Bahnsteig Reeperbahn. Ein massiger, mit Tüten beladener Grauschopf von ungefähr 60 (wohl nicht immer leichten) Jahren lässt sich ächzend rechts neben mir auf die Drahtbank fallen, so dass seine Massigkeit leicht über die Lehne lappt.
Beim Hinsetzen hat er sich hüftsteif nach vorn gebeugt und großflächig eine fleckig gerötete Region direkt nördlich seines Podex entblößt. Dabei konnte ich sehen, dass seine Hose von einem einzelnen mittigen Träger vorm Absturz gerettet wird.
Alles in allem kein Anblick, der das Pfingstwochenende ästhetisch retten könnte.
Als er sitzt, beugt er sich sofort zu mir rüber und erzählt von den Staatsschulden, die schon jetzt 1,7 Billionen betrügen („Haben Sie das auch gelesen?“) und im Zuge der diversen „Rettungsmaßnahmen“ (er spricht das Wort aus, als wäre es mit einem grüngelben Schmier bedeckt) in einigen Jahren geradezu zwangsläufig auf 8 Billionen anwüchsen („Verfolgen Sie das Ganze?“).
Der Mann ignoriert fröhlich, dass ich Kopfhörer trage, und die Versuchung ist groß, ihn barsch abzukanzeln, entweder mit einem „Lassen Sie mich in Ruhe, bitte“ oder dem oft erprobten vielsagenden Schweigen inklusive stierem Blick ins Nichts.
Doch ich entscheide mich heute für die dritte Variante, für Ahas und Sosos, für Jas und Hmms und andere einsilbige Knappheiten, die, wie ich hoffe, in ihrer Frequenz und Ausschließlichkeit höflich, doch hinreichend deutlich Desinteresse vermitteln, ohne auch nur einen Zeh aufs gefährliche Feld der Ermunterung zu setzen.
Diese Taktik aber hält ihn keineswegs von weiteren wirtschaftspolitischen Einlassungen ab – und plötzlich sehe ich entsetzt meine rechte Hand den rechten Ohrhörer rausnehmen. Eine Geste, die weit mehr als nur einen Zeh aufs gefährliche Feld der Ermunterung setzt; es ist geradezu ein Sprung mit beiden Beinen mitten hinein in die Botschaft „Erzählen Sie ruhig weiter, ich habe selten so interessante Informationen über die Eurokrise gehört, wissen Sie eigentlich, dass unser Finanzminister siech ist und Merkel wahrscheinlich schon dringend nach Ersatz sucht? Wissen Sie das eigentlich?“.
Und genauso versteht der massige Mann auch meine Geste. Unmöglich kann ich sie jetzt wieder rückgängig machen und den Ohrhörer rechts wieder einstöpseln, denn das liefe umso deutlicher auf ein barsches Düpieren hinaus, was ich ja nun gerade in einem Anfall von Pfingstfriedfertigkeit vermeiden wollte.
Ich hänge also selbstverschuldet in der Falle, ausweglos – doch da kommt zum Glück die Bahn, und er verabschiedet sich wortreich („8 Billionen, denken Sie dran!“), wuchtet sich hoch, zeigt mir zum Abschied noch einmal seinen entblößten unteren Rücken und steigt ein. Andernfalls, das muss ich zugeben, wäre ich in diese Bahn eingestiegen, obwohl erst die nächste meine war.
Mit meiner rechten Hand muss ich jetzt dringend mal ein ernstes Wörtchen reden.
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Tja, grade für Rechtshänder ist die rechte Hand ja ein alltägliches Werkzeug geworden. Kein Wunder, das da hin und wieder Racheaktionen der RHF (Rechte Hand Fraktion) stattfinden. Vielleicht sollten Sie in nächster Zeit eher keine scharfen Gegenstände in besagte Hand legen.
AntwortenLöschenIn dem Sinne..
A.Nonym
"ignoriert fröhlich" ... meine neue lieblingsformulierung!
AntwortenLöschenDer Mann hat doch recht...
AntwortenLöschenSelbstverständlich, Herr GP. Es gibt sogar Milliarden von Menschen, die auf dem ein oder anderen Gebiet Recht haben. Das heißt noch lange nicht, dass ich mich dafür interessieren muss.
AntwortenLöschenA. Nonym, Ihr Tipp ist sehr wertvoll und hat mir allein heute schon mehrfach den Krankenhausaufenthalt erspart. Danke!
Und er atmet auch Luft. Sie hatten so viele Gemeinsamkeiten.
AntwortenLöschen(Und auf die bedeutendste, daß Sie nämlich beide den ÖPNV nutzen, gehe ich jetzt gar nicht en detail ein)
rate mal warum ich lieber mit dem rad fahre und nur sehr ungern u + s bahn............
AntwortenLöschenAlso, ich bin da durchaus sehr direkt - wenn ich mir dienstlich schon alles (Un)Mögliche anhören muss (und ja, ich tue das dann auch gerne), will ich als Privatmensch meine Ruhe haben.
AntwortenLöschenMuss mein Gegenüber auch mal verstehen.
Respekt vor Ihrer Geduld, ganz ehrlich.
Lieben Gruß,
Josie
Miele, auch nach Billwerder-Moorfleet …?
AntwortenLöschenJosie, diese Geduld gelingt mir nicht immer. Aber ich versuche es tapfer. Wir leben ja alle nur einmal und sollten uns daher die Existenz gegenseitig angenehmer machen statt schwerer.
Zett said....
AntwortenLöschenKonsequenz: Stehend auf die Bahn warten. Hoher Fluchtreaktionsradius.
Mir sind derlei Nötiger auch nicht geheuer.
AntwortenLöschenViel schlimmer ist es aber für mich, wenn ich IM Bus sitze und somit hilflos dazu verdonnert bin, mir Dialoge zweier (oder mehrerer) 14-jähriger It-Girlies anzuhören.
da war ich auch schon mit dem rad...
AntwortenLöschenÄt Matt:
AntwortenLöschen"Wir leben ja alle nur einmal und sollten uns daher die Existenz gegenseitig angenehmer machen statt schwerer."
Respektable und teilenswerte Einstellung. Allerdings müsste das dann auch für Laberkopp gelten.
Eben. Deshalb WAR ich ja so nett zu ihm.
AntwortenLöschen"Wo ist der Bus mit den Leuten?" und aufstehen und gehen hat eigentlich schon immer ganz gut geholfen. ;)
AntwortenLöschen@ Matt:
AntwortenLöschenSie kamen mir immer schon sehr sympathisch vor, jetzt hab ich die Bestätigung: Sie sinds.
Irgendwie brauchte ich heute abend noch eine gute Erkenntnis - nach dem Tag heute schätze ich angenehme Zeilen sehr.
Ich wünsche einen angenehmen, entspannten und ruhigen Abend,
Josie
Jetzt wollen wir mal nicht übertreiben, ja …?
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