29 November 2006

Nichts geht mehr

Beim abendlichen Heimradeln erweist sich der Verkehr als völlig lahmgelegt. Alles steht, Bus an Auto, Auto an Bus. Warnblinkanlagen flackern, ungeduldige Menschen stehen in der Bahrenfelder Straße zwischen Auspuffrohren und Kühlergrills herum. Alles sind ratlos. Klar ist: Nichts geht mehr. Stillstand. Eine Zivilisation am Rande der Hilflosigkeit.

Kurioserweise traut sich dennoch keiner weg von seinem Wagen, obwohl ja auch niemand damit durchbrennen könnte. Eine Krux. Als Fahrradfahrer aber grinst man der Malaise souverän ins Gesicht und schlängelt sich virtuos durch den autoimmobilen Parcours.

Und der zieht sich hin, alle Achtung. Auch in der Kleinen Rainstraße steht Wagen an Wagen. Nichts nervt den urbanen Menschen mehr, als zur Untätigkeit, zum Verharren an einem bezugslosen Ort verdammt zu sein – vor allem, wenn er nicht weiß, warum. Woher kommen wir, wohin gehen wir – und wann endlich, verdammt noch mal?

Nur der Radfahrer wird es bald erfahren, denn er zwängt sich durch kleine blechgesäumte Lücken, er nutzt kurz den Gehweg, hüpft fidel über den Bordstein zurück auf die zugestellte Straße, stützt sich an der Wand eines – haha – Schnellbusses ab und erreicht schließlich den Anfang des Staus, der gerade halb Altona lahmlegt.

Und hier haben wir den Übeltäter. Wo die Kleine in die Große Rainstraße übergeht, parkt ein roter Golf halb auf der Straße, und genau dort kommt nun ein Bus nicht mehr um die Kurve. Ein Umstand, der sich in Form zunächst stockenden, dann stehenden Verkehrs rückwärts fortgepflanzt hat und sich inzwischen wahrscheinlich der Stresemannstraße nähert oder sogar schon der Abfahrt Bahrenfeld, und vielleicht leckt der Stau auch bereits gierig hoch auf die Autobahn und führt zu zähem Fließen bis hinauf nach Schnelsen-Nord und irgendwann bis Flensburg.

Und alles wegen eines roten Mittelklassewagens. Hier an der Ecke, vorm Golfus delicti, ist Volksauflauf. Polizei sichert die Lage. Alles wartet auf den Abschleppwagen. Bis dahin ruht weiter still und starr, was doch zum Sichbewegen geschaffen ist. Schaulustige besprechen die Lage. Nicht bei den Buskunden, aber bei den Fuß- und Müßiggängern herrscht vorfreudige Erwartung. Beim Abschleppen zuzusehen, ist immer eine feine Sache.

Noch feiner wäre es allerdings, der Fahrer des roten Golfs kehrte jetzt zurück und müsste sich dem Volkszorn stellen. Ich habe eine solche Situation mal in der Friedensallee erlebt, wo ein unsensibler Automobilist ebenfalls einen Bus blockiert hatte. Bei seiner Rückkehr erkannte er gleich die Brisanz der Situation und versuchte sich gleichsam unsichtbar ins Auto zu flüchten. Die nahezu tollwütigen Busfahrgäste allerdings stellten ihn und schrien ihm Vorwürfe entgegen, von denen ein mit Schaum vor dem Mund vorgetragenes „Ich habe ein krankes Kind zu Hause! Was denkst du dir eigentlich, du!“ der niederschmetterndste war.

Noch nie habe ich eine Menschenmenge so nah an ihrer Verwandlung zum Lynchmob gesehen wie damals. Daran merkt man, welche Bedeutung die Bewegungsfreiheit hat. Kein Wunder, dass Gefängnisinsassen manchmal sogar Dächer entern, nur um sich mal ungestört die Füße vertreten zu können.

Heute jedenfalls droht dem Golffahrer ebenfalls großes Ungemach, träte er unbefangen an sein Gefährt heran. Doch wenn er schlau ist, gesellt er sich einfach unauffällig zum potenziellen Lynchmob und schaut mit innerem Bedauern zu, wie sein Wagen demnächst abgeschleppt wird. Im Endeffekt kommt ihn das billiger – und ist deutlich weniger riskant.

So lange kann ich aber nicht warten. Also radle ich weiter und erfreue mich einer gähnend leeren Reststrecke bis zum Bahnhof Altona. Unterwegs wiege ich mich in der süßen Gewissheit, wieder ein wenig Blogstoff aufgesammelt zu haben.

So hat selbst das Lahmliegen des Hamburger Individualverkehrs noch sein gerüttelt Maß Gutes.

19 Kommentare:

  1. Hallo Matthias.
    Ich hoffe du hast die Gunst der Stunde ausgenutzt und die Strasse nach dem Stauanfang in ihrer vollen Breite genutzt ?!
    ;-)
    Norbert

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  2. O ja! Und ich habe noch breiter gegrinst dabei …

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  3. Sie idealisieren. Aber damit kommen Sie bei mir nicht durch.

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  4. Nichts nervt den urbanen Menschen mehr, als zur Untätigkeit, zum Verharren an einem bezugslosen Ort verdammt zu sein – vor allem, wenn er nicht weiß, warum.

    Doch. Was mich noch mehr nervt als gezwungenermaßen untätig im Stau zu stehen sind Radfahrer, die sich dann durchschlängeln oder gar die Frechheit besitzen, sich an meinem Auto abzustützen. Die liegen in der Lynchpriorität noch vor dem Verursacher des Staus. :)

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  5. kiki, das mag sein, aber mit diesem Gefühl lässt der Radfahrer sie fröhlich zurück in ihrem Faraday'schen Käfig. Und tschüs … ;-)

    Opa: Das wüsste ich aber!

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  6. Das erstaunliche ist ja, daß wir alle so wandelbar und ignorant sind. Wir sind Fussgänger, bis wir ins Auto oder in den Bus, die Bahn, aufs Fahrrad steigen. Als solche ereifern wir uns über die Rücksichtslosigkeit der Auto-/Bus-/Fahrradfahrer, die uns behindern oder zu überfahren drohen und die Bahn, die uns vor der Nase wegfährt. Wir schlüpfen nahtlos in all diese Rollen und jeder von uns hat recht. "Ihr Menschen sein komisch". Ja, sind wir.

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  7. tief drin sind wir alle sogar nur krabbler - bis wir uns auf die beine stellen ;)

    und das rote mittelklassewagen der untergang der zivilisation sind habe ich schon immer geahnt.

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  8. Sie idealisieren die Radfahrerei. kiki bringt es auf den Punkt.

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  9. Opa, das ist ja das Schöne an einem Blog: Man kann idealisieren, was man nur möchte, und sei es etwas, auf dem man gerade sitzt …

    vivec, das Kennzeichen fand nicht meine Beachtung. Aber das war natürlich ein Fehler, sehe ich ein.

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  10. "Man kann idealisieren, was man nur möchte, und sei es etwas, auf dem man gerade sitzt …"

    Respekt - der war verdammt gut!

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  11. Beruflich fahre ich leider relativ viel Auto. Aber meist außerhalb Hamburgs und insofern stehe ich in Hamburg selten im Stau. Aber wenn ich mal gezwungenermaßen in Hamburg fahre und im Stau stehe, frage ich mich ernsthaft, wie sich Menschen das täglich antun können? Morgens schleichen sie im Schneckentempo zur Arbeit und abends im Schneckentempo zurück. Durchschnittsgeschwindigkeit auf dem Tacho so um und bei 25kmh. Da lobe ich mir jeden, der diese Untätigkeit irgendwann satt hat und aufs Fahrrad steigt oder Busse (eingeschränkt tauglich, siehe dein Beitrag) und Bahn nutzt. Wäre ich in Hamburg berufstätig, würde ich das tun. Leider tun es zu wenig und alle haben sie 1000 Gründe, warum ausgerechnet sie nicht aufs Auto verzichten können. Angeblich sind sie ja freier, wenn sie Auto fahren. Hahaha...

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  12. Dieses Hahaha trage ich auch oft und gern im Gesicht.

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  13. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die Strecke von der Rentzelstraße zum Dammtor, also "Bei der Verbindungsbahn". Es geht bergab, als Radfahrer ist man also ohne in die Pedalen zu steigen schon recht zügig unterwegs. Zu Hauptverkehrszeiten bracuh der Autofahrer geschätze 15 Ampelphasen für die vergelichsweise kurze Strecke.
    Ich pflege dort immer freihändig und ohne zu treten zu fahren. Das wirkt doppelt läßig.

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  14. Stefan, ich kann Ihnen sagen, warum ich in Hamburg gerne mit meinem Auto fahre:

    Es ist meist gar nicht so schlimm. Ich führe morgens eine Stunde mit der Bahn. Mit meinem Kraftfahrzeug dauert der Weg 15 Minuten. Mit Stau 30 Minuten. Mit Megastau vielleicht auch eine Stunde - bisher noch nicht erlebt.

    In Frankfurt hingegen müßte man eigentlich den Hubschrauber benutzen.

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  15. Eine Stunde mit der Bahn? Aber Sie wohnen doch gar nicht in Bremen!

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  16. Fahrradfahrer sind meine liebsten Hassfiguren, ganz besonders die übergewichtigen Wochenend-Ullrichs in Telekom-Wurstpelle, aus der hinten lässig die Iso-Riegel rauslugen. Letztens hat sich so eine Wurst an der Ampel mit einer Hand lässig an meinem Dach abgestützt. Da wanderte dann mein Finger lässig aufs Knöpfchen, das Dach ging auf und das Würstchen fiel scheppernd um. Lautes Fluchen folgte (aber leider weder originelles noch neues dabei). Hups, da hatte wohl jemand vergessen, die Füße rechtzeitig aus den Pedalen zu befreien. *kicher*

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  17. Na, ich hätte Ihnen aber kräftig meine Meinung gegeigt, Sie uneinsichtiger Umweltverpester, Sie!

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  18. Wir verpesten alle die Umwelt. Einige lassen das Auto stinken, andere marinieren sich vor Betreten eines öffentlichen Verkehrsmittels in Parfum, wieder andere verursachen Augenkrebs (Stichwort: Telekomwürstchen, die aus der Pelle zu platzen drohen). Handies klingeln uns in den Wahnsinn, iPod-Benutzer zerstören nicht nur ihr sondern auch mein Gehör mit auf Anschlag gedrehten "Prodigy" Rhythmen. Es gibt kein Entrinnen, wir werden alle sterben.

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  19. Es kommt aber schon ein bisschen darauf an, wann und wie, nicht wahr? ;-)

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