04 Februar 2008

Der stumme Besucher

Als ich heute morgen durchs Treppenhaus federe, um Brötchen zu holen, sehe ich es schon vom letzten Absatz aus. Wieder einmal sitzt ein Gestrandeter der Kieznacht von außen an der Glastür.

Ich weiß wirklich nicht, worin die heimelige Strahlkraft ausgerechnet unserer Haustür genau besteht, doch sie ist zweifellos da. Andere Häuser scheinen mir nämlich viel seltener heimgesucht zu werden.

Vorsichtig öffne ich die Haustür, es soll sich ja niemand verletzen. Mit Bata-Illic-hafter Geschwindigkeit strafft sich der Rücken, der mir zunächst halb entgegensackte. Er gehört zu einem derangierten Mann mit tiefen Gesichtsfalten. Ich schätze ihn auf etwa 50, vielleicht ein Russe. Seine rotschwarz karierte Jacke gibt ihm etwas Holzfällerhaftes.

„Würden Sie bitte den Eingang freimachen?“, sage ich. Er schaut wortlos und ohne sichtbare Regung hoch. Dann versucht er seinen widerständigen Körper ein paar Zentimeter nach rechts zu wuchten, damit ich vorbeikomme.

Er kann es natürlich nicht wissen, aber das reicht mir nicht. Nicht nach all dem, was da kumuliert schon vor unserer Tür saß im Lauf von zwölf Jahren; nicht nach all dem, was dort schon rauchte und soff, kiffte und kackte, schiffte und spritzte.

„Nein, ganz frei bitte“, präzisiere ich und bleibe halb hinter ihm stehen. Ächzend müht er sich hoch, und als er auf die Beine kommt, taumelt er zwei, drei Meter nach vorne, bis er den Aufstehschwung schadlos abgefangen hat. Er bleibt noch immer stumm.

Danke“, sage ich und gehe an der nächsten Ecke die Zeitung holen. Als ich zurückkomme, schlurft er mir entgegen. Er schaut mich an mit halb gesenktem Kopf, sein Blick ist fast ausdruckslos. Doch um seinen Mund hat sich so viel Zerknirschung und Melancholie eingenistet, dass er mir plötzlich leid tut.

Und das ist das Einzige, was ich im Vorübergehen für ihn tun kann.

6 Kommentare:

  1. Ach Matt, vielleicht sollten Sie für solche Fälle stets ein Rasiermesser bei sich führen. Denn letztlich hätte ihm das vermutlich wirklich am meisten geholfen. Und Ihrer Eingangstür.

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  2. Tja, so ist das manchmal.
    Und dafür "federn" Sie durch das Treppenhaus, um Brötchen zu holen. Am Sonntag morgen.
    Jede Wette, Ms. Columbo liest wieder verschärft mit.
    Bei mir sind es am Montag morgen die zwei Wodkaflaschen aus dem Neppy-Sortiment für 5.99 EUR, Red Bull-Dosen und.den.gelborangen.Rest.erspare.ich.uns am Weg zur S-BahnhofReeperbahntreppenschlundundkachelkehle mit Neonlicht ins Büro.
    Andererseits - die Jungs kommen oft von weit her und unterschätzen den Generalsekretär. In seiner Wirkung.

    Gute Nacht.

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  3. Mit Verlaub, aber möglicherweise ist mein heutiges Leben die Folge meines gestrigen Denkens und Handelns. Wieso macht man sowas so viele Jahre mit?

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  4. Wen meinen Sie: mich oder den „Russen“ (oder gar Olaf?)?

    Bei ihm weiß ich es nicht. Bei mir schon: weil die Vorteile, auf St. Pauli zu leben, die Nachteile überwiegen.

    Und zwar bei weitem.

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  5. @Thilo: Möglicherweise ist Ihre gestrige Meinung also heute schon obsolet?

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  6. Bei Olaf gar ist das so ähnlich wie bei Matt.
    Die räumliche Lage ist dicht am Kiez, die Verkehrsanbindung ist gut, die Wohnung brauchbar, warm, trocken, günstig und die Elbe nah.
    Und Absonderungen menschlicher Verdauung im Versuchs- oder Vollendungsstadium finden sich in dieser Stadt mehr oder weniger verbreitet überall.
    Trotzdem wird es mich weiterhin gelegentlich nerven.
    So wie anderes woanders.

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