Zur Weinprobe in einem Restaurant auf St. Pauli bringt eine Kollegin ihren Hund mit, bei dessen Anblick mir fast das Glas Crémant aus der Hand rutscht.
Das Vieh wirkt fast kalbsgroß; seine Ausmaße werden auf dem Foto auf geradezu beschämende Weise vertuscht. Statt einer Hundehütte bewohnt es sicherlich eine Art Garage.
„Das ist eine Deutsche Dogge“, erklärt gelassen ein auf praktisch allen Gebieten erfahrener Kollege, der mir später noch Dönekens von einem prominenten deutschen Fußballer erzählen wird („Der fängt morgens mit Champagner an, macht mit Weißwein weiter, endet bei Rotwein und geht ins Bett.“), aber das weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Auch nicht, dass selbst der größte Hund der Welt eine Deutsche Dogge ist. Unser Exemplar wiegt just 56 Kilo, sagt seine schätzungsweise deutlich leichtere Besitzerin, „aber das ist nur das Sommergewicht. Im Winter geht sie hoch auf 65.“
Deutsche Doggen haben also saisonale Gewichte, sogar die Weibchen: Ein äußerst lehrreicher Abend zeichnet sich für mich ab, nicht nur in önologischer Hinsicht. Während wir über das friedfertig mit den putzlumpengroßen Lefzen wackelnde Monster sprechen, sabbert es Pfützen auf den Restaurantboden, mit denen man halb Ruanda bewässern könnte.
Zwischendurch entdeckt der Graukopf eine Gemeinsamkeit mit meinem dicken Sitznachbarn: Beide hatten einst ihre wildesten Zeiten im Restaurant Brücke in Harvestehude. „Ich hab da noch mit Joop gekokst!“, japst der Dicke erinnerungsselig, während eine wachsende Zahl von Schweißflecken sein blaues Hemd immer weiter eindunkelt.
Der auf praktisch allen Gebieten erfahrene Kollege möchte aber nicht weiter über läppische Sachen wie das Koksen mit Joop reden, sondern lieber zurück zum Thema Deutsche Doggen. Er erweitert das Sujet sogar nonchalant ins Allgemeine.
„Man trifft niemand mehr, keiner geht mehr raus“, sinniert er und nippt melancholisch am Crémant, „aber wenn du ’nen Hund hast, bist du richtig weit vorne.“ Frauchen erglüht augenblicks vor Stolz auf ihr Ganzweitvornesein, während Godzilla auf rund drei Quadratmetern ein Nickerchen macht.
Wie die Weine im Einzelnen waren, ist mir übrigens nicht mehr erinnerlich.
„3000 Plattenkritiken“ | „Die Frankensaga – Vollfettstufe“ | RSS-Feed | In memoriam | mattwagner {at} web.de |
14 September 2010
13 September 2010
Von einem Chinesen verkloppt
Der Chinamarkt vorm Rathaus bietet allerlei fernöstlichen Nippes, aber auch Bratreis und vor allem: Massagen!
Da kann ich nicht nein sagen und betrete ein offenes Zelt, um mir von einer chinesischen Expertin eine zehnminütige Kopf- und Rückenmassage verpassen zu lassen. Hinter mir steht ein pickliger Zweimetermann mit dem gleichen Begehr. Da zwei Masseurinnen aktiv sind, kommen wir gleichzeitig dran. Die Damen legen los, während irgendwo da draußen ein Leierkastenmann einen kongenial unpassenden Soundtrack beisteuert: „Lili Marleen“.
Schon nach kurzer Zeit offenbart der Lulatsch neben mir ungefragt eine ganz persönliche Vorliebe: „Endlich mal eine Frau“, seufzt er, „die hart zupacken kann.“ Die Chinesin kichert. Vielleicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
Nach zehn angenehmen Minuten schlendere ich weiter, bin aber jetzt richtig angefixt. Mein Rücken muss sich anfühlen wie in der Sonne geschmolzenes Hartgummi, erst dann bin ich zufrieden. Schon erspähe ich ein weiteres Massagezelt, es offeriert 20 Minuten für ebensoviele Euro.
Zwei Männer höchst unterschiedlichen Zuschnitts bearbeiten gerade zwei Kunden. Yin und Yang sozusagen. Der eine ist der Thomas Berthold der Chinamassage. Mit den Lidern auf Halbmast blickt er desinteressiert hinaus in die Welt, während seine Hände selbstvergessen einen Frauenrücken walken.
Der andere hingegen wirkt wie der Jürgen Kohler des Knetens: engagiert bis unter die Achselhaare, mit Armen und Beinen sein Opfer wild beackernd – enemy mine. Seine Massagetechnik hat etwas Judoartiges, vergröbert mit einem gehörigen Schuss Holzfällertum. Das ist mein Mann!
„Ich möchte gern ihn da“, flüstere ich der Chinesin zu, die an einem zum Tresen umfunktionierten Tisch für die Verwaltung zuständig ist, und zeige auf den strupphaarigen Berserker. „Aber der andere“, flüstert sie zurück, „ist besser.“ „Trotzdem“, raune ich.
Wenig später rammt mir ein skrupelloser Chinese Ellbogen und Knie in den Rücken, dass die Wirbelsäule knirscht, er zwiebelt mir die Ohrläppchen, zieht meine Finger lang, und am Ende entfacht er auf meinen Schultern ein Trommelfeuer aus Schlägen, als wäre ich seine Schwiegermutter. Uff.
Nach diesen 20 Minuten gönne ich mir ein Tsingtaobier, ein leider laues Lager auf Reisbasis mit der Würze und Aromatik von destilliertem Wasser.
Aber das kann man ja vorher nicht wissen.
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11 September 2010
10 September 2010
Der Taxifeind
An der Fußgängerampel Mitte der Reeperbahn warte ich gemeinsam mit einem älteren Herrn auf Grün. Er scheint gutsituiert in seiner legeren hellen Freizeitkleidung.
Wir warten. Ein Taxi fährt vorbei. Der ältere Herr schaut ihm nach und sagt leise: „Arschloch.“
Er sagt es so ruhig und bedächtig, als würde er in der Kneipe ein weiteres Bier höflich mit „Nein, danke“ ablehnen.
Ein weiteres Taxi. Diesmal biegt es neben uns vom Spielbudenplatz auf die Reeperbahn ein. Der ältere Herr schaut gelassen auf das Fahrzeug herunter, als es ihn umkurvt, und sagt es wieder: „Arschloch.“
Alle anderen Autos lässt er verbal unbehelligt vorüberfahren. Nur den Taxis sagt er seine Meinung, und zwar so, als würde er höflich „Nein, danke“ sagen.
Auf dem Kiez sieht man keinem an, was gerade in ihm vorgeht, das wird mal wieder überdeutlich. Und dann wird die Ampel grün, und wir gehen beider unserer Wege.
Wir warten. Ein Taxi fährt vorbei. Der ältere Herr schaut ihm nach und sagt leise: „Arschloch.“
Er sagt es so ruhig und bedächtig, als würde er in der Kneipe ein weiteres Bier höflich mit „Nein, danke“ ablehnen.
Ein weiteres Taxi. Diesmal biegt es neben uns vom Spielbudenplatz auf die Reeperbahn ein. Der ältere Herr schaut gelassen auf das Fahrzeug herunter, als es ihn umkurvt, und sagt es wieder: „Arschloch.“
Alle anderen Autos lässt er verbal unbehelligt vorüberfahren. Nur den Taxis sagt er seine Meinung, und zwar so, als würde er höflich „Nein, danke“ sagen.
Auf dem Kiez sieht man keinem an, was gerade in ihm vorgeht, das wird mal wieder überdeutlich. Und dann wird die Ampel grün, und wir gehen beider unserer Wege.
09 September 2010
Die falsche Scham
So, nach drei bzw. fünf Jahren Gebrauch sind sowohl die Squalljacke als auch die Cityslipper von Lands’ End definitv Schrott.
Überall franst es aus, der Jackenreißverschluss ist altersmüde, der Schuh rissig, vor allem über der Ferse. Also schicke ich den ganzen Schamott zurück und lasse mir den Kaufpreis erstatten, auch nach drei bzw. fünf Jahren Gebrauch. Schließlich ist genau diese Möglichkeit das Alleinstellungsmerkmal von Lands’ End: Rücksendung jederzeit möglich, lebenslang, „guaranteed. Period“.
Merkwürdigerweise empfinde ich beim Gang zur Post dennoch stets ein Gefühl der Scham – so, als beanspruchte ich etwas, das mir nicht zustünde. Doch genau wegen dieser Möglichkeit habe ich ja damals Squalljacke und Cityslipper bei Land’s End gekauft und nirgendwo anders. Nur deshalb.
Im Grunde handelt es sich dabei nicht mal um einen Kauf, sondern um ein sehr lang laufendes Leihgeschäft. Damals, 2005 und 2007, zahlte ich die komplette Leihgebühr im Voraus, erhielt dafür allerdings auch das Recht der unbefristeten Nutzung. Lands’ End konnte das Geld anlegen, mit ihm spekulieren nach Herzenslust, es in der Finanzkrise in Derivate versenken, was auch immer. Aber: Eines Tages, das wusste Lands’ End, würde ich ankommen, eine ausgefranste Jacke und rissige Schuhe abliefern und die komplette Leihgebühr zurückverlangen.
So ist der Deal. Und jeder, der nicht so vorgeht, schenkt Lands’ End letzlich Geld. Denn alle Rücksendungen sind natürlich schon eingepreist. Die sind ja nicht blöd.
Warum ich mich trotzdem schäme? Fragen Sie Freud, Precht, Erlinger oder am besten gleich die vorwurfsvoll stummen Moralapostel von Lands’ End. Aber bitte nicht mich.
Überall franst es aus, der Jackenreißverschluss ist altersmüde, der Schuh rissig, vor allem über der Ferse. Also schicke ich den ganzen Schamott zurück und lasse mir den Kaufpreis erstatten, auch nach drei bzw. fünf Jahren Gebrauch. Schließlich ist genau diese Möglichkeit das Alleinstellungsmerkmal von Lands’ End: Rücksendung jederzeit möglich, lebenslang, „guaranteed. Period“.
Merkwürdigerweise empfinde ich beim Gang zur Post dennoch stets ein Gefühl der Scham – so, als beanspruchte ich etwas, das mir nicht zustünde. Doch genau wegen dieser Möglichkeit habe ich ja damals Squalljacke und Cityslipper bei Land’s End gekauft und nirgendwo anders. Nur deshalb.
Im Grunde handelt es sich dabei nicht mal um einen Kauf, sondern um ein sehr lang laufendes Leihgeschäft. Damals, 2005 und 2007, zahlte ich die komplette Leihgebühr im Voraus, erhielt dafür allerdings auch das Recht der unbefristeten Nutzung. Lands’ End konnte das Geld anlegen, mit ihm spekulieren nach Herzenslust, es in der Finanzkrise in Derivate versenken, was auch immer. Aber: Eines Tages, das wusste Lands’ End, würde ich ankommen, eine ausgefranste Jacke und rissige Schuhe abliefern und die komplette Leihgebühr zurückverlangen.
So ist der Deal. Und jeder, der nicht so vorgeht, schenkt Lands’ End letzlich Geld. Denn alle Rücksendungen sind natürlich schon eingepreist. Die sind ja nicht blöd.
Warum ich mich trotzdem schäme? Fragen Sie Freud, Precht, Erlinger oder am besten gleich die vorwurfsvoll stummen Moralapostel von Lands’ End. Aber bitte nicht mich.
08 September 2010
07 September 2010
Alles Handarbeit (würg)
Unangefochtenes Zentrum des in Hamburg weltberühmten Galãostrichs am Schulterblatt ist das Transmontana, das hier schon mehrfach wohlwollend Erwähnung fand.
Das Transmontana ist ein hochcharmantes portugiesisches Café mit einem Bestelltresen direkt links hinter der Eingangstür, so dass die Gästeschlange immer den Durchgang versperrt. Und im Transmontana ist immer Schlange. Der Laden ist in der Schanze beliebt bis zur Vernarrtheit, hier kaufen Studenten, Werber und Autonome in friedvoller Eintracht ihre Natas. Oder ihre Sandwiches – und die sind das Problem.
Die einzelnen Zutaten liegen griffbereit in sichtbaren Schalen unterm Glastresen, und wenn eine der anscheinend nach strikt ethnischen Kriterien ausgewählten Tresendamen (alles Portugiesinnen, wie’s scheint) ein Sandwich ofenfertig kompiliert, dann läuft das so:
Zunächst greift die stets dralle, offensichtlich unaufhaltsam dem Matronenhaften entgegenevolvierende Tresenfrau mit durchaus wurstigen Fingern in den Mozzarella und knatscht ihn auf die gebutterten Brötchenhälften. Dann grabscht sie so grob wie geübt in die Salamischale, pappt die Wurst auf den Käse, ehe sie ihre weiterhin ungewaschenen Flossen im Tomatenkübelchen versenkt. Dort fischt sie zwei tropfende Scheiben heraus, packt sie aufs Brötchen und matscht sie genüsslich mit bloßen Händen fest auf den Rest.
Zwischen zwei Sandwiches kassiert Ms. Salmonella Kaffee ab, nimmt speckige 10-Euro-Scheine entgegen und kramt im menschenfettverschlierten Münzwechselgeld. Und schon wühlen sich ihre glänzenden Finger wieder durch Käse, Wurst und Tomaten …
Dass die Sandwiches nach der eklen Prozedur in einer Art Waffeleisen mehrere Minuten lang erhitzt werden, ist zwar in erster Linie rezeptkonform; doch gleichzeitig dürfte das die komplette Entvölkerung des Schanzenviertels durch Streptokokkeninfektionen etwas hinauszögern.
Grundsätzlich wäre dieser Entvölkerungseffekt womöglich sogar zur begrüßen, dann sänken wenigstens die Mieten wieder und Schilder wie das abgebildete würden überflüssig. Doch damit entzöge sich das Transmontana zugleich auch seine eigene Geschäftsgrundlage, und das kann keiner wollen.
Wir kaufen dort übrigens stets nur Natas (gebenedeit sei ihr Erfinder). Die holen sie im Transmontana nämlich immer nur mit Zange vom Tablett, weiß der Teufel warum.
06 September 2010
05 September 2010
Eat this, Sarrazin!
Drei etwa 16-jährige Jungs anscheinend türkischer Herkunft steigen in St. Pauli in die U3, ordnungsgemäß dokumentiert von der abgebildeten Überwachungskamera.
Einer hat eine Zeitung dabei und zitiert aufgeregt die Titelschlagzeile: „Boah, Sex an der Uni, Digger!“ Die Drei setzen sich hastig nebeneinander, blättern in der Zeitung und stecken erregt die Köpfe zusammen.
Offensichtlich gefällt ihnen, was sie sehen. „Wow!“, entfährt es jedenfalls einem. Doch erst sein Kumpel bringt alles auf den Punkt:
„Ich geh auch Uni, Digger!“
Dieser zufällig mitgehörte, am Ende nicht unbedingt vor Grammatik, aber vor Emphase platzende Dialog zeigt beispielhaft, mit welch einfachen Mitteln man junge Menschen mit Migrationshintergrund dazu motivieren kann, eine akademische Karriere anzustreben – und somit das vermeintliche Schicksal ererbter Minderintelligenz zu kompensieren.
Also: Eat this, Sarrazin!
04 September 2010
Abfackeln ja – aber erst ab 50 Mille!
So, heute findet mal wieder unser lustiges und daher bundesweit bekanntes Schanzenfest statt.
In den letzten Tagen sollen Autonome im Viertel ein aufs Fest einstimmendes Flugblatt verteilt haben, in dem angeblich steht, das begleitende Abfackeln herumstehender Autos sei durchaus genehm – allerdings nur, sofern das Zielobjekt mindestens 50.000 Euro gekostet habe.
Wie kommen die Jungs und Mädels auf diesen Betrag? Klar, sie sind AUTOnome, also müssen sie was von Autos verstehen, aber die Berechnungsbasis würde mich schon auch en detail interessieren. Dürfte man als Autobesitzer zum Beispiel die Abwrackprämie gegenrechnen? Das sind so Fragen.
Wie auch immer: Jeder, der im Rahmen des Schanzenfestes Autos verbrennen möchte, sollte tunlichst eine Preisliste aktueller Modelle mit sich führen, damit ihm kein Fehler unterläuft. Sonst verdächtigt er vielleicht versehentlich einen völlig unschuldigen Mercedes E 250 CDI (204 PS, 6-Gang) der Abfackelbarkeit – dabei kriegt man den im Web schon für 49.861 Euro; ich habe recherchiert.
Es ist halt wie bei der Steuerprogression: Hast du irgendwann auch nur einen lausigen Euro zu viel, schnappt die Falle zu – wie zum Beispiel beim abgebildeten VW Touareg 3.0 V6 TDI (239 PS, 8-Gang-Automatik; Foto: VW) mit dem aber auch wirklich saudummen Listenpreis von 50.700 Euro.
Autonome sind also gewissermaßen wie das Finanzamt – und in ihrer strammen Orientierung an Grenzwerten sehr deutsch. Beruhigend, irgendwie.
03 September 2010
02 September 2010
Fundstücke (99): Darauf muss man erst mal kommen
Ein Laden in der Weidenallee offeriert Do-it-yourself-Särge.
Man muss sie zwar nicht selbst aus dem Baum hauen und dann zusammenzimmern, kann sie aber beliebig bemalen oder beschriften. Am besten natürlich noch zu Lebzeiten (ausgenommen Leute wie Lazarus sowie Zombies und Vampire).
„Wenn Sie Ihren eigenen Sarg gestalten“, erläutert gutgelaunt die kitabunte Infotafel, „kann Sie das stark in Ihr eigenes Zentrum führen.“ Mit allen Risiken und Nebenwirkungen wohlgemerkt, die manchermanns Zentrum zu bieten hat. Doch das verschweigt die Infotafel pietätvoll.
Gleichwohl ist das Ganze eine hübsche Idee. Man sollte sie aber allein schon aus aufwandsökonomischen Gründen nicht mit einer Feuerbestattung kombinieren.
01 September 2010
Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (33): Das verwaiste Freilufthotel
An der Westseite der Endoklinik nahm im vergangenen Jahr der Pole Arkadiusz Kossar eine Weile lang das „Obdachlos Hotel“ in Besitz. Genau genommen hatte er die Brache mit Ruinenresten selbst so getauft.
Es war ziemlich nett dort, mit Blumenvase, Tisch und Sesseln – also fast wie im gutbürgerlichen Wohnzimmer, nur halt draußen. Irgendwann musste er weg, der Arkadiusz, doch die Endoklinik hat sein „Obdachlos Hotel“ seither praktisch im Urzustand belassen. Die halbherzigen Bemühungen führten bislang nur zu einem Bauzaun, und auch der hat schon wieder gelitten unterm stummen Vandalismus des Prekariats – oder unter besoffenen BMW-Fahrern, die den Zaun als externe Bremse zweckentfremdeten.
Ein melancholischer Ort jedenfalls, den Arkadiusz Kossar sicher gern noch ein Jährchen länger in Beschlag genommen hätte, um von dort aus täglich gewissenhaft seiner Pfandflaschensammelleidenschaft nachzugehen.
Immerhin sind seine Aufschriften übriggeblieben, natürlich auch – direkt unter dem Wort „Hotel“ – ein „Ave Maria“. Das musste sein, ob obdachlos oder nicht. Schließlich ist er Pole, die teilen nun mal alle ein christliches Gen, nicht wahr.
31 August 2010
Das Kreuz mit dem Kreuzchen
Die SPD will nach ihrer erneuten Machtergreifung das Ehegattensplitting für Kinderlose abschaffen, was sie für uns zwei Kinderlose schlagartig aus dem Wählbarkeitsuniversum hinauskatapultiert.
„Diese Idee der SPD ist nichts weiter als eine Strafsteuer für Reproduktionsverweigerer! Eine Gebärprämie durch die Hintertür!“, rege ich mich auf, und nicht mal künstlich. „Ausgerechnet jetzt, wo Andrea Nahles schwanger ist“, analysiert Ms. Columbo bestechend hellsichtig, „das kann kein Zufall sein.“
Damit hat sie natürlich völlig recht – und unsereins allmählich überhaupt keine Wahlalternative mehr. Denn gehen wir sie doch mal spaßeshalber einzeln durch:
Merkel hat mit Westerwelle koaliert, das disqualifiziert die CDU noch mal weit über das sowieso übliche Maß hinaus; Künast glaubt an Homöopathie, und so eine darf man nicht mal in die Nähe irgendeines Schalthebels lassen, schon gar nicht den der Macht; die Linke ist ein sich selbst zerfleischendes Chaotentrüppchen ohne Konzept, aber erschwerenderweise mit Lafontaine – und die Rechten eh jenseits jeglicher Diskussion.
Bleibt also im Grunde doch nur wieder die Partei DIE PARTEI. Oder gründet jemand schnell vor den nächsten Neuwahlen noch was Wählbares, vielleicht mit einer sympathischen Hauptforderung, wie ich sie unlängst – und zwar hocherfreut, obwohl ich Wein bevorzuge – auf einer Wand in der Bernhard-Nocht-Straße entdeckte?
Wir sind echt für jeden Scheiß dankbar.
30 August 2010
Gesabbel
Der Gebrauch von Schirmen ist in Hamburg eine recht zwiespältige Sache. Einerseits werden sie manchmal benötigt, weil es hie und da, selten, ab und zu, eigentlich so gut wie nie: regnet.
Oftmals aber geht dieser superseltene Regen auch noch mit Wind erklecklicher Stärke einher, und das behagt den hiesigen Schirmen überhaupt nicht. Dann schmollen und bocken sie, klappen um, knicken ein, brechen zusammen, entscheiden sich also für eine dauerhafte Dysfunktion und wollen entsorgt werden. Und das erledigt der zivilisierte Hamburger zum Glück fast nie über den Rinnstein, sondern über die gerne mal kalauernden Mülleimer.
Was ich eigentlich damit sagen will, ist ziemlich unklar, doch wenigstens liefert dieses Gesabbel eine Rechtertigung fürs heutige Foto.
Oftmals aber geht dieser superseltene Regen auch noch mit Wind erklecklicher Stärke einher, und das behagt den hiesigen Schirmen überhaupt nicht. Dann schmollen und bocken sie, klappen um, knicken ein, brechen zusammen, entscheiden sich also für eine dauerhafte Dysfunktion und wollen entsorgt werden. Und das erledigt der zivilisierte Hamburger zum Glück fast nie über den Rinnstein, sondern über die gerne mal kalauernden Mülleimer.
Was ich eigentlich damit sagen will, ist ziemlich unklar, doch wenigstens liefert dieses Gesabbel eine Rechtertigung fürs heutige Foto.
29 August 2010
28 August 2010
Die Unaussteigbaren
Unfall im Elbtunnel (35 km Stau!), Kabelbrand in der U-Bahn, die unterbrochene Linie U3, Bauarbeiten auf der Ost-West-Straße, Dauerregen: All das machte es heute nicht gerade zu einem Vergnügen, in der Stadt unterwegs zu sein – vor allem nicht per Bus.
„Momentan“, informierte uns irgendwann eine gebrochene Stimme aus der Leitstelle, „haben manche Linien 70 Minuten Verspätung.“ Dabei wollte ich doch nur vom Zahnarzt in der Neustadt nach Hause, nichts wie nach Hause; stattdessen stand ich nun klitschnass in der Mitte eines 37er-Schnellbusses, der alles daran setzte, seinen Beinamen zu widerlegen, und zwar mit überwältigendem Erfolg.
Ich war eingequetscht zwischen denen, die von der Vordertür aus herandrängten, und jenen, die ebendies über die mittlere Tür versuchten. Eine bebrillte Resolute in Fahrernähe rief in kompletter Unkenntnis der Gesamtsituation über Köpfe und Schultern hinweg nach hinten: „Gehen Sie doch ein Stückchen weiter! Wenn jeder noch zwei Zentimeter schafft, ist schon viel gewonnen!“
Doch Theorie und Praxis sind tödlich verfeindete Geschwister, sie meiden sich tunlichst, vor allem in einer Sardinenbüchse der Linie 37. Und deshalb ließen wir die gute Frau, die der irrigen Auffassung war, mitten in der Krise an sich Führungseigenschaften festgestellt zu haben, einfach plappern.
An der Michaeliskirche wollte die ebenfalls sehr redselige Rollstuhlfahrerin hinter mir hinausrollen, was hier, in der Busmitte, mit allgemeiner, indes stillschweigender Erleichterung zur Kenntnis genommen wurde. Damit sie sich in Bewegung setzten konnte, musste allerdings die Rampe ausgeklappt werden, und das ist in einem vollen Bus problematisch, denn viele Leute stehen auf dieser Rampe und bewegen sich nur höchst ungern dort weg.
Es ist ein merkwürdiges, doch gerichtsfest nachweisbares Massenphänomen in Hamburg, dass sich der moderne Nutzer des ÖPNV, der an der aktuellen Haltestelle noch nicht aussteigen möchte, störrisch weigert, den Bus kurz zu verlassen, um das geordnete Aussteigen anderer zu ermöglichen.
Stattdessen balanciert er lieber waghalsig auf der Treppenkante, quetscht sich ungeachtet ästhetischer Erwägungen an den ebenso störrischen Drinbleiber neben ihm, presst sich verzweifelt an die Rückseiten der Sitzlehnen, zieht ängstlich Bauch und Knie ein – all das, um ja nicht für fünf Sekunden den Bus verlassen zu müssen.
Die Rollstuhlfahrerin hat es trotzdem irgendwann geschafft, und wir, die Zurückgebliebenen und neu Hinzugequetschten, schlichen weiter durch den Regen gen St. Pauli – in einem rund 70 Minuten verspäteten Bus, der allerdings, wie ich mich behaglich erinnerte, am Rathausmarkt in ebenjener Sekunde vorgefahren war, als ich die Haltestelle erreichte.
Alles eben eine Frage des Timings, auch an Regenchaostagen wie diesem.
27 August 2010
Das beste Bier der Welt
Es gibt übrigens unpeinlichere Gespräche als das mit einer zuckersüßen Arzthelferin, die dir den Gebrauch eines Spatels zur Stuhlentnahme erläutert – und das auch noch übertrieben detailreich.
Zu den angenehmeren Gesprächen jedenfalls gehören jene mit German Psycho, ramses101 und Cinema_noir, wie ich heute (wieder mal) hocherfreut feststellen durfte, und zwar im Herz von St. Pauli auf dem Spielbudenplatz (Foto).
Von der Gottesfrage über das beste Bier der Welt („Rebellion“ laut ramses101, was unbeweisbar ist, weil diese britischen Brauer sich – wohlweislich? – weigern, es in Flaschen abzufüllen) bis zu Hanekes Metaansatz war alles dabei, natürlich auch eine Diskussion über die (überschätzte?) Relevanz der 80er, alles begleitet und befeuert von Moselriesling (für mich) und Astra (für den Rest).
Leider hat dieser spezielle Sprit auch dazu geführt, dass der funkelnde Esprit unserer Gespräche meiner Erinnerung nur noch verschwommen und somit nicht zitabel zugänglich ist. Am deutlichsten haften blieb lediglich eine erneute Verabredung, und zwar für heute, also Freitagabend im Café Mexico, wo die mexikanisch-amerikanische Sängerin Tish Hinojosa auftreten wird.
Ab halb 9 werden wir dort herumlungern (bis auf ramses101, der nach London fährt, um dort Rebellion zu trinken), und wer nicht kommt, der wird bei Twitter entfolgt, und zwar standrechtlich.
26 August 2010
25 August 2010
Ein doppeltes „Das geht nicht“
Warum bloß vergrätzen uns Gastronomie und Einzelhandel bisweilen lieber mit Prinzipienreiterei, anstatt uns zum Segen künftiger Gewinne lieber mit ein bisschen Flexibilität bei der Stange zu halten?
Gleich zwei Beispiele von heute lassen mich ratlos diese systemkritische Frage stellen. Beispiel 1: das Café Leinpfad, eine höchst idyllisch am Alsteranleger gelegene Gaststätte. Wir wollten zwei Gutscheine über je ein großes Frühstück dort einlösen, die wir im Internet erworben hatten. Allerdings erbat Ms. Columbo einen Orangensaft statt Sekt, und ich wünschte mir statt des offerierten Fleischsalats lieber etwas mehr Käse. Das war alles; eigentlich keine Herausforderung für die deutsche Gastronomie im 21. Jahrhundert.
„Das geht leider nicht“, beschied uns allerdings die Kellnerin. „Nur genauso, wie es im Internet stand.“
Dabei wäre das Café Leinpfad mit O-Saft sogar billiger weggekommen als mit Sekt, es hätte also ein Geschäft gemacht. Wir diskutierten und argumentierten, doch die Haltung der Dame erwies sich als ebenso verfestigt wie inzwischen unser stillschweigender Entschluss, das Café Leinpfad hinfort nie mehr freiwillig aufzusuchen – dabei sollte diese Gutscheinaktion im Internet doch neue Kunden werben.
Auch wenn die sture Dame später wortlos doch zugunsten von etwas mehr Käse den Fleischsalat wegließ: Das Café Leinpfad ist künftig tabu. Die können ihren Fleischsalat gerne selber mümmeln.
Auf der Tabuliste steht seit heute auch der Applehändler Gravis in der Innenstadt, das Beispiel Nummer 2. Ich war mit meinem 2007 dort gekauften MacBook vorstellig geworden, weil dessen Verschluss defekt war; das Chassis musste auf Garantie ausgetauscht werden, mehr nicht. Deswegen wollte ich aber meinen Rechner nicht tagelang bei Gravis herumstehen lassen und schlug vor, nach dem Eintreffen des Ersatzteils vorbeizukommen, den Austausch abzuwarten und den Rechner gleich wieder mitzunehmen.
„Das geht nicht“, beschied mir die Dame bei der Reparaturannahme, als sei sie die eineiige Schwester derer vom Leinpfad.
Der Rechner, führte sie weiter aus, müsse dableiben, weil es nämlich schon vorgekommen sei, dass Kunden Ersatzteile nicht abgeholt hätten, die somit zurückgeschickt werden mussten.
Für mich klang das alles wie Klingonisch. Vor drei Jahren hatte ich zweieinhalbtausend Euro dort gelassen, und jetzt wollten sie meinen Computer tagelang konfiszieren wegen eines Ersatzteils, das in weniger als einer Viertelstunde ausgetauscht werden konnte?
„Okay“, sagte ich, vom Leinpfadvormittag noch etwas erschöpft, „dann verpflichte ich mich gern schriftlich, das Ersatzteil trotz Garantie zu bezahlen, wenn ich aus irgendwelchen absurden Gründen mit dem MacBook nicht mehr vorbeikommen sollte. Wo kann ich unterschreiben?“
Die Gravisfrau bat um Geduld, sie müsse nachfragen. Dann ging sie fort und kehrte kurz darauf wieder mit der niederschmetternden Botschaft: „Das geht leider wirklich nicht.“
Inzwischen hatte sich bei mir längst der stillschweigende Entschluss verfestigt, nie mehr irgendwas bei Gravis zu kaufen, vor allen Dingen nicht das nächste zweieinhalbtausend Euro teure MacBook, dessen Update etwa 2011 ansteht.
Stattdessen werde ich mit diesem Anliegen in die Schanze gehen, und zwar zu Arndt und Bleibohm, die eh mein Blog mögen, immer mal wieder Einträge in ihr Kundenmagazin übernehmen und mir den Rechner vielleicht sogar ein bisschen billiger überlassen.
Warum also vergrätzen uns Gastronomie und Einzelhandel bisweilen lieber mit Prinzipienreiterei, anstatt uns zum Segen künftiger Gewinne lieber mit ein bisschen Flexibilität bei der Stange zu halten? Bin ich etwa zu empfindlich – oder werden die allmählich so kundenfreundlich wie Seinfelds Soup Nazi?
Wer jetzt augenrollend kommentieren möchte, dieser Beitrag sei (mal wieder) ein bedrückendes Beispiel für viel Lärm um fast nichts in diesem Blog, der kann sich das sparen.
Das weiß ich nämlich selber. Und zwar am besten.
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