27 Juni 2007

Meine Jacke ist gefährlich

Heute besuchen wir die Otto-Dix-Ausstellung im Bucerius-Kunstforum am Rathausmarkt. Lässig trage ich meine Jacke überm Arm.

Plötzlich tritt eine Aufseherin an mich heran und beginnt mich alarmierend großäugig anzuflüstern. Ich möge doch bitte, insistiert sie, die Jacke nicht überm Arm, sondern besser um die Hüfte gebunden tragen oder gerne auch anziehen; alternativ stünde es mir frei, sie der Garderoberie anzuvertrauen, die ein Stockwerk tiefer ihrem verdienstvollen Tagwerk nachginge.

„Ähm“, wundere ich mich, „warum darf ich denn meine Jacke nicht überm Arm tragen?“ Ihre Erklärung liefert ein Beispiel für das unkaputtbare Etikett „Typisch deutsch“, das mich in der Regel ärgert, weil mich Klischees meistens ärgern, hier aber hilflos macht. Denn die Erklärung ist einfach entwaffnend bizarr.

Sie sagt nämlich: „Das hat versicherungsrechtliche Gründe. Wenn Sie die Jacke überm Arm tragen und sich umdrehen, dann könnte der Reißverschluss andere gefährden.“

In der Tat hatte ich meinen Jackenreißverschluss bisher nicht im Verdacht, die öffentliche Ordnung bis hin zur Versicherungsrelevanz zu gefährden. Aber man lernt ja nie aus.

Folgsam binde ich mir also die Jacke um die Hüfte – und schaue mir das nächste Gemälde von Otto Dix an, auf dem eine fette, rauchende, schlauchbrüstige Hure sich einem Matrosen anbietet, der lüstern grinsend sein luziferianisches Wesen zur Schau stellt.

Beim nächsten Mal will ich die wilden Dix-Bilder (von denen sie hier eins sogar hinter einem roten Vorhang versteckt haben) auf dem Kiez sehen. Am besten in einem Pornokino in der Seilerstraße oder im Laufhaus an der Reeperbahn – also dort, wo von Reißverschlüssen nur eine Gefahr ausgeht: dass sie sich beim Aufzippen irreparabel verhaken.

26 Juni 2007

Mit Kutis Groove durch Westpommern



Wir jagen im Zug durch die Kaschubei nach Westen.

In Rumia sind alle Häuser schlammfarben, doch plötzlich strahlt ein blaues Dach surreal auf im Licht der launischen Sonne. Nah an den Gleisen schaukelt ein Kind, bewacht von seiner Mutter.

Ein halbfertiger Rohbau liegt rot und traurig da im Stillstand des Sonntags, während mir Grayson Capps sein „Mercy“ ins Ohr singt. Verlassen steht ein grüner Bus auf einem menschenleeren Platz in Wejherowo. Er ist der heimliche Bruder des traurigen Rohbaus; den Score dazu liefert Bert Janschs Folkmelancholie „Magdalina’s dance“.

Ich verbringe die meiste Zeit im Gang am offenen Fenster, und als mich niemand sieht, werfe ich ein gebrauchtes Papiertaschentuch heimlich hinaus in den Fahrtwind – Dünger für die polnische Krume …

In der weiten Tieflandebene vor Wiekowo steht ein Fuchs reglos auf einer Wiese zum baldigen Schaden einer Maus, lauernd, konzentriert und unbeeindruckt vom Rattern unseres Zugs, von der Zeit, dem Universum und davon, dass in zwölf Milliarden Jahren die Sonne die Erde auf großer Flamme braten wird, auch Polen.

Von Runowo bis Ulikowo, also fast durch halb Westpommern, legt Fela Kutis halbstündiges „Beast of no nation“ den richtigen Groove unters Stampfen des Zugs, während ich die Nase in den Wind halte, und ich verwettete Haus und Hof, dass noch nie irgendein Mensch die Zugfahrt zwischen Runowo und Ulikowo mit Kutis „Beast of no nation“ verbracht hat.

Das verändert den Blick auf die Landschaft, o ja, und der Blick verändert die Musik, das hätte ewig so weiter gehen können. Doch jetzt sind wir wieder zurück auf St. Pauli, die meisten polnischen Geschichten sind erzählt. Nur die noch nicht von mir in nasser Unterhose am Strand von Brzezno, aber die erzähle ich erst morgen.

Frühestens.

24 Juni 2007

Das dürfte knirschen beim Kauen




Polen ist derart durchkatholisiert, dass es selbst beim Übersetzen die „richtigen“ Fehler macht, nämlich gottgefällige.

Guten Appetit.


23 Juni 2007

Wo ist der Tiger?

Wir wollten einen Wodka trinken, und zwar in Dariusz Michalczewskis höchstpersönlicher Danziger Kneipe, dem Tiger Pub.

Als wir in der Rajska-Straße vorm Haus Nummer 4c standen, präsentierte sich uns allerdings nur eine fleckige Fassade samt traurig vor sich hin rottender Tür. Nichts davon hatte irgendeinen Boxbezug.


Offenbar war des Tigers Kneipierskarriere ähnlich zu Ende gegangen wie seine Boxerlaufbahn: mit einer Niederlage. Also gingen wir in eine Kneipe um die Ecke und orderten dort zwei Smirnoff.

Schon nach wenigen Schlucken erkundigte sich Ms. Columbo besorgt: „Kann es sein, dass ein Wodka mehr reinhaut, wenn man vorher keinen Wein getrunken hat?“

In dieser Kneipe schenkt man übrigens erheblich außergewöhnlichere Wodkaportionen aus, als es in Michalczewskis Tiger Pub der Fall gewesen wäre. Deshalb wurde es noch ein sssiemlich lussdiger Ahmd.


Lost in desorientation

Ich hätte gern einen perfekten Code, eine mathematische Methode, die ein für alle Mal meine erschreckende Desorientiertheit abschaffte.

Könnte ich zum Beispiel sicher sein, unser Hotel (Foto: eine Innenansicht) läge wirklich immer genau in der entgegengesetzten Richtung von der, die ich vermute, dann wäre alles gut. Ich stapfte einfach los in die „falsche“ Richtung und stünde alsbald vor der Unterkunft.

Manchmal ist es auch wirklich so – tätä! –, meistens aber ganz und gar nicht. Das Problem: Es gibt so viele Richtungen.

Vor allem die schrägen, diagonalen, abknickenden, ums Eck laufenden, auch die kurvigen, mäandernden, unmerklich gebogenen, Parallelität vortäuschenden machen mir zu schaffen. Sie verwirren mich. Und schon ist das Hotel ganz woanders.

Ich hätte gern deine Orientierungsgabe, seufze ich zu Ms. Columbo, und würde gern eine meiner Spezialfähigkeiten dagegen eintauschen. Welche denn, fragt Ms. Columbo. Zum Beispiel die, sage ich, noch in 100 Jahren sicher zu wissen, wer „Griechischer Wein“ geschrieben hat.

Reicht mir nicht, sagt Ms. Columbo. Na gut, rufe ich, dann dass Bernd Clüver einst im 20. Jahrhundert „Der Junge mit der Mundharmonika“ gesungen hat: Das würde ich hergeben für Orientierung!

Ms. Columbo aber will noch immer nicht tauschen. „Lady Bump“ von Penny McLean!, spiele ich meinen letzten von weiteren unübersehbar vielen Trümpfen aus. Doch sie will nur tauschen gegen eine echte Gabe und nicht, wie sie schonungslos offen darlegt, gegen Trashwissen.

Also werde ich weiterhin vermuten, das Hotel läge im Norden, werde daraus seine strikt südliche Lage ableiten und es am Ende im halblinken Mittelwesten wiederfinden.

Allerdings nur mit Ms. Columbos Hilfe.


22 Juni 2007

Die Wodkafrage

Am Strand von Sopot, unweit der Mole (Foto), habe ich wie neulich angekündigt nach Bernstein gegraben. Allerdings war das Spektakulärste, was ich fand, ein Vogelfuß.

Er war frisch abgerissen und hatte geradezu storchartige Ausmaße. „In der Ostsee gibt es doch Haie!“, verkündete ich aufgeregt. Als mich danach bei einem längeren Schwimmausflug etwas am Bein streifte, fiel mir dieser Satz wieder ein. Ich beschleunigte.

Meine vogelfußinduzierte Grundmulmigkeit wird zusätzlich verstärkt durch die hiesige Meeresfarbe. Es handelt sich um ein matschmattes Braungrün, welches schon nach wenigen Zentimetern jeden Blick in die Tiefe verhindert.

Wie nah meine Beine und Füße eventuell herumdümpelnder alienartiger Fauna kommen, bleibt also völlig im Trüben, erregt aber umso mehr die Fantasie. Ich beschleunige.

Abends nach dem Essen bestelle ich zwei Wodka, und der Ober rasselt mir ein halbes Dutzend zur Auswahl runter. „Ok, the best one!“, sage ich so ratlos wie forsch, wofür mich Ms. Columbo sogleich kritisiert.

„Ja, was hätte ich denn sagen sollen?“, errege ich mich, „the worst one? The cheapest one?“

„Nein“, sagt Ms. Columbo, „the strongest one.“ Versteh einer die Frauen.


Pragmatismus auf polnisch

Viele Männer hier humpeln. Wir sehen Krücken, steife Beine, grenzbelastete Gehstöcke. Polen scheint in orthopädischer Hinsicht eine Gefahrenzone zu sein. Der lahme Mann Europas.

Legte man eine normale Fortbewegungsfähigkeit zugrunde, dann kommt Polen ungefähr auf die Quadratwurzel davon. Zu dieser Problematik passt die abgebildete Telefonzelle.

Wie hat man sie zur behindertengerechten Version umgebaut? Man riss ihr einfach die Tür raus und setzte ein Rollstuhlsymbol aufs Dach.

Pragmatismus auf polnisch.

21 Juni 2007

Polnische Prioritäten


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Dem Bier bringen die Polen viel Verehrung entgegen. Höchstens der Papst steht noch höher im Rang.

Trotzdem habe ich noch in keiner Danziger Kneipe eine derart altarähnliche Inszenierung Benedikts gesehen wie für dieses Fläschchen Heineken – siehe Clip.

Ich indes halte mich gerstensafttechnisch ans einheimische Ziwiec (sprich „Tschiwi-etsch“), nicht nur wegen der besseren Klimabilanz, sondern auch aufgrund eines ganz generellen Interesses an jeweils lokaler Kulinarik.

Zur Kuttelsuppe konnte ich mich trotzdem noch nicht durchringen.


20 Juni 2007

Ziemlich Grass

Wir unternahmen einen Ausflug in jenen Stadtteil Danzigs, wo Günter Grass geboren wurde: nach Langfuhr. Die Danziger nennen dieses Viertel allerdings nicht Langfuhr, sondern Wrzeszcz.

Das macht einen einsamen Vokal auf acht Buchstaben – und klingt, als versuchte man das Wort „Wirsingschaschlik“ auszusprechen, während man ein klitschnasses Leinenbeutelchen im Mund hat, das mit Günter Grass’ und Lech Walesas Schnurrbarthaaren gefüllt ist.

„Walesa“ ist übrigens eine lachhaft unzureichende deutsche Schreibweise für den Namen des polnischen Expräsidenten. Das hiesige durchgestrichene l ist in Wahrheit nämlich ein W-Laut, so ähnlich wie im englischen „water“. Und das e in Walesa hat ein Häkchen untendran, was es als Nasallaut kennzeichnet.

Man sagt also so etwas Ähnliches wie „Wawengsa“, wenn man von Lech spricht, was in Polen aber nicht mehr allzuviele Leute tun. Von Grass indes hört und sieht man hier auch wenig, und so richtig weiß man auch in Wrzeszcz nicht Bescheid über den Nobelpreisträger.

Wir waren frohgemut ohne Stadtplan hingefahren und wollten uns durchfragen. War schwierig. Von der Straße, in der sein Geburtshaus steht, der Ulica Lelewela, hatten zwar einige Wrzeszczer und Wrzeszczerinnen schon mal gehört, doch wo genau die liegt: großes Fragezeichen.

Schließlich standen wir doch vor einem grauen Reihenhaus mit tiefhängenden Fenstern, an dessen Fassade eine kleine weiße Gedenktafel an den berühmtesten Danziger erinnert. Dann verließen wir Wrzeszcz wieder, um uns an den Strand zu legen.

Abends aßen wir dann kein Wirsingschaschlik, sondern das polnische Nationalgericht Bigos, was aber wenigstens so ähnlich aussieht.

19 Juni 2007

Einmal Hölle und zurück

Die Frau am Schalter kann englisch. „Two tickets to Hel“, sage ich und meine damit die Danzig vorgelagerte Halbinsel. Trotzdem verspüre ich aus rein phonetischen Gründen sofort das dunkle Bedürfnis, diesen Satz zu ergänzen: „And back, please!“, sage ich sicherheitshalber.

„To Hel only at weekends“, bedauert die Schalterfrau. Immerhin: Sie hätte mir ggflls. auch Rückfahrkarten verkauft. In einem erzkatholischen Land wie Polen nicht gerade selbstverständlich.

Die wahre Hölle begann übrigens in der Tat hier ganz in der Nähe, nördlich von Danzig nämlich: der Zweite Weltkrieg. Westerplatte heißt der Ort an der Weichselmündung, wo am 1. September 1939 das deutsche Schiff Schleswig-Holstein einen polnischen Militärstützpunkt anlasslos beschoss. Der Rest ist grausame Geschichte.

Wir lösten auf dem abgebildeten Dreimaster Lew zwei Karten, freilich ohne uns als Deutsche zu outen.

Am Wochenende geht es dann nach Hel, aber nur bei himmlischem Wetter.

18 Juni 2007

Dahin, wo Kinski einst wegging

Im Seebad Zoppot, nur 20 Zugminuten von Danzig entfernt, wurde Klaus Kinski geboren. Deshalb habe ich Christian Davids Biografie des Weltstars mit auf die Reise genommen und gestern Abend 200 Seiten davon weggelesen.

Natuerlich musste ich Ms. Columbo nach Zoppot verschleppen; sie wehrte sich nicht. Hier herrschte heute eine merkwürdige Atmosphäre, sie erinnert an Louis Malles Film „Atlantic City“. Dabei ist gar kein Winter mehr, sondern schon Vorsaison, das Meer hat bald 20 Grad.

Doch heute war dort die See bleigrau von den schweren Wolken, die der Wind von Westen herüberschickte, und ein halbherziger Regen benieselte lautlos die Mole.

Als wir kamen, verließ gerade die letzte Schulklasse stumm die über 500 Meter lange Brücke. Wir standen schließlich allein an der bugförmigen Spitze und schauten hinaus auf die Ostsee, wo eine Phalanx von Schiffssilhouetten am Horizont festgefroren war.

Hinter uns – fast so weit entfernt, wie die Reeperbahn lang ist – verfiel unmerklich weiter das trutzige Grand Hotel, das schon in den späten 20ern hier gestanden haben muss, als der kleine Kinski am Strand nach Bernsteinbrocken grub.

In Bahnhofsnähe liegt Kinskis Geburtshaus, dort haben sie nach langem, erbittertem Streit über den promisken Wüterich erst vor wenigen Jahren eine Gedenkstätte zugelassen und im Erdgeschoss einen schummrigen Pub mit burgunderfarbenen Wänden und Tischdecken eingerichtet.

Ich bestelle als Reminiszenz und auf eigenes Risiko ein Piwo Nosferatu von der rein polnischsprachigen Karte. Es kommt ein Bier, das mit rotem Saft (wahrscheinlich Blutorange) eingefärbt wurde; der Strohhalm im Glas erschreckt mich sehr, doch das Ganze schmeckt nicht einmal übel. Besser jedenfalls als Jungfrauenblut (wie ich vermute).

Von den Wänden schauen Kinskis in allen Posen und Rollen: als Aguirre, als Vampir, als Woyzeck und als düsterer Westernheld. Dazu läuft die ganze Zeit Massive Attack. Wahrscheinlich hätte Kinski nach Paganini gebrüllt, den CD-Spieler durch die Scheibe gepfeffert und mit brennenden Kerzen nach der Bedienung geworfen.

Außer im Pub an der Kosciuszki-Straße 10 scheint der einzige Bewohner Zoppots, der es je zu Weltruhm brachte, in der Stadt nicht präsent zu sein. An der Mole konzentrieren sich die Straßenmaler auf Karikaturen von Marilyn Monroe, Elvis Presley oder Angela Merkel, doch keiner kommt auf die Idee, auch Kinski zu malen.

Keine Zoppot-Postkarte zeigt sein Konterfei, nirgends weist ein Schild auf sein Geburtshaus hin. Die Stadt scheint sich noch immer zu schämen für ihn; was zu seinen Lebzeiten galt, gilt auch posthum: Mit Kinski kam und kommt keiner aus. Wir verlassen die Pub Galeria Kinski gegen 19 Uhr, kurz nach „Unfinished sympathy“.

Jedes Seebad der Welt lässt sich deprimieren vom Nieselregen, überall. Und so ging es heute auch Zoppot. Kinski zog mit sechs hier weg und kam nie mehr zurück.

Wir aber werden wiederkommen, mit Bikini und Badehose – sobald die Sonne die bleigraue Ostsee wieder blau färbt.

Und ich werde am Strand nach Bernstein graben.

17 Juni 2007

Taubenfutter zweckentfremdet

Warum sieht man nach einer Nacht im Liegewagen eigentlich immer so aus, als wäre man Stefan Hentschels Sandsack? Uebrigens fuehlt man sich auch genauso. Dabei ist doch nichts weiter passiert, als dass man ein paar Stunden lang sehr beengt flachgelegen hat. 

Wir werden jedenfalls einen Tag brauchen, um hier in Danzig die Sandsackexistenz wieder einzutauschen gegen etwas Menschenaehnlicheres. Dabei hat es schon mal geholfen, den kleinen Jungen auf dem Marktplatz zu beobachten. 

Seine Eltern hatten ihm Taubenfutter gekauft, was auf St. Pauli strafbar wäre, hier aber als Touristenattraktion sogar gefoerdert wird. Der Kleine hatte aber eine bessere Idee: Er aß das Zeugs lieber selber. Aufschrei bei Mama, feixen bei Matt und Ms. Columbo. 

So kann es weitergehen.

16 Juni 2007

Ciao, Edi!


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Nachmittags radelte ich die Reeperbahn westwärts, bog am Albersplatz illegal links ab auf den Gehweg, umkurvte kühn die schon erstaunlich zahlreichen Flaneure, stoppte jäh vorm Nuttenturm und wurde augenblicks wehmütig.

Zum letzten Mal nämlich würde ich im klapprigen Lift die 14 Stockwerke hochjuckeln und Edi besuchen. Zum letzten Mal würde ich jenen speziellen, rheumabedingten Handschlag auf Schulterhöhe mit ihm austauschen. Und mich zum letzten Mal mit ihm kabbeln über meine Vorliebe, lieber an seinen Astraplastikflaschen zu nuckeln, statt das Bier ins Glas zu gießen.

„Flaschenbier trinkt man aus der Flasche!“, würde ich erneut eine uralte dogmaähnliche Weisheit zum Besten geben, die mich bisher glänzend durchs Leben gebracht hat, und er würde lächelnd den Kopf schütteln und mich unter Verweis auf den plastikverdorbenen Geschmack des Biers umzustimmen versuchen – als wenn es diesen Geschmack (so es ihn überhaupt gibt) beim Gießen ins Glas verlöre.

Und dann würden wir hinaustreten auf seinen lärmumtosten Balkon („Hier oben“, würde Edi wieder einmal unvermindert fassungslos erläutern, „ist es lauter als unten!“), er würde sich eine Zigarette drehen, derweil er die Stärken und Schwächen deutscher Kanzler abwöge und die Authentizität der Tagebücher Thomas Manns bezweifelte; und er würde vor den politischen Fettnäpfchen warnen, in die Ms. Columbo und ich in Danzig tappen könnten, wo wir ab morgen unseren Urlaub verbringen werden.

Ich würde ein wenig mit der Kamera herumspielen und kleine Filmchen von Edi und seiner neuen Piratenflagge drehen, die noch unzerzaust ist vom Kiezwind und stolz und schwarz den in naher Ferne einlaufenden Pötten Grüße hinüberweht.

Unten auf der Kreuzung würden plötzlich Reifen quietschen und es praktisch gleichzeitig gewaltig krachen, was uns unisono an die Brüstung hechten ließe, wo wir uns das kleine große Chaos in der Tiefe genüsslich anschauten wie einen Film von Jacques Tati.

Und dann würden wir uns irgendwann verabschieden, und zwar für lange, denn Edi, der alte Oberfunkmeister,
zieht weg, von der Elbe an die Alpen.

Ich hätte ihn gern früher kennengelernt, würde ich ihm noch sagen. Und er würde mich wie immer warnen vorm klapprigen Lift, der immer wieder steckenbliebe („Das ist ein Abenteuer, das kann ich dir sagen!“), was mich wiederum bewöge, heute lieber alle 14 Stockwerke des Nuttenturms zu Fuß hinabzusteigen, weil meine Stimmung nun mal wehmütig ist und nicht abenteuerlustig.

Und genauso, wie ich es vermutet hatte, kam es auch heute Nachmittag. All das Geschilderte geschah, nichts traf nicht ein.

So denn: Ciao, alter Oberfunkmeister! Bis irgendwann einmal im Allgäu.
Ich hätte dich wirklich gerne früher kennengelernt.

15 Juni 2007

Hentschel revisited

Heute Abend um 22 Uhr sendet Vox eine neue Dokumentation (Foto: Spiegel TV) über den Kiezluden Stefan Hentschel.

Der Mann hat mir auch schon mal Ärger gemacht – allerdings posthum.



Auf Tour de Hur

Die Werbeaufschrift dieses am Hambuger Berg parkenden Kleinwagens weckte spontan derart mein Interesse, dass ich sie vor lauter Aufregung nur verwackelt knipsen konnte.

Das Interesse erlahmte auch nach dem Besuch der Hurentour-Webseite kaum. Gleichwohl scheinen mir 25 Euro recht happig für gute zwei Stunden begleitetes Schlendern durch St. Pauli – zumal dies auf manch schwankendes Gemüt höchst appetitanregende Wirkung haben dürfte, doch am Ende wird es bloß mit einem Hurenschnaps ruhiggestellt.

Man raunt aber auch von der Reichung einer Currywurst, was natürlich eine sehr sinnige Idee ist, allein schon
wegen der Form.

Immerhin steht beim Rundgang auch der Besuch eines einschlägigen Reeperbahn-Kaufhauses auf dem Programm. „Der Besuch des Sexshops“, schwärmt denn auch ein Hurentourtourist auf der Webseite, „hat bei allen Schweizern tiefe aber schöne Spuren hinterlassen.“

Ich glaube, ich frage mal nach einer Presseakkreditierung. Bericht folgt ggflls.

13 Juni 2007

In Sichtweite der Taubenstraße

Tote Tauben auf St. Pauli bieten gewöhnlich einen erbärmlichen Anblick. Meist mussten sie eine deutliche Reduktion ihres Körpervolumens hinnehmen, da ihre Mortalitätsrate vor allem von fatalen Kontakten mit Verkehrsmitteln bestimmt wird.

Nur ganz selten hingegen sieht man Taubenleichen, die eines offenbar natürlichen Todes gestorben sind. Dann sehen sie aus, als schliefen sie.

Vornübergekippt und mit dem Schwänzchen in die Höh ruhen sie auf dem Gehweg, ihre Köpfchen sind traulich zur Seite geneigt, die Taubenwängchen ruhen friedlich auf dem Stein.

Es scheint dann, als träumten sie vom Pickparadies.

Genauso lag die von heute da – und das ausgerechnet in Sichtweite der Taubenstraße. Der Kiez kann so zynisch sein.

12 Juni 2007

Besessen von Pennytüten!

Das Oberteil der rauchenden jungen Frau, die uns auf der Treppe zur U-Bahn St. Pauli begegnet, ist keineswegs maßgeschneidert, und das rotgelbe Material des Kleidungsstücks wirkt irgendwie künstlich. Nein, sie trägt nicht gerade American Apparel.

Doch erst beim näheren Hinsehen sehen wir es: Die Frau hat Löcher in die unteren Ecken einer großen Plastiktüte von Penny geschnitten und sie sich dann kopfüber angezogen.

„Nicht unoriginell“, sage ich anerkennend zu Ms. Columbo, „nur eventuell etwas kalt im Winter.“ Die rauchende Frau braucht das aber nicht zu kümmern: Zum Glück haben wir ja gerade Klimakatastrophe.

Diese kleine unwichtige Begebenheit – Achtung: Jetzt wird es sehr selbstbezüglich! – will ich zu Hause natürlich verbloggen, weil es auf der Rückseite der Reeperbahn nun mal so Sitte ist, kleine unwichtige Begegnungen zu verbloggen und so dem rechtmäßigen Vergessen zu entreißen.

Leider habe ich zur Illustration keine abknipsbare Pennytüte zur Hand. Deshalb google ich in der Bildersuche nach diesem Begriff – und sitze genau 0,06 Sekunden später schockiert blinzelnd vom Bildschirm, als erzählte mir gerade jemand, der Papst habe soeben eine Bank in Stockholm überfallen.

Was da nämlich als Suchergebnis vor meinen ungläubigen Augen die komplette Monitorfläche füllt, ist eine seitenlange Sammlung von Fotos aus diesem Blog

O Mann, ich bin ganz offensichtlich besessen von Pennytüten! Und mit diesem Beitrag lindere ich nicht gerade die Symptome.

Flohmarktpech

Wenn man auf dem Flohmarkt Platten kauft, checkt man sie natürlich vorher intensiv auf Kratzer und andere Folgen des Zahns der Zeit.

Manche Schäden aber kann man partout nur zu Hause feststellen. Also leider zu spät.

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11 Juni 2007

Unsere Nacht im Grand Hotel Kempinski

Während der turbulenten G-8-Tage fiel es uns plötzlich wieder ein: Auch Ms. Columbo und ich nächtigten einmal exakt dort, wo just Putin, Bush und Merkel um das Schicksal der Welt rangen – im Grand Hotel Kempinski von Heiligendamm.

Dies freilich taten wir nicht aus Großmannssucht und auch nicht aufgrund jener besonderen Ausprägung übergroßer Prominenz, die sich ihrer selbst mit der Buchung eines 17-Sterne-Hotels versichern muss. Nein, auch wenn es empörend klingt: Es geschah aus purer Not.


Damals, es war kurz nach der Wende, waren wir mit unseren ungewaschenem roten Polo ins Blaue losgefahren, immer die Ostseeküste lang. Wo es uns gefiel, suchten wir uns eine Pension oder ein privates Zimmer, schritten die Seebrücken ab, aßen ein ortsübliches Fischgericht und zockelten bald weiter gen Osten.

Einmal kamen wir bei einer muffeligen Familie unter in Boltenhagen, Bad Doberan oder so, die uns das Zimmer nur unter deutlichen Anzeichen des Missmuts aufschloss. Hier war klar: Man mochte keine Wessis, doch anders kam man halt nicht über die Runden.

Entsprechend war der Service. Das Frühstück gab es in einer beängstigend überfüllten Küche, die gleichwohl sämtliche Wohnfunktionen zugleich erfüllen musste (wahrscheinlich, weil man uns das Wohnzimmer vermietet hatte). Mehrere familieneigene Blagen lümmelten sich
maulfaul mit uns an den Tisch, während Mrs. Missmut rauchend an der Spüle herumlärmte und die Waschmaschine ächzend vor sich hin öttelte.

Diese Unterkunft, so stellte es sich hinterher heraus, markierte das eine Ende des Spektrums, preislich wie in allen anderen Kategorien. Am anderen Ende lag das Grand Hotel Kempinski, natürlich.

Dabei planten wir in Heiligendamm die gleiche Vorgehensweise wie bisher: ankommen, durchs Dörfchen gurken, „Zimmer frei“-Schilder orten, klingeln, einziehen, Seebrücke, Fischgericht. Doch wir fanden keine „Zimmer frei“-Schilder. Heiligendamm war ausgebucht, auch ohne G 8.

Nur das Grand Hotel Kempinski nicht, wo wir uns schließlich verzagt an der Rezeption wiederfanden. Dort war man sehr gerne bereit, uns zu beherbergen, doch forderte man dafür einen geradezu empörenden Preis. Allein: Was blieb uns übrig?

Ich glaube, wir zahlten schmerzverzerrt umgerechnet 80 Euro für die Nacht; ein Preis, bei dem der heutige Hoteldirektor gewiss in Lebensgefahr geriete, wegen seines Lachanfalls.

Jedenfalls war es toll. Wir frühstückten an einem weißen Tisch auf englischem Rasen, die Ostsee fächelte uns eine bedeutungsvolle Brise zu, als huldigte sie unserer übergroßen Prominenz, und den Nachmittagskaffee nahmen wir im hoteleigenen Strandkorb zu uns, umhegt von behandschuhten Livrierten, wenn ich mich recht entsinne.

Doch wie gesagt: Das alles geschah aus purer Not. Ehrlich wahr.

10 Juni 2007

Die Puppenfrage

Heute stand mir schier aus dem Nichts eine Frage klar vor Augen, nämlich die, ob das Heer der Kölner Prostituierten während des Evangelischen Kirchentages womöglich Extraschichten schieben muss. Oder ob vielleicht gar hiesige Kiezhuren an den Rhein gereist sind, um Bedarfslücken zu schließen, ähnlich wie sie es alljährlich beim Oktoberfest in München tun.

Solch häretischen Gedanken hing ich nach während einer ausgiebigen Radtour über drei Flohmärkte; wahrscheinlich kamen sie auf dank der immensen Hitze und einer Begegnung auf dem Promenadenweg hinterm Tropeninstitut, wo mir fünf starke Jungs in Shorts und Bierlaune entgegenkamen.

Einer von ihnen trug eine prall aufgeblasene Gummipuppe mit willig geöffnetem Mund unterm Arm. Sie sah aus wie die abgebildete Munch-Variante, und auf ihrer Brust stand „Dolly“.

„Du und Dolly, ihr seid ein gutes Team!“, lobte ihn einer seiner Kumpels, und ich will gar nicht wissen, was genau er damit meinte. Doch ehe ich es trotzdem erfahren hätte, war ich auch schon vorübergerollt.

Gleichwohl fragte ich mich auf dem Weg zum Flohmarkt am Hein-Köllisch-Platz, wer solche Puppen wohl in der Entwicklungsphase auf naturgetreue Funktionalität testet – ist es der Chemiker, der ihre Kunststoffhaut entwickelt hat? Der Designer, der die äußere Form entwarf? Oder besteht der Vertriebschef auf dem Jus primae noctis?

Denn obwohl es kongenial erscheint: Man kann eine solche Puppe kaum mit einem Dildo zur Marktreife bringen.