter lächelnd, „to come back tomorrow.“ Da sie nicht wissen, wie sie zur nächsten S-Bahn-Station kommen sollen, um von dort aus in die verwaiste Mö zu fahren, nehmen wir sie unter unsere Fittiche und geleiten sie zur Reeperbahn.


Die beiden freuen sich, dass ich Mohamed Zidan kenne, den Stürmer von Borussia Dortmund. „Great player“, lobe ich höflich, obwohl mir Zidans unerklärliche Formschwäche während der HSV-Zeit noch gut in Erinnerung ist, und erwähne seine vereinsübergreifende Treue zum Trainer, dessen Namen mir allerdings matjes-, bier- kümmelschnaps- und rotegrützebedingt just nicht einfallen will.

„Jurgen Klopp!“, juchzen die Ägypter unisono. Und das krönt diesen Abend, der mindestens so schräg war wie Steve Buscemi in „Fargo“.

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08 Juni 2010

Kleines Missverstanding



Matt
: Guten Abend, ich habe eine Frage zu Ihrem Begrüßungsangebot.
Nespresso: Sie meinen die welcome offer?
Ms. Columbo (aus dem Hintergrund): Du musst dich schon präzise ausdrücken!

06 Juni 2010

Fundstücke (82)



Nö.



Falls es nicht entzifferbar sein sollte, wie das liebreizende Maklerbüro Limberger seine kühne These „Kapitalanlage mit Zukunft!“ begründet, obwohl das Objekt zurzeit bewohnt ist: Unten rechts verweist es auf die „92-jährige Mieterin“ … Entdeckt im Aushang der ebenfalls liebreizenden Deutschen Bank in der Eppendorfer Landstraße.



Hätte der Ölteppich vor Louisiana seinen Ausgang in Hamburg genommen, sähe er jetzt so aus. Entdeckt dank The Maastrix.

05 Juni 2010

Das blinde Gesicht

Kollegenschelte ist ja immer unfein. Deshalb deklariere ich das Folgende lieber als „Tipps“.

Also, lieber Christoph Forsthoff von der Mopo, sollten Sie dereinst noch mal über Eric Clapton berichten dürfen, dann nennen Sie ihn im Text besser nicht „Erik“. Und sein Spitzname ist „Slowhand“, nicht „Flow Hand“.

Zudem sollten Sie das Wort Gefährten nicht mit d schreiben, sonst gefährden Sie Ihren Ruf. Und „arkustisch“ ist zwar eigen, gebe ich zu, doch ohne r wirkt es massenkompatibler.

Claptons Band mit Steve Winwood, lieber Herr Forsthoff, hieß übrigens Blind Faith und keineswegs und unter gar keinen Umständen „Blind Face“. Sollten Sie mit dieser Neuschöpfung allerdings einen Killerspitznamen für sich selber kreieren wollen, dann könnten Sie damit durchaus erfolgreich sein.


Wenn Sie (also Sie Blogleser, nicht Herr Forsthoff) mich jetzt fragen, warum ich die Mopo überhaupt immer mal wieder kaufe, wo ich ihre eigenwillige Verwendung der Sprache doch schon seit längerem verbesserungswürdig finde, dann sage ich Ihnen klipp und klar:

keine Ahnung.

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04 Juni 2010

Von Zehen und Fingern



Vergangenes Wochenende moderierte Peter Urban
noch die sensationelle Grand-Prix-Übertragung aus Oslo, und heute stieg er mir auf den linken kleinen Zeh. Aber nicht mit Absicht, er hat es wahrscheinlich nicht einmal gemerkt. (Sonst hätte er sich ja entschuldigt.)

Nein, Urban wollte beim Konzert von Eric Clapton und Steve Winwood in der O2-Arena einfach nur den Sitz neben mir aufsuchen, und dabei passierte es. Irgendwie logisch: Schließlich saßen wir in der „Penalty Box“, wo bei den Eishockeyspielen der Hamburg Freezers die Strafzeiten abgebrummt werden. „Hoffentlich werden wir nicht eingewechselt“, witzelte Ms. Columbo.
Dazu kam es in der Tat nicht.

Mein kleiner Zeh ist übrigens trotzdem nicht größer als vorher, denn der Urban ist eher ein Leichtgewicht. Im Gegensatz zu Eric Clapton, dem sie vor über 40 Jahren sogar unterstellt hatten, Gott zu sein. Und weiß Gott: Der Mann spielt noch immer Gitarre, als würden um Mitternacht die Kapodaster verboten. Er muss auch groteskerweise nie hingucken, das machen diese wuseligen Clapton-Finger alles von alleine. Dass er nicht hingucken muss, demonstriert er mit einem gewissen Stolz, der leicht ins Eitle lappt, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.

Ich jedenfalls tat genau das Gegenteil, nämlich die ganze Zeit auf den Großmonitor starren, um hinter das Geheimnis seines geradezu obszön flüssigen Solierens zu kommen; und jedesmal, wenn der unsensible Liveregisseur Claptons Wunderfinger wegblendete, bekam ich einen Hals.

Aus Gründen einer Schlusspointe würde ich jetzt am liebsten sagen: Peter Urban ging es mit Sicherheit genauso. Doch das ist reine Spekulation.


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03 Juni 2010

Bullenwillkür!



Wir sitzen unter den Palmen überm Hafen und trinken das erste Frühlingsbier im Freien, während die Aida Luna lautlos vorüberzieht mit ihrem doofen infantilen Kussmund und die junge Punkerin vor uns einen weißen Kuli durch die Finger wandern lässt und routiniert Rosé aus der Flasche trinkt.

Eine Szenerie von bezirzender Friedlichkeit. Doch plötzlich tauchen drei Polizisten in bedrohlichem Schill-Gedächtnis-Schwarz auf und umstellen die Frau. „Personenkontrolle“, sagt einer, „bitte kommen Sie mal mit.“

Die Punkerin trägt rosagrüne Haare und mehr als ein halbes Dutzend Piercings im Gesicht, vier davon in Unter- und Oberlippe. Sie steht grinsend auf, packt ihre Sachen und geht mit.

Am Rand der Rasenfläche bleiben alle stehen. Die Polizisten wühlen in ihrer Tasche, durchsuchen die Jacke und lassen sich den Ausweis geben. Unter den Palmen regt sich ein erstes vernehmbares Murren. Was hat sie denn getan? Nüscht. Bullenwillkür!

Die Frau kommt zurück, setzt sich wieder und nippt behaglich am Rosé. Sie ist die Ruhe in Person. „Was war denn los?“, frage ich sie.

„Ach“, lächelt sie durch alle vier Piercings hindurch, „die suchten nach Drogen. Und mein Kuli sah halt aus wie ein Joint.“

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02 Juni 2010

Geschmacklos



Also ich weiß ja nicht, ob man als Mercado-Fressbude die hungrigen Massen mit dem Killerslogan „Alle Gerichte sind ohne Geschmack“ an die Töpfe lockt.

Und was bedeutet bloß das zusammenhanglos dahintergeklatschte Wort „Verstärkel“? Wenn man schon chinesisch eingefärbtes Deutsch parodieren möchte, wie es wohl beabsichtigt war, dann hätte man auch konsequenterweise „Velstälkel“ schreiben müssen.

Am Ende folgt unversehens noch ein aus der Hüfte geschossenes „Glutamat“ ohne jeden Sinn und Verstand.

Also ich geh da nicht essen.



31 Mai 2010

Wie die Faschisten mit meiner Hilfe doch noch ihr Fett abkriegten



Micah P Hinson kommt aus Abilene, Texas, und er sieht aus wie der gemeinsame Stiefbruder von Woody Allen, Alfred E. Neumann und Elvis Costello: ein dürrer Bursche mit Segelohren und übergroßer Hornbrille.

Außerdem ist er einer meiner liebsten Singer/Songwriter überhaupt, was allerdings keine Mehrheitsmeinung ist, sonst wären heute Abend kaum nur rund 20 Leutchen ins Beatlemania-Museum an der Reeperbahn gekommen, um Hinson spielen zu sehen.


Besonders bewegend finde ich seinen Song „Dying alone“, den er für seine Frau schrieb, die während seines Vortrags still am Fenster saß und sich am Ende des Stücks gewissermaßen selbst beklatschte.


Leider war ich später die Ursache für einen kleinen Disput zwischen den Eheleuten, als ich Hinson fragte, ob der Slogan auf seiner Gitarre wirklich „This machine kills facists“ heißen solle, wobei mir die Vokabel „facist“ völlig unbekannt sei (was aber ü.b.e.r.h.a.u.p.t. nichts heißen will).


Er bekannte, natürlich „fascists“ gemeint zu haben, doch seine Gattin für die Verschriftlichung des Slogans zuständig gewesen und somit verantwortlich für das fehlende s sei. Dann wandte er sich an die Frau, für die er „Dying alone“ geschrieben hatte, und beklagte sich über den Rechtschreibfehler (den er aber ehrlich gesagt auch selbst hätte bemerken können), ehe er sich wieder mir zuwandte, um mir seinen aufrichtigen Dank auszusprechen.


Wenn also bei den
nächsten Hinson-Konzerten, für die ich hiermit eine dringende Besuchsempfehlung ausspreche, der klassische Woody-Guthrie-Spruch korrekt geschrieben auf seiner Gitarre auftaucht und er damit den Faschisten europaweit die Hölle heiß macht, dann ist nur einer dafür verantwortlich: moi.

Und das macht mich „ein Stück weit“ (M. Sammer) stolz.


PS: Da es „facist“ im Englischen (noch) nicht gibt, würde ich hiermit gerne eine Neueinführung initiieren, und zwar mit der Bedeutung „Hackfresse“.


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30 Mai 2010

Lenamanie vor der Haustür



Noch immer schwappen große Wellen Kakophonie ins Wohnzimmer.

Einzelne Elemente sind herausdestillierbar: brüstungerschütternde Bässe, Choräle euphorisierter Betrunkener („Lena, we love you!“ im Wechsel mit „St. Pauli, o-ho-ho!“), indifferentes Gegröle ohne genau bestimmbare Semantik, wildes Wut- und Empörungshupen sowie die Hysterie multipler Notarztsirenen.

Mehrfach im Jahr ist es von besonderem … äh … Reiz, neben dem Spielbudenplatz zu wohnen, doch wenn „wir“ gerade den Eurovision Song Contest gewonnen haben, dann halten auch doppeltverglaste Isolierfenster nur den gröbsten Krach draußen.

Wir sind also jetzt Papst, wir sind 1. Liga, und wir sind Lena. Auf die ein oder andere Weise manifestiert sich so ein Wirgefühl immer besonders heftig auf dem Kiez (außer beim Papst, natürlich). Eigentlich sollte ich jetzt rübergehen, mitten hinein ins Herz der Kakophonie. Einfach damit ich meinen Enkeln später mal erzählen kann, ich sei dabeigewesen.

Moment mal: Ich hab ja nicht mal Kinder.


Trotzdem.

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28 Mai 2010

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (28): Reeperbahn 1



Hier liegen sie noch vibrierend vor Tatendrang herum, die bereits jetzt rostig schimmernden Stangen. Doch schon bald werden sie den tanzenden Türmen innere Stabilität verleihen.

Die Baugrube direkt eingangs der Reeperbahn ist die größte diesseits der Hafencity, und das ist natürlich alles wieder Gentrifizierung etc. pp., aber, meine Damen und Herren, ins Erdgeschoss dieses Hochhausbaus wird wer einziehen?

Der Mojo Club. Tja.

27 Mai 2010

Drei Kopfnüsse, nicht acht



Schon hoch oben von der Balustrade aus hört man, dass der Streit unten in der Zeisehalle nicht von schlechten Eltern ist. Es wird gebrüllt und geschimpft, doch es hallt zu sehr, um einzelne Worte zu verstehen.

Die Quelle des Streits liegt exakt dort, wo mein Fahrrad angebunden ist. Dort lagern nämlich auch dauerhaft drei Obdachlose, und sie scheinen Probleme zu haben. Oder zu machen.

Als ich zum Fahrrad komme, steht ein Sicherheitsmann telefonierend in der Nähe, während die Obdachlosen zetern. Keine Ahnung, worum es geht, doch die Sache scheint ernst.

„Dem verpass ich drei Kopfnüsse“, blökt der einarmige Zauselbart mit den schlechten Zähnen, „dann liegt der tot am Boden!“

Warum er exakt drei Kopfnüsse verteilen will und nicht zwei schon reichen oder es nicht vielleicht sogar acht sein müssen; warum er glaubt, als ungefähr 70-jähriges Hutzelmännchen einem drahtigen Sicherheitsmann aus dem fernöstlichen Sprachraum gefährlich werden zu können: keine Ahnung. Wahrscheinlich Erfahrungswerte.

Die Folgen des Streites werden jedenfalls bereits am Folgetag deutlich: Das Obdachlosentrio musste die Zeisehalle räumen, ihr Lagerplatz (Foto) ist verwaist. Die Hausordnung hatte ihren Aufenthalt eh schon immer untersagt, doch dieses Verbot wurde nie durchgesetzt. Nun aber, nach dem Streit mit dem Sicherheitsmann und der Kopfnussdrohung, wurde aus der Duldung ein Platzverweis.

Unschön für die drei, doch ein Gutes hat das ja: Der Platz unter der Wendeltreppe wird hinfort von olfaktorisch fragwürdigen Körperausscheidungen verschont bleiben. Dachte ich.

Die heute dort wie üblich anzutreffende taufrische Riesenlache muss wohl als Widerlegung gelten.


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26 Mai 2010

Espressomaschine in gute Hände abzugeben (schluchz)



Möchte vielleicht jemand aus dem geschätzten Blogleserkreis unsere etwa drei Jahre alte Nespresso-Kapselmaschine kaufen?


Es handelt sich um eine außerordentlich famose DeLonghi Cube, die stets klag- und tadellos funktionierte und das mit höchster Wahrscheinlichkeit auch noch sehr lange tun wird.

Dass wir sie (nur in gute Hände!) abzugeben bereit sind, liegt ausschließlich an einer besser ausgestatteten Neuanschaffung, mit der man auch Milch aufschäumen kann.

Aufgerufen sind schmale 80 Euro; für diesen Schnäppchenpreis muss sie allerdings persönlich auf der Rückseite der Reeperbahn abgeholt werden.

Schriftliche Bewerbungen bitte an die Mailadresse da oben rechts. Ob wir nach Chronologie oder Sympathie entscheiden, wird noch intern ausgewürfelt.


25 Mai 2010

Schäuble kann beruhigt in Rente gehen

Bahnsteig Reeperbahn. Ein massiger, mit Tüten beladener Grauschopf von ungefähr 60 (wohl nicht immer leichten) Jahren lässt sich ächzend rechts neben mir auf die Drahtbank fallen, so dass seine Massigkeit leicht über die Lehne lappt.

Beim Hinsetzen hat er sich hüftsteif nach vorn gebeugt und großflächig eine fleckig gerötete Region direkt nördlich seines Podex entblößt. Dabei konnte ich sehen, dass seine Hose von einem einzelnen mittigen Träger vorm Absturz gerettet wird.


Alles in allem kein Anblick, der das Pfingstwochenende ästhetisch retten könnte.

Als er sitzt, beugt er sich sofort zu mir rüber und erzählt von den Staatsschulden, die schon jetzt 1,7 Billionen betrügen („Haben Sie das auch gelesen?“) und im Zuge der diversen „Rettungsmaßnahmen“ (er spricht das Wort aus, als wäre es mit einem grüngelben Schmier bedeckt) in einigen Jahren geradezu zwangsläufig auf 8 Billionen anwüchsen („Verfolgen Sie das Ganze?“).

Der Mann ignoriert fröhlich, dass ich Kopfhörer trage, und die Versuchung ist groß, ihn barsch abzukanzeln, entweder mit einem „Lassen Sie mich in Ruhe, bitte“ oder dem oft erprobten vielsagenden Schweigen inklusive stierem Blick ins Nichts.

Doch ich entscheide mich heute für die dritte Variante, für Ahas und Sosos, für Jas und Hmms und andere einsilbige Knappheiten, die, wie ich hoffe, in ihrer Frequenz und Ausschließlichkeit höflich, doch hinreichend deutlich Desinteresse vermitteln, ohne auch nur einen Zeh aufs gefährliche Feld der Ermunterung zu setzen.

Diese Taktik aber hält ihn keineswegs von weiteren wirtschaftspolitischen Einlassungen ab – und plötzlich sehe ich entsetzt meine rechte Hand den rechten Ohrhörer rausnehmen. Eine Geste, die weit mehr als nur einen Zeh aufs gefährliche Feld der Ermunterung setzt; es ist geradezu ein Sprung mit beiden Beinen mitten hinein in die Botschaft „Erzählen Sie ruhig weiter, ich habe selten so interessante Informationen über die Eurokrise gehört, wissen Sie eigentlich, dass unser Finanzminister siech ist und Merkel wahrscheinlich schon dringend nach Ersatz sucht? Wissen Sie das eigentlich?“.

Und genauso versteht der massige Mann auch meine Geste. Unmöglich kann ich sie jetzt wieder rückgängig machen und den Ohrhörer rechts wieder einstöpseln, denn das liefe umso deutlicher auf ein barsches Düpieren hinaus, was ich ja nun gerade in einem Anfall von Pfingstfriedfertigkeit vermeiden wollte.

Ich hänge also selbstverschuldet in der Falle, ausweglos – doch da kommt zum Glück die Bahn, und er verabschiedet sich wortreich („8 Billionen, denken Sie dran!“), wuchtet sich hoch, zeigt mir zum Abschied noch einmal seinen entblößten unteren Rücken und steigt ein.
Andernfalls, das muss ich zugeben, wäre ich in diese Bahn eingestiegen, obwohl erst die nächste meine war.

Mit meiner rechten Hand muss ich jetzt dringend mal ein ernstes Wörtchen reden.


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