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01 Mai 2010
Unter Vollprolls gen Köln
Als das knappe Dutzend Jungs lautstark unser Zugabteil entert, weiß ich sofort, dass die Fahrt gelaufen ist.
Schon beim Einsteigen balancieren sie ihr Gepäck aus – mit Bierflaschen. Alles was sie sagen, tun sie so, als müssten sie sich gegen eine Armada Presslufthämmer durchsetzen.
Wenn sie singen (was sie oft tun), handelt es sich um Lyrik à la „Whiskey und Kümmer-/ling-e-ling-e-ling“, und wenn sie nicht singen, dann grölen sie, und zwar „Olic! Olic! Olic!“.
In Osnabrück registrieren die Jungs durchs Fenster vergnügt eine Gruppe Mädchen mit Instrumenten auf dem Bahnsteig. „Boah“, staunt einer, als müsste er einen Presslufthammer übertönen, „die können Geige spielen!“ „Besser wäre Flöte“, ruft einer seiner Kumpel. So viel schlüpfrige Schlagfertigkeit hätte ich ihm gar nicht zugetraut, ehrlich gesagt.
Nach etwa der Hälfte der Strecke hat der Säugling auf dem Sitz vor uns genug vom Vollprollterror – und hält mit Schreien dagegen. Alles kein Ambiente, um unterm Kopfhörer ein Album von Owen Pallett zu hören oder einen Roman von Michel Houllebecq zu lesen (oder wie immer der geschrieben wird).
Unsere gemeinsame Fahrt mit den Jungs und dem Säugling dauert drei Stunden. Danach wanken wir aus dem Zug wie nach dem Ironman oder zwei schlaflosen Nächten oder beidem. Jetzt muss Köln uns retten, wo wir auf Einladung der Maritim-Kette das Wochenende verbringen.
Das Hotel liegt praktisch am Rhein und in Fußweite zum Dom. Verurteilte man mich zufällig zu lebenslänglich und dürfte ich mir aussuchen, wo ich die Strafe absitzen wollte, so wäre diese Mischung aus lichtdurchflutetem Atrium mit Mall (Foto) und Hotel drumherum gewiss nicht die letzte Wahl.
Da wir beide bisher noch nicht zu lebenslänglich verurteilt wurden, gehen wir nach dem Einchecken gleich mal die Gegend erkunden – und landen in einer Eisdiele, wo eine Frau zu einer anderen sagt: „Ich geh kurz bei Schlecker!“.
„Kölsch“, wird ein paar Stunden später der Maritim-Marketingdirektor Thomas Schüpstuhl uns mit einem Glas in der Hand erläutern, „ist die einzige Sprache, die man trinken kann.“ Und was soll ich sagen: Der Mann hat Recht.
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Wie der Zufall so will: Am Sonntag war ich im Hyatt auf der anderen Seite des Rheines am Nachmittag zu Besuch. Dabei mußte ich anmerken, dass ich dort nicht übernachten könne. Denn ich würde die ganze Nacht am Fenster stehen und den vorbeifahrenden Schiffen zugucken.
AntwortenLöschenDieses Bedürfnis würde allmählich nachlassen. Fragen Sie mal die Einwohner auf Bora Bora, wie toll sie Strand und Meer finden. Geht so, würden sie sagen.
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